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"Das
Sonett ist kein Landschaftsgedicht. Die christliche Tradition kennt
Landschaftsdarstellungen im eigentlichen Sinne nicht. Es geht hier
vielmehr um eine geistige Auseinandersetzung mit Elementen der Natur.
Diese geschieht nicht um ihrer selbst oder landschaftlichen Schönheit
willen, sondern im Hinblick auf die eschatologische1
Bestimmung des Menschen. [...] Der Dichter geht also nicht von einer
vorgegebenen und erfahrenen Landschaft aus, sondern fügt bestimmte
Naturelemente aneinander. Die Gemeinsamkeit dieser Naturelemente erschöpft
sich darin, dass die Träger analoger Bedeutung sind. Im Hinblick auf die
Wiedergabe der erfahrbaren äußeren Wirklichkeit brauchen die einzelnen
Elemente nicht zusammenzupassen, ja sie können sich geradezu ausschließen,
wie hier die Vorstellung von "öder Wüste" und "rauhem Wald" (9). [...]
In der Renaissance entdeckte man die Einsamkeit als Ort, der dem
schöpferischen Geist förderlich ist (Boccaccio,
Franz von Assisi). Im 17. Jahrhundert häufen sich dagegen die Warnungen
vor der Einsamkeit. Sie widerspreche der Art und Natur des Menschen und
verführe Sünde und Laster. Die Stätte der Anfechtung erweist sich aber
zugleich als bevorzugter Ort einer Meditation über die Eitelkeit alles
Irdischen. Die einzelnen Requisiten: Eulen, rauer Wald, Tal, Höhle,
geborstene Mauern, brachliegende Felder wurden von
Gryphius nicht erfunden; er fand sie vielmehr in der Bibel im reichen
Arsenal der enzyklopädisch-allegorischen Handbücher und Florilegien2
der Zeit, in denen feste Bedeutungszuordnungen verfügbar gehalten wurden.
Gelehrsamkeit und auch Kunstfertigkeit bestanden im 17. Jahrhundert unter
anderem darin, im Rahmen bestehender Bedeutungszuordnungen zu variieren.
[...]
Die Einsamkeit der amönen (lieblichen) Landschaft eignet sich dazu,
Tugenden und bestimmte affektive Werte zu vergegenwärtigen, nicht aber die
Gewissheit, dass die Welt ein Jammertal ist. Vanitas-Gedanken stehen in
einem eigenen Feld bildhaft-topischer Entsprechungen. Zu ihnen gehört eine
besondere Szenerie der Einsamkeit: so die öde Wüste mit Gegenständen, die
zeigen, dass alles Irdische dem Gesetz der Zeit, des Verfalls, der
Sterblichkeit unterliegt (1-4, 9-12). Die "stillen Vögel" (4), die hier
nisten, deuten das Unheimliche einer menschenverlassenen Gegend an. [...]
Die genannten Gegenstände der Natur sind Sinn-Bilder, Abbilder, Zeichen.
Sie vermögen die heilsgeschichtliche Bedeutung der Welt vor Augen zu
führen. Wer, wie das Ich des Sonetts, den Schritt der Deutung zu
vollziehen vermag, für den ist das öde, verlassene, unfruchtbare ("ungebau'te")
Land "schön und fruchtbar" (12f.). In einer sinnreichen Wendung vollzieht
Gryphius den Schritt von der heilsgeschichtlichen Dimension des Sonetts
zum Aspekt des Seelenheils des einzelnen. [...]
In dem Vers "Hir/fern von dem Pallast; weit von des Pövels Lüsten" (5)
wird das Bauwerk ("Pallast") für seine Bewohner, d.h. für die Menschen
hohen Standes gesetzt, und mit dem Hinweis auf die "Lüste" des "Pövels"
wird als kennzeichnendes Merkmal der untersten Bevölkerungsschichten -
nämlich ihre Unfähigkeit, Leidenschaften zu bewältigen - für ihre
Charakterisierung verwendet. [...]
Die Vanitas-Dichtung variiert in vielfältiger Gestalt den Grundgedanken
der Vergänglichkeit alles Irdischen. Sie erinnert auch den Fürsten an
seinen Platz in der Heilsordnung. Zum Selbstverständnis der Obrigkeit
gehörte es hinzunehmen, dass an den gehobenen Ständen und am "Regiment"
das Prinzip der Zeitlichkeit, der Vorläufigkeit der Welt überdeutlich vor
Augen geführt wird (Fallhöhe). "
(aus: Wolfram Mauser, Andreas Gryphius' Einsamkeit, in:
Meid 1982, S. 231ff.)
1 eschatologisch:
heilsgeschichtlich auf die letzten Dinge des Daseins bezogen
2 Florilegium:
Zusammenstellung von Texten antiker Schriftsteller
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.11.2021