Der
Dialog
Nathans
mit dem
Klosterbruder
(IV,7)
gilt gemeinhin als die Schlüsselszene des Dramas (vgl.
Fick 2010,
S.508), weil sie dem Zuschauer vor Augen führt, welche persönlichen
Erfahrungen Nathans Weisheit zugrunde liegen.
In seinem Verlauf äußert sich
Nathan
auch über das Judenpogrom in Gath achtzehn Jahre vor dem dramatischen
Geschehen auf der Bühne, bei dem seine Frau und seine sieben Söhne von
Christen ermordet worden sind. Zugleich berichtet er, wie nach drei Tagen
völliger Verzweiflung, Zorn auf Gott und Hass
auf die Christen (Affektreaktion) allmählich zu einer von Vernunft und
Akzeptieren des von Gott verfügten eigenen Schicksals zurückgefunden hat.
Dabei macht Nathans »Ergebenheit in Gott«, die sich in der Verarbeitung der
Ereignisse in Gath zeigt, auch die Position Lessings zwischen
»Offenbarungsreligion und
»Deismus deutlich.
Jene, zu denen die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und
Islam zählen, berufen sich darauf, "von Gott eine (meist auch
schriftlich festgehaltene) Offenbarung erhalten zu haben" (Wikipedia,
23.06.14). Aus diesem Grund werden sie mitunter auch als »Buchreligionen"
bezeichnet, weil sie die ihnen angeblich zuteil gewordenen
Offenbarungen Gottes in ihren in ihren jeweiligen »heiligen
Schriften: »hebräische
Bibel, »christliche
Bibel und »Koran.
Deistische Vorstellungen gehen zwar auch wie jene davon aus, dass die Welt
Gottes Schöpfung ist, sie sind aber der festen Überzeugung, dass Gott nach
der Schöpfung in den Lauf der Dinge auf der Welt nicht mehr direkt
eingegriffen hat und eingreift. Statt dem Menschen also noch einmal per
Offenbarung mitzuteilen, was ein gottgefälliges Lebens und vieles mehr
ausmacht, hat er den Menschen mit Vernunft ausgestattet, die ihm den
richtigen Weg aufzuzeigen in der Lage ist.
Führende Deisten gingen
dementsprechend so weit, die ganzen Offenbarungen als
Betrug zu brandmarken, was aber von Lessing keineswegs geteilt worden
ist. (vgl. seine Positionen im so genannten
Fragmentenstreit) Mehr noch: Im "Nathan" distanziert sich Lessing sogar
in der
Ringparabel (III,7)
eindeutig von solchen Verschwörungstheorien, "indem er die genaueren
Entstehungsgründe der Religionen als irrelevant abtut", weil das eigentliche
Wertkriterium für eine Religion für ihn das moralische Verhalten ihrer
Anhänger ist. (Nisbet
2008, S.708)
Die Schlüsselszene
(IV,7)
steht dabei auch in enger Beziehung zur Szene
I,2
in der Nathan sich mit
Rechas Wundergläubigkeit auseinandersetzt.
Denn, wie Monika
Fick (2010,
S.510) erklärt, markiert diese zentrale Wendung im »Nathan« "die
Verschiebung vom Gott der Offenbarungsreligionen zu einem Gottesbegriff,
der, obwohl Gegenstand der Vernunft, von ihr immer nur vorläufig, immer nur
annäherungsweise erfasst werden kann; ein Gottesbegriff, der selbst im
philosophischen Kontext noch die Option auf einen Akt des Glaubens offenlässt. Zugleich markiert das Wort »Ergebenheit« den Umschlag von der
Vernunftanstrengung zu einer Haltung, einer habituell gewordenen Erfahrung,
einem Berührtwerden". Das Prinzip der Ergebenheit in Gott, das den
Zugang zur inneren Wahrheit der Religion gewährt, ist auch für Lessing der
kleinste gemeinsame Nenner aller drei Offenbarungsreligionen und zugleich
die Voraussetzung dafür, dass zwischen ihnen überhaupt jenes Vertrauen
entstehen kann, das am Ende in religiöse Toleranz münden kann. (vgl.
