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Das ▪
Sonett ▪"Abend" von ▪
Andreas Gryphius
ist kein Gedicht, das die
Erlebnisse eines lyrischen Ichs expressiv darstellt.
Es ist stattdessen ein
typisches "Kunstgedicht" des Barock, mit dem ihr Dichter seine
Kunstfertigkeit in jeder Hinsicht unterstreichen will. Dazu gehören
Strukturen auf Textebene wie Strophen- und Versform, aber auch gedankliche
bzw. argumentative Strukturen, mit denen der Autor die Botschaft seines
Gedichtes den Rezipienten nahebringen will. Da diese Strukturen besonders
wichtig sind, hat man auch immer wieder davon gesprochen, dass barocke Lyrik
in vielen Texten Gedankenlyrik sei.
Heute sind uns solche
Strukturen, wie sie das gebildete Publikum der Zeit ohne weiteres erkannte,
nicht mehr geläufig und fallen uns bei der Rezeption des Textes nicht mehr
auf, selbst wenn sie, wie im Fall der Argumentationsstruktur des sogenannten
vierfachen Schriftsinnes eine der wichtigsten Kompositionsfiguren von
Sonetten darstellt, die eine rhetorisch-argumentative Intention verfolgen,
den Zuhörern also mit ihrer Argumentation in Gedichtform eine bestimmte
Botschaft "rüberbringen" wollen und ihnen dazu den "Spaß" bereiten wollen,
diese Strukturen, den kunstvollen Aufbau der Argumentation zu erkennen und
nachvollziehen zu können.
Die Kompositionsfigur, um
die es hier geht, beruht auf der schon im Mittelalter entwickelten »Lehre vom vierfachen Schriftsinn,
die verdeutlicht, dass man auf einem bestimmten Weg vom oberflächlichen Sinn
eines Textes zu seinem eigentlichen Sinn fortschreiten kann. Dabei geht es
der Lehre um die Auslegung von Texten religiöser Art, deren geistliche
Sinnebenen nur von entsprechend geschulten Gelehrten erschlossen werden
kann.
Was für biblische Texte gut
war, ließ sich auch für weltliche Texte, wie z. B. lyrische Texte verwenden,
die nicht zur Volkspoesie gehörten, sondern eigentlich nur in gebildeten
Kreisen der höfischen Gesellschaft oder unter Gelehrten und dem Kreis der
gelehrten Dichter selbst, die sie verfassten, verwenden.
Mit vierfachem
Schriftsinn (lat. quatuor sensus scripturae) wird also der vorherrschende
Ansatz der christlichen Bibel-Interpretation von der Alten Kirche
bis ins späte Mittelalter bezeichnet. Ausgangspunkt ist dabei die
Annahme, dass ein Text, in der Regel ein Bibeltext, mit den
herkömmlichen philologisch-grammatischen Verfahren zwar
"buchstäblich", also dem Wortsinn nach erfassbar ist.
Jeder, der lesen kann, kann also zu einem gewissen kohärenten
Textverständnis gelangen. Dieser Ebene gab man den Namen Literalsinn. Zugleich
enthalte er aber, so die Lehrmeinung, auch Aussagen, die theologisch erschlossen werden
müssen. Während Laien gewöhnlich nur den Literalsinn, den buchstäblichen Wortsinn des Textes verstehen
könnten, quasi auf das Erzählte selbst beschränkt bleiben, kann ein
entsprechend geschulter Gelehrter auch die weiteren
drei geistlichen
Sinnebenen des Textes erschließen. Letzen Endes geh es dabei
stets um die sinnbildliche Auslegung, man spricht hier von ▪
Allegorie und Allegorese
eines Textes, der über sich hinausweist.

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Dieser Prozess zunehmender
Erkenntnis wird in den Gedichten immer wieder als Struktur für die
Argumentation genutzt und damit als Kompositionsfigur verwendet. Dabei ist
es nicht immer leicht, der Struktur auf die Spur zu kommen.
Oft aber ist sie im
Strophenaufbau des Sonetts klar und deutlich abgebildet. So ist bei einer
geradezu "idealen" Umsetzung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn in eine
Kompositionsfigur eines Sonetts für jede Sinnstufe, die nacheinander den
Fortgang der Erkenntnis vom literalen zum sogenannten anagogischen Sinn des
Textes abbilden soll, eine eigene Strophe vorgesehen. Dies ist auch im
vorliegenden Gedicht der Fall.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.11.2021