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Schlink, Der Vorleser - 1. Teil

Textinterpretation

Interpretation des 10. Kapitels

 
 
 

Die folgende Textinterpretation zum des 10. Kapitel (1. Teil) von Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« beruht auf einer mehrteiligen Arbeitsanweisung. Dabei ist das Musterbeispiel bewusst so angelegt, dass die Einleitung und die Einordnung der Textstelle in den Roman nicht ausgeführt worden ist. Ebenso ist auf eine vollständige Ausführung des Hauptteils verzichtet worden, um Möglichkeiten für die Weiterarbeit zu lassen. Zugleich ist zu betonen, dass es sich bei den nachfolgenden Ausführungen nicht um eine Schülerarbeit handelt. Es dient daher in erster Linie als Musterbeispiel, das die schriftliche Ausführung der Arbeitsgliederung zu dieser Aufgabenstellung zur Grundlage hat.

Interpretieren Sie das Geschehen im 10. Kapitel (Teil 1) des Romans.

  1. Ordnen Sie dazu das Kapitel in das Geschehen des 1. Teils des Romans ein.

  2. Fassen Sie den Inhalt des Kapitels in Form einer kurzen Inhaltsangabe zusammen.

  3. Untersuchen Sie das Verhalten von Hanna und Michael in diesem Kapitel.
    Arbeiten Sie dabei heraus, welche Ursachen der entstehende Konflikt hat und wie die beiden Personen damit umgehen.

  4. Zeigen Sie auch über die Kapitelgrenze hinweg auf, welche Bedeutung dem Geschehen für die weitere Entwicklung der Beziehung von Hanna und Michael zukommt.
     

Textinterpretation ohne Einleitung, Einordnung und Schluss

Das zehnte Kapitel des 1. Teils des Romans, in dem es um die Affäre von Michael Berg und Hanna Schmitz in der Zeit zwischen Februar und Sommer 1958 geht, besitzt sowohl für die Beziehung der beiden Hauptfiguren während dieser Zeit, als auch für die Probleme, die der erwachsene Ich-Erzähler später mit der Verarbeitung der Beziehung hat, eine herausragende Bedeutung.

Am ersten Tag seiner Osterferien will Michael Hanna, die als Straßenbahnschaffnerin beschäftigt ist, frühmorgens auf einer Fahrt von Eppelheim nach Schwetzingen bei der Arbeit mit einem Besuch überraschen. Er steigt dazu in den hinteren der beiden Waggons ein und hofft, dass Hanna, die sich im vorderen Waggon mit dem Fahrer unterhält, zu ihm kommt. Doch Hanna ignoriert ihn, so dass Michael völlig enttäuscht, unterwegs irgendwo aussteigt und sich zu Fuß auf den Weg zu Hannas Wohnung macht, um sie dort nach der Arbeit zur Rede zu stellen.
Als Hanna nach Hause kommt, entwickelt sich ein Streit zwischen den beiden über die Vorgänge in der Frühe, der so heftig ist, dass Michael, der sich ganz zu Unrecht von Hanna den Vorwurf anhören muss, er habe sie ignoriert, die Wohnung verlässt mit der festen Absicht, nie mehr wiederzukommen.
Aber eine halbe Stunde später steht er wieder vor ihrer Tür und nimmt alle Schuld auf sich. Mit dem Vollzug des an dieser Stelle um das sonst übliche Vorlesen reduzierte Ritual des Badens, Liebens und Beieinanderliegens wird die Versöhnung zwischen beiden sexuell und äußerlich vollzogen.
In den Betrachtungen des erzählenden Ichs, die das Kapitel abschließen, erscheint das Ganze jedoch wie ein von Hanna inszeniertes Machtspiel und seine bedingungslose Kapitulation vor ihr als von da an stets wiederkehrendes Verhaltensmuster in Konfliktsituationen mit Hanna.

