▪ Motiv der Liebe in Lessings Drama Nathan der Weise
Liebe als treibende Kraft auf allen Ebenen und in fast
allen Beziehungen der Figuren
Die Liebe stellt nach Ansicht des Literaturwissenschaftlers Heinrich
Detering (2002, S.52) die treibende Kraft in Lessings
Drama »Nathan
der Weise« dar, die auf sämtlichen Ebenen und in nahezu allen
Beziehungen der Figuren eine zentrale Rolle spielt.
Mit Liebe auf
allen diesen Ebenen hat es nämlich zu tun, wenn die Situation und die
Beziehungen der Figuren zueinander, letzten Endes immer wieder von
"Vertrauen in die guten Absichten" (Fick
2010, S.506) gekennzeichnet sind. Ansonsten würden die Widersprüche
und Gegensätze, die zwischen den Figuren mit ihren Tugenden und Fehlern,
ihren unterschiedlichen Vorstellungen über Gott und die Welt zu
Konflikten eskalieren, würden gegenseitiges Misstrauen die Kommunikation
der Figuren untereinander und die ganze Szenerie beherrschen. (vgl.
ebd.)
Immer scheint es ein "unabweisbares Liebesverlangen" (ebd.)
zu sein, dass ein immer möglich erscheinenden Eskalation und
konflikthaften Zuspitzung von prinzipiell angelegten Gegensätzen
zwischen den Figuren entgegensteht.
Die Liebesthematik in den persönlichen Beziehungen und in
ihrer Beziehung zu Gott
Im »Nathan« wird die Liebesthematik in persönlichen Beziehungen der
Figuren zueinander entfaltet und in ihrer Beziehung zu Gott.
Unterschiedliche Konzepte von Liebe kommen dabei zur Darstellung:
-
familiäre Liebe (väterliche
und mütterliche Liebe, Liebe der Eltern durch die Kinder,
Geschwisterliebe)
-
erotische Liebe
-
christliche Nächstenliebe
-
allgemeine Menschenliebe
-
Liebe zwischen Mensch und
Gott
Die Auseinandersetzung mit dem christlichen
Konzept der Leibe zwischen Gott und Mensch
Die Auseinandersetzung mit dem christlichen Konzept der Liebe
zwischen Gott und Mensch zeigt sich im »Nathan« u. a. an den Figuren von
Daja,
dem
Patriarchen,
dem
Tempelherrn
und dem
Klosterbruder.
Der Begriff und das Konzept der christlichen Liebe hat mit dem
Alltagsbegriff von Liebe, mit Eros und Sexualität nichts zu tun. Was
landläufig Liebe genannt werde, betont Karl
Hörmann 1976,
Sp.973ff.), sei "zum Großteil nicht mehr als ein Haben- und
Genießenwollen".
Für einen Christen stellt Liebe dagegen "das Ziel des Glaubens" dar,
weil er sich mit dem Glauben bereit erkläre, das Angebot Gottes
anzunehmen, durch Christus in die Liebe Gottes als Mitliebender
aufgenommen zu werden. »Augustinus
(345-430 n. Chr.), einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen
in der »Spätantike
hat die Bedeutung der Liebe für den Christen so auf den Punkt
gebracht: Der Mensch ist christlich, weil er liebt ("Dilege, est quod vis fac").
Dabei wird dem Menschen, der von sich aus nicht
zur christlichen Liebe fähig ist, diese von Gott als Gnade gewährt, und:
sie gibt es auch "nur in der Nachfolge Christi", wie
Hörmann 1976
ausführt, wird also nur jenen zuteil, die an den christlichen Gott,
Jesus Christus als
dessen Sohn und an die ganze Offenbarung glauben.
Um
die christliche Liebe von der sinnlich-körperlichen Liebe (Eros, Sex) zu
unterscheiden, wird sie mit dem Begriff »Agape bezeichnet und
umfasst dann die Liebe Gottes zu den Menschen, die Liebe des Menschen zu
Gott und die Nächstenliebe. (vgl. ebd.) Dabei ist nach christlichem
Verständnis auch die geschlechtliche Liebe in die Agape unter der
Voraussetzung hineinzunehmen, dass sie auf die Liebe Gottes und zu Gott
und nicht auf "Trieb- u. Ichverfallenheit", mit anderen Worten nicht auf
Erfüllung sexueller Lust beruht. Liebe ist nach
Auffassung der christlichen Morallehre insofern selbstlos, als sie nicht
deshalb gelebt wird, weil man sich damit letztendlich Heilsgewissheit
verschaffen könne, denn göttliches Schalten und Walten kann nicht vom
Menschen festgelegt werden. Christliche Liebe ist vielmehr die "Lebensform [...], zu der der
Mensch von Gott berufen ist u. zu der er im Glauben sein Ja sagt u. die
er in der Begegnung mit dem kommenden Herrn zu vollenden hofft".(vgl.
Hörmann 1976,
Sp.973ff.)
