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Text
(Walter Hinck arbeitet in seiner Interpretation
die kunstvoll angelegte Wirkungsstrategie des Gedichts heraus.)
"Die
Welt ist seine [Hofmannswaldaus,
d. Verf.] prägnanteste Antwort auf die Frage, die so viele Menschen seiner
Zeit aufrüttelte.
Die ersten beiden und dann die nächsten sechs Verse sind fest
miteinander verklammert durch gleichlautende Zeilenanfänge und die
Gleichheit des Satzbaus, durch die rhetorischen Mittel der
anaphorischen Reihung und des
Parallelismus. Auf die Frage, was Glanz und Pracht der Welt seien,
werden sechs Antworten gegeben, die jeweils einen desillusionierenden
Gegensatz benennen. Ihre Anordnung ist nicht beliebig, folgt vielmehr dem
Gesetz der Steigerung. Der »schnöde Schein« in «kurzgefaßten Grenzen«, die
bildliche Umschreibung des Edelsteins, enthüllt die Welt als Blendwerk, der
»schnelle Blitz« das Leben als einen kurzen Lichtblick inmitten tiefen
Dunkels. [...] So erweist sich hier die liebliche Natur als Distelfeld, im
schönen Gebäude haust die Krankheit. Mit dem Sklavenhaus als Lebens- und dem
Grab als Bestimmungsort des Menschen erreicht die Enthüllungsreihe ihren
Höhepunkt [...].
Die beiden folgenden Verse ziehen das Resümee und breiten zugleich
den Appell an den Sinneswandel des noch im Schein befangenen Menschen vor.
Nicht von »Fleisch« und »Lust«, sondern nur von der Optik der Seele her ist
jene Orientierung zu gewinnen, die sicher zum Hafen (»Port«) hinführt. [...]
Nur im Jenseits, so die Botschaft Hofmannswaldaus, besitzt die Schönheit,
die im Hier mit so vielen Masken der Vergänglichkeit glänzt, auch
Beständigkeit.
Aber nicht dieser »Botschaft« verdankt das Gedicht seinen Rang. Was
es gegenüber anderem im Thema verwandten Gedichten auszeichnet, ist das
einzigartige Zusammenspiel von dichterischer Demonstration (bildhaftem
Aufzeigen) und Reflexion. Es betreibt im ersten Teil die Demaskierung mit
einem geballten Aufgebot an
Metaphern, an
Anaphern,
Parallelismen und
Antithesen, das in ein spannungsvolles Verhältnis zum Enthüllungszweck
tritt: Das Gedicht entlarvt den falschen Schein seinerseits mit einem
rhetorischen Feuerwerk. Es begegnet dem Blendwerk, wenn auch in sprachlicher
Form, mit seinen eigenen Waffen.
Vom Staccato-Stil, mit dem im ersten Teil dem »schnöden Schein«
überfallartig die Masken abgerissen werden, wendet sich das Gedicht im
zweiten Teil, die Desillusion nutzend, einem ruhigeren Argumentations- und
Überredungsstil zu, den Imperative eindringlicher machen, bevor es mit der
Verheißung winkt.. Dieses Gedicht nimmt den ästhetischen »Schein« der Kunst
von der Verachtung aus: Es brilliert mit einer hochartistischen
Wirkungsstrategie."
(Walter
Hinck, Alles ist Blendwerk, in:
ders., Stationen der deutschen Lyrik 2000, S.46f., gekürzt)
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Text
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
03.01.2022