"Nur
einmal sah Hanna ins Publikum und zu mir hin. Sonst wandte sie den Blick an
allen Verhandlungstagen zur Gerichtsbank, wenn sie von einer Wachtmeisterin
hereingeführt wurde und wenn sie ihren Platz eingenommen hatte. Das wirkte
hochmütig, und hochmütig wirkte auch, dass sie nicht mit den anderen
Angeklagten und kaum mit ihrem Anwalt sprach. Die anderen Angeklagten
redeten miteinander allerdings desto weniger, je länger die
Gerichtsverhandlung dauerte. Sie standen in den Verhandlungspausen mit
Verwandten und Freunden zusammen, winkten und riefen ihnen zu, wenn sie sie
morgens im Publikum sahen. Hanna blieb in den Verhandlungspausen an ihrem
Platz sitzen.
So sah ich sie von hinten. Ich sah ihren Kopf, ihren Nacken, ihre Schultern.
Ich las ihren Kopf, ihren Nacken und ihre Schultern. Wenn es um sie ging,
hielt sie den Kopf besonders hoch. Wenn sie sich ungerecht behandelt,
verleumdet, angegriffen fühlte und um eine Erwiderung rang, rollte sie die
Schultern nach vorne, und der Nacken schwoll, ließ die Muskelstränge stärker
heraus- und hervortreten. Die Erwiderungen misslangen regelmäßig, und
regelmäßig sanken die Schultern herab. Sie zuckte nie mit den Schultern,
schüttelte auch nie den Kopf. Sie war zu angespannt, als dass sie sich die
Leichtigkeit eines Schulterzuckens oder Kopfschüttelns erlaubt hätte. Sie
erlaubte sich auch nicht, den Kopf schief zu halten, sinken zu lassen oder
aufzustützen. Sie saß wie gefroren. So sitzen musste weh tun. "
(aus: Bernhard Schlink, Der Vorleser, Zürich: Diogenes 1997. S. 95f.)