Daher stellt sie auch das
"Grundgesetz" zur menschlichen Vervollkommnung dar. Die Liebe, die
nach christlicher Lehre also das Wesentliche des christlichen Lebens
ausmacht, geht dabei auf Gott und seine Liebe zurück. Seine erbarmende
und vergebende Liebe, die ihn seinen Sohn auf die Erde und für die
Sünden der Menschen sterben lässt, soll von den Menschen gegenüber Gott
erwidert werden. Aber "abgesehen von der Dankespflicht", betont
Hörmann (ebd.)
weiter, "wird der Mensch schon einfach durch die beglückende Erkenntnis,
daß Gott L. ist u. daß diese L. durch Christus in die Welt der Menschen
tritt, zur L. angeregt; zur L. einfach desh., weil Gott in seiner L. so
wunderbar ist." Dabei ist die Gottesliebe im christlichen Glauben eng
mit dem Konzept der Nächstenliebe verknüpft. Wahre Gottesliebe muss sich
danach auch darin zeigen, dass gläubige Mensch auch die von Gott
geliebten Kinder, die anderen Menschen, liebt. Dass der christliche
Liebende dazu alles liebt, was Gott geschaffen hat, und daher die
Schöpfung bejaht. Und auch eine in der Liebe Gottes aufgenommene
Selbstliebe ist Teil des Agape-Gebots, insofern darunter verstanden
wird, sich selbst anzunehmen und zu bejahen. Ob der einzelne Mensch zu
einer Lebenshaltung findet, die der Agape gerecht wird, hat Gott dem
Menschen und seiner Entscheidung überlassen. In den »Genuss« der
göttlichen Liebe als Gnade und Gabe kann, daher nur kommen, wer von der
göttlichen Liebe ergriffen wird oder sich ergreifen lässt. (vgl.
ebd.) Wer eine "»Todsünde"
begeht oder die "Erbsünde"
durch den symbolischen rituellen Akt der »Taufe
nicht verliert, kann daher nicht "Mitliebender mit Gott"
(ebd.)
werden.
Der christlich-dogmatische Liebesbegriff von Daja
und dem Patriarchen
Daja
und der
Patriarch stehen im »Nathan« für einen christlich-dogmatischen
Liebesbegriff, der katholische wie orthodox-lutherische Elemente
aufweist.
Sie folgen der Auffassung, wonach "die verderbte menschliche
Natur der Erlösung durch Christi Kreuzestod bedürfe und nur der Glaube
daran zur ewigen Seligkeit verhelfe" (Fick
2010, S.506) Dabei ergeben sich die Nuancen, wie sie die Bedeutung
der christlichen Liebe im "Sühne-Gnade-Erlösungszusammenhang" (ebd.)
sehen, aus ihren unterschiedlichen Lebenserfahrungen und ihrem Status in
der christlichen Religionsgemeinschaft.
"Getrieben von Ungeduld ihrer
Religiosität und von der Stärke ihrer Europasehnsucht" (Kröger
1991/98, S.32) stehen Daja in ihrer Naivität wohl Bilder des
Jüngsten Gerichts vor Augen, bei dem alle ungetauften "Heidenkinder"
ebenso wie diejenigen, die sich mit Todsünden beladen haben, der
»ewigen Verdammnis in der Hölle, bestenfalls als »arme
Seelen dem »Fegefeuer
überantwortet werden.
Um ihrem Pflegekind ein solches Schicksal, ein
anderes ist ihr angesichts der bestehenden Verhältnisse überhaupt nicht
vorstellbar, zu ersparen, zieht sie schon in ihrer Erziehung bestimmte
Register der schwarzen Pädagogik zieht, wenn sie mit
Quälen und Ängstigen (V,6) Recha verunsichern und zum christlichen
Glauben drängen will. Zudem bricht sie bei erster Gelegenheit das Nathan
gegebene Versprechen und will mit Hilfe des Tempelherrn Recha zu dem
Glauben zurückbringen, den sie als
getauftes Christenkind quasi von Natur habe.
(III,10) Was Recha einige Zeit später, nachdem auch sie von Daja
über ihre Herkunft und die Tatsache, dass Nathan nicht ihr wirklicher
(biologischer) Vater ist, in Kenntnis gesetzt wird (IV,8),
über Daja in ihrem
Gespräch mit Sittah (V,6) äußert, stellt in gewisser Hinsicht "auch
eine abschließende, psychologisch einfühlsame Würdigung der »guten
bösen Daja«" (Sedding
1992, S.87) dar. Zugleich spricht wohl auch Lessing selbst aus
diesen Worten. Auf die Frage Sittahs, wer Daja sei, urteilt Recha über
ihre Pflegemutter:
Eine Christin, die In meiner Kindheit mich gepflegt; mich so Gepflegt! – Du glaubst nicht! –
Die mir eine
Mutter So wenig missen lassen! – Gott vergelt' Es ihr! – Die aber mich
auch so geängstet! Mich so gequält! [...]