Nisbet
2008, S.795)
NATHAN. Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun.
Ihr wisst wohl aber nicht, dass wenig Tage
Zuvor,
in Gath die Christen alle Juden
Mit Weib und Kind ermordet hatten; wisst
3040
Wohl nicht, dass
unter diesen meine Frau
Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich
Befunden, die in meines Bruders Hause,
Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
Verbrennen müssen.
KLOSTERBRUDER. Allgerechter!
NATHAN.
Als
Ihr kamt, hatt' ich
drei Tag' und Nächt' in Asch'
Und Staub vor Gott gelegen, und
geweint. -
Geweint? Beiher
mit Gott auch wohl gerechtet,
Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
Der Christenheit den unversöhnlichsten
3050
Hass zugeschworen -
KLOSTERBRUDER. Ach! Ich glaub's Euch wohl!
NATHAN.
Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.
Sie sprach mit sanfter Stimm': »und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluss das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast,
Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf!« - Ich stand! und rief zu Gott: ich will!
Willst du nur, dass ich will! - Indem stiegt Ihr
Vom Pferd, und überreichtet mir das Kind,
3060
In Euern Mantel eingehüllt. - Was Ihr
Mir damals sagtet; was ich Euch: hab ich
Vergessen. Soviel weiß ich nur, ich nahm
Das Kind, trug's auf mein Lager, küsst' es, warf
Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben
Doch nun schon Eines wieder!
Für
Leisegang (1931/1984, S. 118) ist Nathan gerade auch durch diese
Erfahrung "über das Judentum innerlich hinausgewachsen, hat alle Vorurteile
der positiven Religion abgelegt und ist nur noch Vertreter ihres
vernünftigen Gehaltes, zu dem vor allem die Ethik echter Nächstenliebe
gehört." Bedeutsam sei aber vor allem, wie er "auf diese Höhe des Menschtums"
gelangt sei, nämlich "nicht durch seine Vernunft, nicht durch Nachdenken,
nicht durch Spekulation, überhaupt nicht aus eigener Kraft, sondern durch
die Führung der Vorsehung, nicht durch seinen Willen, sondern durch den
Willen Gottes."
Dabei handelt es sich nach Ansicht Leisegangs bei Nathans
Gottergebenheit nicht "um ein Gehorchen, ein Sichunterwerfen unter den
Willen Gottes" oder um "ein Zerbrechen des eigenen Willens", sondern "um ein
von Gott hervorgebrachtes Wollen. er will; aber nur dann, wenn er sicher
ist, dass Gott auch will und sein Wille der Wille Gottes ist. Es wird also
vorausgesetzt, dass dass menschlicher Wille und göttlicher Wille identisch
sein können und in diesem Falle identisch waren." (ebd.) So kommt Leisegang
zum Schluss, dass "Nathans Weisheit, seine Gottergebenheit, seine
Weltüberlegenheit" "von dem Augenblick seiner Umkehr, dem Augenblick des
Durchbruchs der Vernunft und der Aufnahme des göttlichen Willens in seinen
eigenen Willen" (ebd. S.122) herrührt, den er nach den Vorgängen nach dem
Judenpogrom in Gath, bei dem seine Familie von Christen ermordet wird (vgl.
IV,7 V3037ff.), vollzieht.
Es ist indessen keineswegs so, dass Nathans
Entwicklung mit der Verarbeitung der schrecklichen Ereignisse von Gath, dem
Verzicht "auf jeden protestierenden Eigenwillen" und dem Zuteilwerden eines
"korrespondierenden
Gnadengeschenk(s)" (Demetz 1984,
S.201) durch die göttliche Vorsehung ans Ende gelangt ist, seine
"Weisheit" auf der Grundlage seiner
Gottergebenheit
seitdem sein Charakterbild ohne jede Dynamik prägt. Denn mit Einsetzen der
dramatischen Handlung, 18 Jahre nach den Ereignissen beim Judenpogrom, wird
er nämlich erneut "von der gleichen Schicksalsmacht, die ihm so huldvoll
geantwortet, von neuem beunruhigt, erschüttert und geprüft." (ebd.)
