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Die zweite Strophe setzt ähnlich fort, auch hier Aussagen über das Ich in
der Krankheit: zunächst vorwiegend Körperliches, dann mehr Seelisches. In
der sechsten Zeile kommt ein Vergleich hinzu:
"... der muntern Augen Zier
Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen."
Und auch die nächste Zeile bringt einen Vergleich:
"Die Seele wird bestürmt gleich wie die See im Märzen.“
Es sind Bilder aus dem Makrokosmos, um das Leben des Mikrokosmos
deutlicher zu machen, Embleme, die im 17. Jahrhundert oft benutzt wurden.
Die Kerze als das Sichverbrennende, dessen Licht bald aufhört, galt als
Sinnbild der sich verzehrenden und nicht lange überdauernden menschlichen
Kraft. Das sturmbewegte Meer war Sinnbild für die durch das bewegte und
bewegende Chaos der Dinge ratlos gepeitschte Seele. Der Hinweis auf diese
Dinge soll zeigen, dass die Vergänglichkeit und Geworfenheit allgemeines
Weltschicksal ist. Es sind weniger schmückende als vielmehr
weltbildhaltige Vergleiche, die aus der Vorstellung der
Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallelen hervorkommen. Vom Ich springt der
Gedanke über zum Allgemeinen und verbindet beides in engster
Zusammenfassung: "... Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?"
[...]
"... und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchaus vermischter Traum."
Man kann bei Gryphius, diesem tief empfindenden und tief grübelnden
Menschen, das Wort "Angst" wohl allgemeiner fassen als in der
Alltagssprache des 17. Jahrhunderts. In vielen seiner Gedichte begegnet es
uns, es ist gleichsam das Kennwort für das Lebensgefühl des von der
Unsicherheit und Last des Daseins bedrängten Menschen, Die "Taten" des
Menschen geschehen als "Traum" in einer eingebildeten, schattenhaften
Wertwelt. Aber es ist kein ruhiger Traum, denn in ihn mischt sich dauernd
"herbe Angst", eine nagende Ahnung, dass alles Getane sinnlos und nichtig
sei. Mit diesem Blick auf die allgemeine Nichtigkeit unseres Wesens wie
unserer Taten endet das Gedicht. [...] So ist also dieses Wesen des
Menschen durch jenes Erleben des Ich, die Krankheit besonders deutlich
geworden. Das Kranksein als ein Gewahrwerden des Vergehens ließ besonders
deutlich das Wesen des Lebens erkennen. So schließt sich alles zusammen.
[...] Das Leiden des Ich ist im Grunde ein Leiden am Wesen des Menschen,
an seiner Gebrechlichkeit. Es ist nicht nur ein zeitweiliges Leiden des
Ich an seiner Krankheit, die vorübergehen kann, sondern die Krankheit
bringt die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Menschen besonders deutlich
ins Bewusstsein.
Die Geschlossenheit und künstlerische Kraft des
Sonetts lässt vergessen, dass man bei einem Gedicht des Barock
vielleicht eine andere Antwort erwarten würde: den Hinweis auf die
Erlöstheit der Seele und das Unsterbliche im Menschen. [...] Wenn ein
neuzeitlicher Leser versuchen wollte, auf Grund eines einzigen solchen
Gedichts das Weltbild des Dichters zu bestimmen, so würde er fehlgehn.
Denn dieses Gedicht bringt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Ganzen. In
diesem Gedicht ist nur das Diesseits. Zu dem Gesamt aber gehört ebenso das
Bild des Jenseits und die Spannung, die zwischen beiden Bereichen besteht.
Das Gedicht ist zwar in sich gerundet, ein Kunstwerk für sich; es setzt
aber das barocke Bild voraus, dass die Welt ein "ordo" ist [...].
Die Krankheit wird zum Sinnbild der Vergänglichkeit, und Vergänglichkeit
kennzeichnet das Wesen des Menschen. Dieses Verallgemeinern ist das
Barocke des Gedichts, während das stark Persönlich-Stimmungstragende schon
darüber hinausweist. [...] Die straffe Einheit des Ganzen und die
besonders strenge formale Pointiertheit in allen Einzelheiten machen die
besonderen barocken Kennzeichen aus. Es strömt nicht, es ist kein
Klageerguss einer sich unmittelbar tagebuchartig äußernden Seele, sondern
es ist geformt, komponiert. Obgleich das Motiv ganz persönlich ist, hat
der Dichter doch Abstand. [...] Der Inhalt betont die kreatürliche
Verfallenheit des Menschen, aber die Form zeigt doch eine geistige
Strenge, ein bejahtes Gesetz, als geistige Ordnung inmitten alles
Schwankend-Vergänglichen. Dazu passt die Sonettform in ihrer Strenge und
Festigkeit, ihrer objektiven Gesetzlichkeit; Gryphius und das ganze Barock
haben sie darum so sehr geschätzt.
(aus: Trunz, Erich (1956): Andreas Gryphius, Thränen in schwerer
Krankheit, in:
Hirschenauer/Weber (Hg.) (1956), S. 71-76, h: S.72-76, gekürzt)
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