Ach! die arme Frau, – ich sag'
dirs ja –
Ist eine
Christin; – muß aus Liebe quälen; –
Ist eine von den Schwärmerinnen, die Den allgemeinen, einzig wahren Weg Nach Gott, zu wissen wähnen! [...] Und
sich gedrungen fühlen, einen jeden, Der dieses Wegs verfehlt, darauf zu lenken. –
Kaum können sie auch anders.
Denn ists wahr, Daß dieser Weg allein nur richtig führt: Wie sollen sie gelassen ihre Freunde Auf einem andern wandeln sehn, – der
ins Verderben stürzt, ins ewige Verderben? [...] Ihr
Seufzen, Ihr Warnen, ihr Gebet, ihr Drohen hätt' Ich gern noch länger ausgehalten; gern!
Es brachte mich doch immer auf Gedanken, Die gut und nützlich."
Neben Daja ist es vor allem der
Patriarch, der den "Sünde-Gnade-Erlösungszusammenhang, den die
christliche Religion postuliert" (Fick
2010, S.506), mit aller, geradezu inquisitorischen Härte eines
religiösen Fanatikers vertritt, wenn er als höchster Repräsentant
des Christentums in Jerusalem nicht nur aus Eigeninteresse - und
schon damit gegen die Agape verstoßend - handelt und mit seinem
Dogmatismus, seiner Menschenverachtung und Hinterlistigkeit gegen
alles verstößt, was das christliche Liebeskonzept auszeichnet. Wenn
er dem Tempelherrn, der in seiner Gewissensnot von ihm wissen will,
wie man mit einem Juden umgehen müsse (er nennt den Namen Nathans nicht),
der ein christliches Kind angenommen habe und als Jüdin aufwachsen lasse,
nur die stereotype Antwort gibt »der
Jude wird verbrannt« (IV,2),
dann zeigt er sich mit seiner "flammenden Brandrede"
als "Inkarnation dogmatischer Verblendung" (Jung
2010, S.70), "dem, im Wahn die einzig richtige Wahrheit zu besitzen -
eben den richtigen Ring! -" alle Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen
recht sind. (ebd.,
S.71) (vgl. u. a.
Der
Typus des dogmatischen Fanatikers)
Auch wenn der
Tempelherr auf den ersten Blick als jemand scheint, der
allmählich eine Wandlung durchmacht, die ihn von Daja und dem
Patriarchen abhebt, ist er, sieht man genauer hin, "am Ende so edel und unedel wie
zu Beginn", weil er das ganze Stück über der "junge
Laffe" bleibt, der, wie er von sich selbst sagt, " immer nur an beiden Enden schwärmt; /Bald viel zu
viel, bald viel zu wenig tut -" , V,5) So folgt auch er in
Glaubensdingen eben auch dem christlich-dogmatischen Liebesbegriff,
wenn er, als ihm Nathan die
Ankunft eines Bruders ankündigt, Nathan aus den gleichen Gründen
zurück, mit denen er Nathan anfangs zurückgewiesen hat. Und seine
Argumentation in diesem Zusammenhang zeigt, dass er sich dabei von
Vorurteilen leiten lässt, so dass er Nathan gegenüber bis fast zum
Ende hin Misstrauen hegt. (vgl.
Fick 2010,
S.504) So gelingt es dem Tempelherrn auch in einer
widerspruchsvollen Entwicklung nicht wirklich, unter dem Einfluss
Nathans auf einem "mühsamen Lernweg [...] aus naiver
Autoritätsgläubigkeit und Pflichtethik auf eine neue
Bewusstseinsstufe" zu gelangen und darüber und über die Auflösung
der Familienverhältnisse am Ende des Stückes (V,8
) eine neue Identität zu finden, wie
Sedding
(1992, S.83f.) annimmt. Auch wenn der Schritt zu einer neuen
Identität im Schlusstableau bestenfalls vorgezogen, aber keinesfalls
vollzogen zu sein scheint, zumal er ja mit einem "umfassenden
Triebverzicht, Verzicht auf das individuelle Glück
partnerschaftlicher Liebeserfüllung" (Durzak
1985, S.127) einhergeht. (→
Begossene Pudel im Rührstück oder
geschichtsphilosophischer Entwurf?-
Interpretationsaspekte zur Schlussszene des
Nathan) Dennoch: Der Tempelherr setzt
sich wegen seiner "impulsiven Emotionalität" (Kröger
1991/98, S.34) in Krisensituationen, die ihn einmal in die eine,
dann wieder in die andere Richtung treiben, auch vom skrupellosen
Fanatismus des Patriarchen ab, der sich mit seinen Mordplänen,
seiner "Blutbegier"
(IV,4),
wie der Tempelherr selbst sagt, ja ganz offenkundig gegen das
christliche Liebeskonzept stellt.
▪ Motiv der Liebe in Lessings Drama Nathan der Weise
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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