Jetzt muss er sich, da die Gefahr besteht, dass ihm Recha entzogen wird,
durchringen, dem "Schein und Sein" seiner biologischen Vaterschaft" zu
entsagen und sich mit einer geistigen Beziehung zu Recha nicht nur zu
begnügen, sondern darin erneut die göttliche Vorsehung zu erfahren. Und was
angesichts dieser Entwicklung gar nicht selbstverständlich ist: Es gelingt
Lessing, "diesen fortwährenden Erziehungsprozess, der aus Nathans
Vergangenheit in die Gegenwart greift in der heiteren Sphäre der Komödie zu
halten." (ebd.)
Nach Auffassung von
Benedict
(2011) zeigt sich in diesem Verhalten Nathans, was Lessings Konzept vom
Glauben als innere Wahrheit und als praktische Liebe ausmacht. Nathan zeige
sich dabei nämlich "als Hiob, dem ein unerklärliches Unrecht widerfährt,
das ihn an Gottes Güte und Barmherzigkeit zweifeln lässt. Wie der biblische
Hiob verliert er sieben Söhne (und seine Frau), wie Hiob liegt er drei Tage
in Asche und Staub, wie Hiob hadert er mit Gott, klagt und weint."
Neben
solchen Parallelen gibt es, so Benedict weiter, jedoch einen ganz
gravierenden Unterschied. Während Hiob in der biblischen »Hiobgeschichte
von Gott aus einem Gewitter heraus zurechtgewiesen wird, weil dieser sich
über die ihm von Gott zugeteilten Schicksalsschläge deshalb empört, obwohl
er selbst keine Schuld auf sich geladen habe, ist es bei Nathan die eigene
Vernunft, die ihn "mit sanfter Stimm" dahin bringt, zu akzeptieren, was er
längst begriffen begriffen habe, nämlich sein Schicksal einfach so
anzunehmen, wie es im nach göttlichem Ratsschluss zugeteilt sei. Damit dies
funktionieren kann, "(braucht) die Selbstansprache Nathans (...) ein
Gegenüber, damit er sich selbst als hoffender Mensch wieder neu begründen
kann. Die dreimal im Nathan benannte Ergebung in den Willen Gottes findet
hier ihren bewegendsten Ausdruck." Auf diese Weise erzeugt die
Leidensgeschichte Nathans keinen fortwährenden Hass oder Bitterkeit, sondern
"eher ein Vertrauen darauf, dass ihm die Kraft zu leben und leben zu wollen
von dem Gott wieder zukomme, den er als Inbegriff einer überlegenen Macht
feiert." (Koebner
1987, S.149)
Für
Benedict
(2011) ist jedenfalls klar, dass es sich bei dieser Stimme der Vernunft
nicht um die (rationalistische) Vernunft der Aufklärung handeln kann,
sondern um "die Vernunft als Lebensweisheit, die Kontingenz als zum Leben hinzugehörig zu erkennen und zu akzeptieren weiß."
Dabei
verweist das innere
Akzeptieren der Kontingenzerfahrung, dass es nämlich Dinge gibt, die sich
dem menschlichen Verstand nicht erschließen können, insofern auch nicht
menschlichem Kausalitätsdenken unterworfen werden können, auf eine Art
vorrationale, gefühlsmäßige Hingabe an Gott, wie sie auch von dem Philosophen »Philipp
Schleiermacher (1768-1834) vertreten wurde. (vgl.
