Andreas Gryphius: Thränen in schwerer Krankheit (Anno 1640)

Interpretation

Erich Trunz (1956), Auszüge)


Die zweite Strophe setzt ähnlich fort, auch hier Aussagen über das Ich in der Krankheit: zunächst vorwiegend Körperliches, dann mehr Seelisches. In der sechsten Zeile kommt ein Vergleich hinzu:
"... der muntern Augen Zier
Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen."
Und auch die nächste Zeile bringt einen Vergleich:
"Die Seele wird bestürmt gleich wie die See im Märzen.“
Es sind Bilder aus dem Makrokosmos, um das Leben des Mikrokosmos deutlicher zu machen, Embleme, die im 17. Jahrhundert oft benutzt wurden. Die Kerze als das Sichverbrennende, dessen Licht bald aufhört, galt als Sinnbild der sich verzehrenden und nicht lange überdauernden menschlichen Kraft. Das sturmbewegte Meer war Sinnbild für die durch das bewegte und bewegende Chaos der Dinge ratlos gepeitschte Seele. Der Hinweis auf diese Dinge soll zeigen, dass die Vergänglichkeit und Geworfenheit allgemeines Weltschicksal ist. Es sind weniger schmückende als vielmehr weltbildhaltige Vergleiche, die aus der Vorstellung der Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallelen hervorkommen. Vom Ich springt der Gedanke über zum Allgemeinen und verbindet beides in engster Zusammenfassung: "... Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?" [...]

"... und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchaus vermischter Traum."
Man kann bei Gryphius, diesem tief empfindenden und tief grübelnden Menschen, das Wort "Angst" wohl allgemeiner fassen als in der Alltagssprache des 17. Jahrhunderts. In vielen seiner Gedichte begegnet es uns, es ist gleichsam das Kennwort für das Lebensgefühl des von der Unsicherheit und Last des Daseins bedrängten Menschen, Die "Taten" des Menschen geschehen als "Traum" in einer eingebildeten, schattenhaften Wertwelt. Aber es ist kein ruhiger Traum, denn in ihn mischt sich dauernd "herbe Angst", eine nagende Ahnung, dass alles Getane sinnlos und nichtig sei. Mit diesem Blick auf die allgemeine Nichtigkeit unseres Wesens wie unserer Taten endet das Gedicht. [...] So ist also dieses Wesen des Menschen durch jenes Erleben des Ich, die Krankheit besonders deutlich geworden. Das Kranksein als ein Gewahrwerden des Vergehens ließ besonders deutlich das Wesen des Lebens erkennen. So schließt sich alles zusammen. [...] Das Leiden des Ich ist im Grunde ein Leiden am Wesen des Menschen, an seiner Gebrechlichkeit. Es ist nicht nur ein zeitweiliges Leiden des Ich an seiner Krankheit, die vorübergehen kann, sondern die Krankheit bringt die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Menschen besonders deutlich ins Bewusstsein.
Die Geschlossenheit und künstlerische Kraft des Sonetts lässt vergessen, dass man bei einem Gedicht des Barock vielleicht eine andere Antwort erwarten würde: den Hinweis auf die Erlöstheit der Seele und das Unsterbliche im Menschen. [...] Wenn ein neuzeitlicher Leser versuchen wollte, auf Grund eines einzigen solchen Gedichts das Weltbild des Dichters zu bestimmen, so würde er fehlgehn. Denn dieses Gedicht bringt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Ganzen. In diesem Gedicht ist nur das Diesseits. Zu dem Gesamt aber gehört ebenso das Bild des Jenseits und die Spannung, die zwischen beiden Bereichen besteht. Das Gedicht ist zwar in sich gerundet, ein Kunstwerk für sich; es setzt aber das barocke Bild voraus, dass die Welt ein "ordo" ist [...].
Die Krankheit wird zum Sinnbild der Vergänglichkeit, und Vergänglichkeit kennzeichnet das Wesen des Menschen. Dieses Verallgemeinern ist das Barocke des Gedichts, während das stark Persönlich-Stimmungstragende schon darüber hinausweist. [...] Die straffe Einheit des Ganzen und die besonders strenge formale Pointiertheit in allen Einzelheiten machen die besonderen barocken Kennzeichen aus. Es strömt nicht, es ist kein Klageerguss einer sich unmittelbar tagebuchartig äußernden Seele, sondern es ist geformt, komponiert. Obgleich das Motiv ganz persönlich ist, hat der Dichter doch Abstand. [...] Der Inhalt betont die kreatürliche Verfallenheit des Menschen, aber die Form zeigt doch eine geistige Strenge, ein bejahtes Gesetz, als geistige Ordnung inmitten alles Schwankend-Vergänglichen. Dazu passt die Sonettform in ihrer Strenge und Festigkeit, ihrer objektiven Gesetzlichkeit; Gryphius und das ganze Barock haben sie darum so sehr geschätzt.

(aus: Trunz, Erich (1956): Andreas Gryphius, Thränen in schwerer Krankheit, in: Hirschenauer/Weber (Hg.) (1956), S. 71-76, h: S.72-76, gekürzt)
 


   Arbeitsanregungen:
  1. Untersuchen Sie im ersten Teil des Interpretationsauszugs die Aussagen von Erich Trunz über die zweite Strophe des Gedichts »Thränen in schwerer Krankheit« von Andreas Gryphius (1618-1664).
    - Welche Aussagen macht er zum Inhalt und zur Struktur des Gedichts, wo finden sich Interpretationsaussagen?
    - Worauf stützen sich die Interpretationsaussagen?

  2. Arbeiten Sie aus dem Folgenden die zentrale Interpretationshypothese des Autors heraus und zeigen Sie, mit welchen Argumenten er diese These begründet.

    Erläutern Sie in diesem Zusammenhang die folgenden Aussagen von Erich Trunz näher:

    • "In diesem Gedicht ist nur das Diesseits."

    • "Es strömt nicht, es ist kein Klageerguss einer sich unmittelbar tagebuchartig äußernden Seele, sondern es ist geformt, komponiert. Obgleich das Motiv ganz persönlich ist, hat der Dichter doch Abstand."