"Von dem Patriarchen, so dick und rot und freundlich der
Prälat auch ist, findet sich der Tempelherr gleich beim ersten Anblick
abgestoßen. »Wär' nicht mein Mann!« sagt er vor sich hin. Dieser Patriarch
von Jerusalem ist eine geschichtliche Person; er hieß Heraklius, und in
einer der schon erwähnten handschriftlichen Noten bedauert Lessing, dass
derselbe in seinem Stücke noch bei Weitem so schlecht nicht erscheine, wie
in der Geschichte. Dass nämlich dieser Kirchenfürst zugleich ein höchst
unsittlicher Mensch war, der mit der Königin Sibylle von Jerusalem im
anstößigsten Verhältnis lebte, und ein feiger Mensch, der in der Stunde der
Gefahr das heilige Kreuz, das er im Heere zu führen hatte, einem Andern
überließ, hat der Dichter als nicht zu seinem Zwecke gehörig beiseite
gelassen, um den Mann mit einfachen, aber um so stärkeren Zügen nur als
Hierarchen, als das Urbild eines Pfaffen,
wie er nicht sein soll, zu zeichnen. Wie er sich in seinem Prunk gefällt,
der einem christlichen Seelenhirten übel ansteht, so liegt ihm auch alles
andere eher als das Heil der ihm anvertrauten Seelen am Herzen; er hat seine
Hände in allen politischen Händeln, er weiß alles auszukundschaften und
sucht alles an verborgenen Fäden zu seinen Zwecken zu lenken. Diese Zwecke
laufen, wenn man ihn hört, alle in dem Wohl der Christenheit, in der
größeren Ehre Gottes, zusammen; was zu diesem Zwecke zu tun sei, das hat der
Laie vom Priester, vom Bischof, zu vernehmen, und seiner Anweisung wie der
Stimme eines Engels ohne viel Grübeln zu gehorchen; vor diesem höchsten
Gebot hat jede scheinbar entgegenstehende Pflicht als eitle Vorspiegelung
der sich überhebenden Vernunft zurückzutreten; selbst Verrat und Mord sind
nicht nur erlaubt, sondern Pflicht, wenn zu größeren Ehre Gottes der
Priester sie vorschreibt. Dass hinter der größeren Ehre Gottes nur die
größere Ehre der Hierarchie, hinter dem Wohl der Christenheit nur das
Wohlsein der Pfaffheit steckt, versteht sich bei dergleichen Mitteln von
selbst. Einem solchen Hierarchen ist dann natürlich am Christentum das
äußere Bekenntnis die Hauptsache; mag der Jude das Christenkind, menschlich
genommen, noch so gut erzogen haben, da er es nicht nach dem christlichen
Katechismus erzogen hat, so kann ihm jenes nichts helfen, er wird verbrannt;
und hat er vollends in gar keiner positiven Religion, nur rein vernünftig
erzogen, so ist das noch schlimmer; lieber ein falscher Glaube, als gar kein
Glaube; dabei hofft der Priester auch den weltlichen Machthaber zu fassen;
er will ihm begreiflich machen, wie gefährlich selbst für den Staat es ist,
wenn der Mensch nicht glauben darf. Mit ähnlichen Gründen hatte Melchior
Göze gegen Lessing als den Herausgeber der Fragmente die weltliche Obrigkeit
aufgerufen; auch die fast komisch aus dem Zeitkostüm fallende Äußerung des
Patriarchen über das Theater (IV,2) erinnert an Gözes Eifern gegen diese
Anstalt; kein Wunder, dass damals alle Welt mit Fingern auf den Hauptpastor
von Hamburg als das Urbild des Patriarchen im »Nathan« deutete. Und da,
solange es Kirchen gibt, gewiss jedem Zuschauer oder Leser ein geistlicher
Würdenträger aus seiner Nähe einfallen wird, der demselben zum Verwechseln
ähnlich sieht, so wird der Patriarch immer eine populäre, auch für den
Schauspieler dankbare Figur bleiben.
Wie dem Pharisäer in Christi Gleichnisreden der Zöllner, dem Priester und
Leviten der Samariter, so steht in Lessings Drama dem Patriarchen der
Klosterbruder gegenüber."
(aus: David Friedrich Strauß, Über Lessings Nathan. Ein Vortrag (1863),
in: Bohnen (Hg.) (1984), Lessings »Nathan der Weise«, S.11-45, h: S.33f.; an die moderne Rechtschreibung angepasst, G. E.)
Dieses Werk (Ueber Lesing's "Nathan" (1863), von
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