Die Handlung des Kapitels, das sich - sieht man von den Betrachtungen und Reflexionen des erzählenden Ichs ab - an wenigen Stunden eines Tages abspielt (= erzählte Zeit), lässt sich inhaltlich in 5 Sinnabschnitte unterteilen. Dabei beinhalten die ersten zwei und der vierte Abschnitt, die hauptsächlich aus der Perspektive des jungen Michael (= erlebendes bzw. erinnertes Ich) erzählt werden, das Geschehen an diesem Tag und die Gedanken und Gefühle des jungen Michael (=äußere und innere Handlung). Eingeschoben dazwischen finden sich im dritten Sinnabschnitt und im letzten Reflexionen des erzählen Ichs über das Geschehen aus der Distanz von etwa 35 Jahren.
Im ersten Sinnabschnitt wird erzählt, wie sich Michael frühmorgens aufmacht und die Straßenbahn besteigt und von Hanna ignoriert wird. Im zweiten Abschnitt verlässt er den Waggon und macht sich zu Fuß auf den Weg. Mit seiner Sicht auf das Geschehen aus der Retrospektive kommentiert das erzählende Ich im dritten Abschnitt das Geschehen als bösen Traum. Im vierten Sinnabschnitt wird die Auseinandersetzung von Hanna und Michael über die morgendlichen Ereignisse erzählt, die der erwachsende Michael im letzten Sinnabschnitt noch einmal kommentiert.

Anlass der Auseinandersetzung zwischen Michael und Hanna im Anschluss an die "gemeinsame" Straßenbahnfahrt ist zunächst wohl ein Missverständnis. Während Michael, wie er später sagt, Hanna überraschen will und erwartet, dass sie sich über diesen Besuch freut, sieht Hanna die Sache ganz anders. Sie interpretiert, jedenfalls äußert sie sich so,  Michaels Einsteigen im hinteren Waggon als Verleugnung, während dieser sich davon "Privatheit, einen Umarmung, einen Kuss" (S.45) erhofft.
Die Art und Weise allerdings, wie beide mit dem Verhalten des jeweils anderen umgehen, wie heftig die emotionalen Reaktionen vor und während des anschließenden Streits ausfallen, lässt vermuten, dass sich hinter der Oberfläche doch mehr und anderes verbirgt. Dass die Ursachen des Konflikts woanders zu suchen sind, scheint auch der erwachsene Michael zu merken, als er am Ende des Kapitels vermutet, das Ganze sei ein "Machtspiel" Hannas gewesen, das sie habe gewinnen wollen (vgl. S.49). Dass außerdem der Anlass dieses Konflikte "eigentlich ohne Bedeutung" gewesen ist, sein "Ergebnis" aber, die bedingungslose Kapitulation vor Hanna (vgl. 50) um so mehr, davon scheint der Ich-Erzähler aus der Distanz seiner Jahre überzeugt.