Nisbet 2008,
S.702)
Ob die von Lessing vorgenommene Unterscheidung, wonach "kontingente
Geschichtswahrheiten notwendige Vernunftwahrheiten nicht beweisen können", (ebd.)
eher auf die Unterscheidung von »Gottfried
Wilhelm Leibniz (1646-1716) zurückgehen, der zwischen kontingenten
Tatsachenwahrheiten und notwendigen Vernunftwahrheiten differenziert, oder
auf »Baruch
de Spinoza /1632-1670), der wie Lessing darauf verweist, dass
Geschichtswahrheiten keine hinreichende Grundlage für Gott betreffende
Vernunftwahrheiten sein können, lässt sich wohl nicht eindeutig klären.
(vgl. ebd.)
Und letzten Endes muss wohl auch im Ungewissen bleiben, "wieweit die
Vernunft eine Rolle in dem Glauben spielt, den Nathan bekundet". (Nisbet
2008, S.798) Nach Ansicht Nisbets (ebd.)
könne indessen kein Zweifel an Lessings Verständnis der Vorsehung bestehen,
die für ihn "keineswegs eine Sache des wundertätigen Eingriffs einer höheren
Macht in den normalen Ablauf der Dinge ist", sondern vielmehr "das Wirken
eines alles zum Guten lenkenden Prinzips in der Natur selbst", das sich
allerdings dem verstandbegründeten Kausalitätsdenken entzieht.
So kann auch der
Mensch die Frage, warum Gott dem nach menschlichem Ermessen Schuldlosen
solches Leid auferlegt, letzten Endes nicht beantworten, weil das, was
göttliche Allmacht bedeutet, einfach über seinen Horizont geht. So ergibt
sich daraus auch Nathans Gottesverständnis, das eine "demütige
Bescheidenheit des gottergebenen Menschen gegen die Unbescheidenheit einer
propagierten Heilszuversicht" (Koebner
1987, ebd.) verlangt. Dabei tritt zu Nathans Weisheit auch sein "Gefühl
der 'Kleinheit', das aus dem Wissen um den plötzlichen Zerfall von Glück und
Hoffnungen resultiert." (ebd.)
Nathan ist, fast unnötig es explizit zu betonen, auch kein Sprachrohr der
Religiosität Lessings. Nathans Verhältnis zu Gott und der Religion ist
beschränkt auf seine eigene religiöse Erfahrung, die und das ist schließlich
auch das besondere daran, so geartet ist, "dass sie nicht weniger mit dem
Deismus als mit den Offenbarungsreligionen vereinbar ist." (Nisbet 2008,
S.798)
Dies wird auch von Monika
Fick (2010,
S.510) unterstrichen, die betont, Lessings "Nathan" halte sich bewusst
gegenüber inhaltlichen Aussagen zum Wahrheitsgehalt der Religionen zurück
und bringe so die Besonderheit des Standpunkt seines Autors zum Ausdruck,.
indem es "auch kein Plädoyer für die Lehren der natürlichen Religion
enthält, obwohl das »Menschsein« der Religionszugehörigkeit vorgeordnet (»Sind
Christ und Jude eher Christ und Jude,/ als Mensch?"« [II,5 V.523f.]
und die Notwendigkeit eines ›vernünftigen‹ Gottesbildes nahegelegt
werden."
Den Einwand, Nathan habe nach dem Judenpogrom letztendlich einfach
resigniert, lässt
Koebner
(1987, ebd.) nicht gelten. Während Resignation nämlich bedeutet, dass
man in in seinen Anstrengungen nachlässt und am Ende erschöpft aufgibt, sei
Nathan am Ende bereit, ein Christenkind aufzuziehen und lasse sich auch in
den Momenten höchsten Leids nicht zu einer menschenfeindlichen Haltung
verleiten. Und, wenn von Nathans Weisheit die Rede sei, dürfe man sich nicht
darunter eine Eigenschaft oder Gemütslage vorstellen, die Nathan gegen alle
möglichen Widrigkeiten und Schicksalsschläge wappnen könne, sondern eine
letztlich auf sehr persönlichen lebensgeschichtlichen Erfahrung des Verlust
beruhende Weisheit. (vgl.
ebd.)
Ein Abziehbild für andere ist Nathans Weisheit also nicht.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023