Die nachfolgende Textinterpretation zu ▪ "Skorpion"
von
▪
Christa Reinig.
ist bewusst nicht zu Ende verfasst. Sie soll daher zur Anregung
dafür dienen, die Interpretation fortzusetzen:
Christa Reinig thematisiert in ihrer Parabel "Der Skorpion", erschienen
1968 in "Orion trat aus dem Haus. Neue Sternbilder", die Problematik der
menschlichen Identität in einer von vorgeprägten Leitbildern und
Vorurteilen geprägten Gesellschaft. Dabei, so scheint es, gibt es keinen
Ausweg aus dem prinzipiellen Dilemma zwischen den Ansprüchen des Ich und
seiner Natur und denen der Gesellschaft.
In der Parabel versucht ein Mensch, vom Erzähler Skorpion genannt, mit dem
Bild, das sich die Gesellschaft von ihm und er sich infolgedessen von sich
selbst gemacht hat zurecht zu kommen. Obgleich er ein offenbar
sanftmütiges und freundliches Wesen besitzt, scheinen ihm die äußerlichen
Merkmale wie Augenstellung, Brauenwachstum, Nasenform und Ohrläppchenart
bestimmte negative menschliche Charaktereigenschaften zuzuweisen:
Hinterlist, Jähzorn, Neugierde und kriminelle Neigungen. Weil der Skorpion
befürchtet in menschlicher Gesellschaft diese Charaktereigenschaften zu
zeigen, zieht er sich völlig zurück. Er tut dies, nachdem er sich noch
einmal im Spiegel Klarheit über sich selbst verschafft hat. Der Spiegel
bestätigt aber nur das bisherige Bild, ja fügt dem einen, jetzt kraft
eigener Anschauung neu gewonnen, negativen Aspekt hinzu: den vermeintlich
grausamen Zug um den eigenen Mund.
Nach dieser Überprüfung gewinnt die Erkenntnis des Skorpions über sich
selbst den Charakter gänzlicher Unveränderbarkeit. Mit der Aussage "Ich
bin kein guter Mensch." scheint der Skorpion sich selbst und sein Wesen
angenommen zu haben. Er verbirgt sich hinter einer Traumwelt, die aus
Büchern besteht, ohne dass ihm allerdings das Bewusstsein von der Realität
verloren geht. Ihr muss er sich spätestens dann stellen, wenn ihm der
Stoff, die Bücher, auszugehen drohen.
In der Begegnung mit den Menschen bzw. der Gesellschaft kommt es daher
unweigerlich zu einer Überprüfung des Bildes, das der Skorpion von sich
gewonnen hat. In sechs verschiedenen Situationen stellt er dieses auf die
Probe.
Noch in der Erwartung, es könne oder werde ein Unheil geschehen, macht er
sich auf den Weg zur Buchhandlung. Zweimal kommt er dabei ungewollt in
Kontakt mit den Menschen.
Eine Alltagssituation beim Wechseln von Geld mit einer älteren,
kurzsichtigen Frau besteht er, ohne der "hinterlistigen" Versuchung zu
erliegen, sie beim Wechseln zu betrügen. Allerdings ist ihm der
vermeintliche Charakterzug der Hinterlistigkeit durchaus bewusst.
Weiter kommt es weder zu dem erwarteten Ausbruch von Jähzorn, als der
Skorpion das offenkundig unverschämte Verhaltens eines Fremden in der
Straßenbahn ertragen muss, noch überwältigt ihn die Neugierde, als er auf
der Straße zurück, eine verlorene Brieftasche entdeckt, diese aufzuheben
und zu öffnen. Und selbst der große Reiz, sich den Weg in die eigene
Traumwelt mit einem gestohlenen Buch zu öffnen, lässt der Skorpion nach
kurzer Überlegung fallen und entschließt sich ein minder teures Buch
käuflich zu erstehen. Als es ihm zuletzt gar möglich wird, auf ein schon
ergriffenes Buch zugunsten eines anderen, daran interessierten Käufers zu
verzichten, wähnt er sich in Sicherheit. Nun scheint für ihn der Beweis
dafür angetreten, dass das Selbstbild, das er von sich gewonnen hat, nicht
unveränderbar ist. In diesem Trugschluss bestärkt er sich dadurch, dass er
das Verhalten gerührte Verhalten des Kunden imitiert, dem er zuvor das
Buch überlassen hat. Wie dieser beginnt er fast zu weinen und presst,
ebenso wie dieser zuvor getan hatte, das Buch mit beiden Händen an sich,
das ihm der Buchhändler zu günstigen Konditionen überlässt. Erstmals muss
er daraufhin eine Handlung in einer sozialen Situation ausführen, die
nicht mehr von ihm kontrolliert wird. Das Nachahmen der Handlungen und
Gefühle des Kunden wird ihm und dem Buchhändler zum Verhängnis. Denn, da
der Skorpion nun keine Hand mehr frei hat, reicht er dem Buchhändler
seinen todbringenden Stachel. Das Selbstbild, in gewissem Sinne auch die
wahre Natur des Skorpions, verschafft sich damit wieder gewaltsam sein /
ihr Recht. Das Experiment des Skorpions, nämlich herauszufinden, wer er
wirklich ist, ist zu Ende. Wie vom Sternbild vorgeben, erfüllt er seine,
wovon auch immer abgeleitete Bestimmung.
Die Geschichte Christa Reinigs ist eine Parabel. Die im Verhalten des
Skorpions zum Ausdruck kommende Unabänderlichkeit seiner Natur, seiner
natürlichen Identität, verweist auf die Unabänderlichkeit der Natur bzw.
der "zweiten" Natur des Menschen, nämlich seiner Identität, im
Wechselspiel von Fremd- und Selbstbild....
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.10.2020