Das Verhalten Michaels in der Straßenbahn und während des nachfolgenden Streits erklärt sich zunächst einmal aus der Gefühlslage, in der er sich in dieser Zeit befindet. In den Wochen vor der Straßenbahnfahrt fühlt er sich "vollkommen glücklich" (S.44).Er hat seine ersten sexuellen Erfahrungen mit Hanna hinter sich, den ersten Konflikt mit Hanna über seine Schulleistungen (1. Teil, Kap. 8, S.36) mehr oder weniger unbeschadet hinter sich und ist in seinen Gefühlen dennoch hin- und hergerissen, weiß nicht recht, ob das, was er für sie empfindet, Liebe oder nur sexuelle Lust ist (vgl. S. 36).
Die Motive, die Michael bewegen, Hanna bei ihrer Arbeit zu besuchen, liegen in seiner wachsenden Zuneigung zu Hanna begründet und auch in dem Wunsch, in die von der übrigen Welt vollkommen abgeschottete, von wenigen Kenntnissen über die Person Hannas gekennzeichnete Beziehung, einen lebensweltlichen Bezug hineinzubekommen, ohne den schließlich keine "normale" Beziehung auskommen kann.
Dass Hanna ihn während der Fahrt ignoriert, obwohl sie ihn, wie der Erzähler vermutet, von Anfang an gesehen hat, und ihn körpersprachlich noch dazu offensiv zurückweist, indem sie sich demonstrativ weiter mit dem Fahrer unterhält, verletzt Michael sehr. Zwar versucht er diesem Affront mit gleichen Mitteln zu begegnen, indem er sich bewusst auf die vordere Plattform des Waggons stellt, um "Hanna zu fixieren" (S.46), doch seine Hoffnung, dass Hanna, sobald sie seinen "Blick in ihrem Rücken spüren" würde, einlenken würde, erfüllt sich nicht. Stattdessen stürzt er in tiefe Verzweiflung: "Aber ich fühlte mich ausgeschlossen, ausgestoßen aus der normalen Welt, in der Menschen wohnen, arbeiten und lieben. Als sei ich verdammt zu einer ziel- und endlosen Fahrt im leeren Wagen." (S.46)
So ist Michael im zweiten Sinnabschnitt, nachdem er die Straßenbahn verlassen hat, vollkommen niedergeschlagen, und lässt seinen Tränen auf seinem Fußweg nach Hause freien Lauf (S. 47). Dabei muss ihn wohl seine Vorstellung, dass ihm Hanna und der Schaffner gar noch hinterhergelacht hätten (S.46), besonders geschmerzt haben.
Der erwachsene Michael Berg vergleicht im dritten Sinnabschnitt diese Gefühle im Nachhinein mit einem bösen Traum (vgl. S. 47), wenngleich er sich ebenso bewusst ist, dass einen "das Aufwachen aus einem bösen Traum ... nicht erleichtern" muss. " Es kann", so fährt er fort, "einen auch erst gewahr werden lassen, was man Furchtbares geträumt hat, vielleicht sogar welcher furchtbaren Wahrheit man im Traum begegnet ist." Der junge Michael freilich scheint, als er diese Situation erlebt, zwar von der Wucht seiner Emotionen überrascht, allerdings noch ohne tieferes Verständnis für die möglichen Hintergründe.
Seine mangelnde Einsicht in die möglichen Hintergründe des Verhaltens von Hanna wird daher auch sichtbar, als er  "traurig, ängstlich und wütend" (S.47) vor Hannas Wohnung wartet, um sie nach ihrer Rückkehr von der Arbeit zur Rede zu stellen.(S.48) Dieser Gefühlwirrwarr steht ganz offenkundig einer weiteren nüchternen Analyse dessen, was am Morgen passiert ist, entgegen. Dies wird auch in der der nachfolgenden Auseinandersetzung mit Hanna schon bald deutlich.
In Form szenischer Darstellung, bei der die direkte Rede der Beiden nur hin und wieder mit kommentierenden Bemerkungen des Erzählers unterbrochen wird, entwickelt sich der Streit in zwei Phasen. Im ersten Teil des Gesprächs geht es um die Ereignisse am Morgen und ihre Interpretation. Im zweiten Teil um die unmittelbaren Auswirkungen des Streits auf Michael.
Als Hanna, von ihrer Arbeit nach Hause kommend, Michael vor ihrer Wohnung vorfindet, macht sie ihm mit einer Frage, die an den ersten Konflikt zwischen ihnen über die Schulleistungen Michaels (vgl. 1. Teil, Kap. 8, S.36) anknüpft, sofort einen Vorwurf. "Schwänzt du wieder die Schule?" fragt sie völlig unvermittelt und will damit das Heft für die kommende Auseinandersetzung in der Hand halten; denn schließlich war es auch Hanna gewesen, die in dem ersten Streit die Oberhand  behalten hatte. Doch Michael lässt sich zunächst nicht beirren und verlangt von Hanna eine Erklärung für ihr morgendliches Verhalten. Als sie dies abtun will ("Was soll heute morgen losgewesen sein?", S.47), fordert Michael eine konkrete Antwort auf die Frage: "Warum hast du getan, als kennst du mich nicht?". Hanna unterbricht ihn sofort und kehrt die Frage um, während sie ihm "kalt ins Gesicht" sieht, um ihre Dominanz zu unterstreichen. Als Michael daraufhin mit ein paar kurzen Worten Gelegenheit hat, seine durch und durch gut gemeinten und "harmlosen" Motive darzulegen, wird er erneut unterbrochen. Hanna wischt diese Erklärungen mit einer ironischen Bemerkung vom Tisch und setzt ihn mit ihrer Bemerkung: "Du armes Kind." (S.48) herab, ehe sie ihn auffordert, die Wohnung zu verlassen. Auch Michaels weitere Beteuerungen, die an die Vernunft Hannas appellieren, können nichts bewirken. Hanna postiert sich hinter dem Küchentisch als Beziehungssperre und wertet Michael mit weiteren körpersprachlichen Signalen (Blick, Stimme und Gesten), die ihm das Gefühl geben ein "Eindringling" zu sein, erneut ab und will weiter, dass er geht.
Als sich Michael daraufhin wohl frustriert und mit einem Anflug von Renitenz statt zu gehen, auf das Sofa niedersetzt, wendet sich das Gespräch. Während Michael im vorangegangenen Streitgespräch noch "empört" versucht hat, Hanna Paroli zu bieten, leiten seine aufkommenden Selbstzweifel die nachfolgende "Kapitulation" ein. Dabei vollzieht sich dieser Wechsel so abrupt, dass Michael während des Streits mit Hanna ein Wechselbad der Gefühle erleiden muss, wie es wahrscheinlich für einen Fünfzehnjährigen in der Adoleszenz mit der dafür typischen Gefühlslabilität und der Suche nach der eigenen Identität, grundsätzlich betrachtet, nicht überraschend ist. So stellen sich dem erlebenden Ich des jungen Michael eine Reihe von Fragen, deren wichtigste ist: "Hatte ich sie verletzt, ohne meine Absicht, gegen meine Absicht, aber eben doch verletzt?" (S.48) Seine zuvor noch so emphatisch betonte Empörung über Hannas haltlose Vorwürfe ist damit Schuldgefühlen gewichen, die von Verlustängsten genährt werden. Als Michael sich entschuldigt, zugleich aber auch erklären will, wie alles gekommen ist, wird er von Hanna erneut unterbrochen, die ihren Sieg im "Machtspiel" völlig auskostet und Michael mit der Zurückweisung seiner Entschuldigung weiter erniedrigt. Mit der Bemerkung "Du kannst mich nicht kränken, du nicht." (S.49) bohrt sie weiter in der Wunde und gibt Michael das Gefühl völliger Selbstüberschätzung. Als Michael sich völlig konsterniert, immer noch weigert zu gehen, zieht sie sogar ein weiteres Register, um Michael zu zeigen, wie unerreichbar sie für ihn ist, wenn sie nicht will. Vor seinen Augen lässt sie das Badewasser einlaufen und zieht sich aus, wie anzunehmen ist, wohlwissend, was dieses "Spiel" für Michael bedeutet: Entweder du funktionierst so, wie ich mir das vorstelle, oder ich entziehe dir meine Zuneigung.
Als Michael darauf die Wohnung verlässt, tut er dies offenbar zunächst in dem Glauben, die Beziehung mit Hanna für immer zu beenden. Was Michael in der halben Stunde durch den Kopf geht, bis er wieder vor Hannas Türe steht, wird indessen vom Erzähler ausgespart.
So erscheint es nach allem bisher Gewesenen geradezu wie selbstverständlich, dass Michael nach einer halben Stunde reumütig zu Hanna zurückkehrt und alles, ohne jedes Wenn und Aber, auf sich nimmt: "Ich hatte gedankenlos, rücksichtslos, lieblos gehandelt. Ich verstand, dass sie gekränkt war. Ich verstand, dass sie nicht gekränkt war, weil ich sie nicht kränken konnte. Ich verstand, dass ich sie nicht kränken konnte, dass sie sich mein Verhalten aber einfach nicht bieten lassen durfte." (S.49) Sieht man allerdings genauer hin, was das erlebende Ich zu verstehen vorgibt, so ergibt sich geradezu ein Bild geistiger Verwirrung, das seine Urteilsfähigkeit trübt. Irgendwie scheinen sich aufbegehrende Gefühle und angepasster Verstand gegenseitig bei der Wahrnehmung und Urteilsfindung zu hemmen, wenn einmal davon die Rede ist, Hanna sei gekränkt gewesen, und dann wieder davon, dass dies überhaupt nicht sein könne. Entscheidend ist allerdings der Akt seiner Unterwerfung unter die autoritäre Macht Hannas über ihn, die in den Worten mündet, sie habe sich sein "Verhalten einfach nicht bieten lassen" können.
Auf dem Hintergrund dieser Unterwerfung ist Hannas Eingeständnis, er habe sie verletzt, selbst wenn ein Funke Wahrheit darin sein sollte, ebenso Makulatur, wie ihr einverständliches Nicken auf die auf Selbstvergewisserung eines erniedrigten Jugendlichen ausgerichteten Fragen: "Verzeihst du mir?" bzw. "Liebst du mich?" (S.49). Mit ihrem Angebot, wieder zu ihrem Ritual überzugehen ("Komm ich bade ich?"), nimmt sie eine Art "Reinwaschung" für Michael vor, die zugleich ausdrückt, dass sie es weiterhin ist, die die Kontrolle über die Beziehung und den minderjährigen Michael besitzt. Nach dem Vollzug des Rituals des Badens, Liebens und Beieinanderliegens lässt sie sich denn auch von Michael erzählen, warum er am Morgen in den hinteren Wagen eingestiegen ist. (S.49) Bemerkenswert immerhin, wie wenig Platz dies beim Erzählen einnimmt. Denn nur eines scheint dem Erzähler in Erinnerung davon geblieben zu sein, nämlich dass sie ihm im Anschluss daran sogar mit einer vordergründig koketten, in Wahrheit aber von oben herab gesprochenen Bemerkung geneckt habe: "Sogar in der Straßenbahn willst du's mit mir machen? Jungchen, Jungchen!" (S.50f.) Die Rückkehr zu der ihre Dominanz unterstreichenden Ansprache Michaels als "Jungchen" und ihre gleichzeitige bewusst einseitige Fehlinterpretation der Motive Michaels zieht in den Augen des erlebenden Ichs allerdings einen entlastenden Schlussstrich unter das Ganze.
Doch in Wahrheit ist es anders. Sein Bemühen, die Beziehung zu Hanna zum lebensweltlichen Kontext hin zu öffnen, ist gescheitet und damit seine im Nachhinein wohl etwas naive Vorstellung, die Beziehung zu Hanna auf Gleichberechtigung zu gründen.
Der Versuch, sich gegenüber Hanna zu behaupten, schlägt fehl und endet in einer für Michael und im Grunde sein ganzes späteres Leben beeinträchtigenden Katastrophe: seiner bedingungslosen Kapitulation und den Sturz in sexuelle Hörigkeit verbunden mit Schuldgefühlen, die das traumatisiert, was im Februar so ungemein "aufregend" für Michael begonnen hat: das Erlebnis der eigenen Sexualität mit einem andersgeschlechtlichen Partner.
Davon, so gewinnt man den Eindruck, hat auch der erwachsene Erzähler nach 35 Jahren eine Ahnung, ohne dass ihm das Ganze wirklich hinreichend bewusst zu sein scheint. Immerhin ahnt er die Tragweite dieses Konfliktes und erkennt, dass das Ergebnis der Auseinandersetzung nachhaltige Folgen für ihn hatte. So nimmt der junge Michael nach dieser Kapitulation Dinge auf sich, die er nicht getan hat, gibt Fehler zu, die er nie begangen hat, und bekennt sich Hanna gegenüber zu Absichten, die er nie gehabt hat. Es genügt in der Folgezeit, das muss sich das erzählende Ich eingestehen, wenn Hanna "kalt und hart" wird, dass Michael sich ihr unterwirft. Auch wenn er dabei, gleichsam um sich zu entschuldigen, darauf hinweist, er habe das Gefühl gehabt, "als leide sie selbst unter ihrem Erkalten und Erstarren" (S.50), ist der Preis hoch, den Michael zahlt. Er weiß, dass sie einfach über ihn triumphiert hat, glaubt freilich eh keine Wahl mehr gehabt zu haben. Und genau dies ist es, was von dieser Szene ausgeht: Die sexuelle Hörigkeit ist Tatsache geworden, die Michael um den Preis der Selbsterniedrigung und Selbstverleugnung aufrecht erhalten muss, um der mit Schuldgefühlen belasteten "Selbstvernichtung" bei einem möglichen "selbstverschuldeten" Entzug der Zuwendung Hannas zu entgehen. Und jeder Versuch, diesem Teufelskreis durch ein offenes Gespräch mit Hanna zu durchbrechen, wird von ihr mit der Androhung der Reinszenierung des Machtspiels sanktioniert ("Fängst du schon wieder an?").

Die Motive Hannas für ihr Verhalten in diesem Streit lassen sich, da der Roman in der Ich-Perspektive von Michael Berg erzählt wird, nur aus dem von diesem erzählten Verhalten und seinen Vermutungen als erlebendes oder erzählendes Ich erschließen. Die Gedanken Hannas, sowie Geschehen, das vom Erzähler nicht erlebt bzw. ihm zugetragen wurde, sind dem Ich-Erzähler daher nicht verfügbar. Ähnlich wie Michael ist ihr Verhalten während und nach der Straßenbahnfahrt ebenfalls zunächst einem Missverständnis geschuldet. Da sie mit ihren 38 Jahren die Beziehung zu Michael von Anfang an anders definiert als er, sie zugleich bemüht ist, sich nicht als "echte" Person in ihrer Lebenswelt zu zeigen, und alles tut, um ihre Vergangenheit wie auch ihren Analphabetismus gegenüber Michael zu verbergen, muss sie den überraschenden Besuch Michaels als Bedrohung und nicht zulässige Grenzüberschreitung durch Michael empfunden haben.
Mit seinem eigentlich durch und durch harmlosen Besuch dringt Michael in ihr gesellschaftliches Leben ein, das sie bewusst außen vor gehalten hat. Nur sehr zögernd gibt ja sie Michael etwas über sich preis. Sie schottet die Beziehung nach außen hin ab und der Vollzug ihres Rituals ist dazu ein sichtbares Zeichen. Kümmert sich Michael zu sehr um sie und gelingt es ihm dadurch, mehr über sie zu erfahren, läuft sie Gefahr auf drei verschiedenen Ebenen "demaskiert" zu werden: als Analphabetin, als NS-Verbrecherin und als Frau, die einen minderjährigen Jugendlichen missbraucht. So nimmt es nicht Wunder, dass Hanna während der Fahrt mit der Straßenbahn und im anschließenden Streit alles dafür tut, Michael zu demütigen, den Status quo der Beziehung zu erhalten und ihre Dominanz und Kontrolle über den heillos überforderten Jugendlichen zu bewahren. Sie inszeniert das "Machtspiel", an dessen Ende sie so gestärkt als Siegerin hervorgeht, dass sie Michael, um ihn ein Stück weit zu entlasten, mitunter das Gefühl gibt, sie lasse sich auf sein Modell der romantischen Liebe ein.

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   Arbeitsanregungen:
  1. Formulieren Sie eine Einleitung zu dieser Textinterpretation und ordnen Sie die Textstelle in den Gesamttext ein. Beachten Sie bei Ihrer Inhaltswiedergabe, dass sie diejenigen Punkte erwähnen und herausheben, die für das Verständnis des 10. Kapitels besonderes Gewicht haben.

  2. Zeigen Sie am Text, welche Abschnitte die Überlegungen der Arbeitsgliederung zu dieser Aufgabenstellung umsetzen bzw. arbeiten Sie die Gliederung der Ausführungen heraus.

  3. Erläutern Sie die unterschiedliche Funktion von Inhaltswiedergabe und Textbeschreibung und -interpretation.

  4. Stellen Sie dar, wodurch der nötige Textbezug hergestellt wird.

  5. Unterstreichen Sie im Text mit unterschiedlichen Farben Aussagen, die den Text (Aufbau, Gestaltungsmittel) beschreiben, und Aussagen, die das Geschehen und Verhalten der Figuren deuten, d. h. interpretieren. Interpretationsaussagen dieser Art können vereinfacht als Antwort auf die Frage: "Was bedeutet das dargestellte Geschehen bzw. Verhalten?" aufgefasst werden.

  6. An keiner Stelle der Interpretation findet sich eine Formulierung wie: " Der Dichter will uns damit sagen ...". - Warum nicht?

  7. Führen Sie die Ausführungen über Hannas Verhalten und ihre Motive dafür mit dem nötigen Textbezug fort.

  8. Verfassen Sie einen Schluss zu dieser Textinterpretation, indem sie die wesentlichen Interpretationsansätze kurz zusammenfassen und gewichten.

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