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Figurengestaltung in dramatischen Texten ▪
Kontrast-
und Korrespondenzbeziehungen der Figuren ▪
Figurencharakterisierung
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Techniken
der Figurencharakterisierung in dramatischen Texten
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Auktoriale Techniken
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Figurale
Techniken
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Literarische Charakteristik
▪ Literarische
Charakteristik dramatischer Figuren
"Vom nämlichen Autor [Otto Ludwig (1813-65), d. Verf.] stammt die Aussage,
Schiller habe "aus der mächtigen Gestalt der Elisabeth einen gewöhnlichen,
platten Theaterbösewicht" gemacht. Noch härter urteilt 1889 Emil Mauerhof.
Er nennt die Königin einen "Auswurf des Menschengeschlechts" und
erläutert, worin er die Schwäche
des Dramas sieht: "Eine Königin von
England kann ihre Nebenbuhlerin hinrichten lassen und doch dabei Würde
bewahren: Die Tat muss nicht nur begreiflich gemacht werden. Schiller
scheint solches nicht vermocht zu haben; und er suchte sich damit zu
helfen, dass er die Frau in ein Monstrum verwandelte, das sich mit vollem
Behagen in einem, tiefen Sumpf von Gemeinheiten wälzt." Wenn es zutrifft,
dass die "kontrastreiche Schwarz-Weiß-Struktur" [Jurij Lotman, Die
Struktur literarischer Texte 1972, d. Verf.] eine Sache des Lesers nicht
des Autors ist, muss der Text eine Art Gegenprobe zulassen. Die
Beleuchtung, die
Maria zur blutleeren Heiligen und Elisabeth zum blutrünstigen Monstrum
macht, muss veränderbar sein. Wir verschieben also probeweise die
Lichtquelle, um eine andere Verteilung von Licht und Schatten zu erhalten.
Unser Ausgangspunkt sind einige andersgeartete Urteile über
Elisabeth,
die ihr Handeln durchaus "begreiflich" erscheinen lassen. Da wird ihr
"Existenzangst" zugute gehalten (Pongs
1935), da wird sie als "tragische Gestalt" bezeichnet, die sich "der
großen Verantwortung ihres Amts bewusst" sei (Mettin
1937)), da wird ihr "Leistungsbereitschaft, Askese, Disziplin,
Strenge" bescheinigt (Sauermeister
1979, S.184) bescheinigt, da gilt sie schließlich als die "modernste
Politikerin dieses Stücks" (Rischbieter
1969, S.52).
In der Tat schneidet Elisabeth unter dem politischen Aspekt weitaus besser
ab als ihre Gegenspielerin. Der "Flecken" (3223) ihrer Geburt erweist sich
für sie als eine Herausforderung, auf die sie schöpferisch und
zukunftsweisend antwortet. Für sie ist Herrschaft Dienstleistung am Volk,
sie orientiert sich an der öffentlichen Meinung und sucht von dort her
ihre Legitimation. Sie wächst damit über das dynastische Denken ihrer Zeit
hinaus; ihr politisches Handeln ist voll vom Vor-Schein des Kommenden.
Maria dagegen, die von ihren Untertanen außer Landes Gejagte, hat außer
ihrer Abstammung nichts vorzuweisen. Durchdrungen von der Idee der
Unantastbarkeit des Königtums und ihrer eigenen Bevorzugung durch Geburt,
getragen von der internationalen Solidarität der Herrschenden gegen die
Beherrschten, glaubt sie, sich als Regentin alles leisten zu können, ohne
etwas zu leisten.. Und nicht genug damit: Ihr völliges Scheitern als
Königin von Schottland hindert sie nicht daran, noch weitergehende
Herrschaftsansprüche zu behaupten und dadurch die Herrschaft Elisabeths
und den Frieden des Inselreichs zu gefährden. Elisabeths Unterschrift
unter das Todesurteil ist, politisch gesehen, eine revolutionäre Tat. Sie
bringt den Bruch mit der auf den Schutz königlicher Privilegien
ausgerichteten Rechtsordnung des Gottesgnadentums und setzt an ihre Stelle
das Recht des Volkes auf "Wohlfahrt" (3182) und inneren Frieden. Diese
Befreiung von der historisch überständigen Rechtsordnung kommt zustande
als Antwort auf eine Herausforderung und unter schweren Skrupeln, sie ist
kein Akt der Herrscherwillkür. [...]
Was das Persönlich anbetrifft, so ist Elisabeths moralisch-menschliche
Unterlegenheit keineswegs ausgemacht. Während sie sich das Leben schwer
macht, meister Maria auch die schwierigste Lebenslage mit einer
Lebenskunst, die im weitesten Sinne als Leichtlebigkeit zu
charakterisieren ist. Als Königin wird die Stuart den überlieferten
dynastischen und patriarchalischen Erwartungen gerecht [...]. Elisabeth
dagegen wagt etwas unbedingt Anstößiges: Sie versucht, die Rolle der
Königin auszufüllen "wie ein Mann" (1171). Sie bezahlt dafür mit
Vereinsamung und dem Verlust ihrer Identität. Die Rolle, die sie ausfüllt,
wird von ihr nicht erwartet - die Rolle, die man von ihr erwartet, füllt
sie nicht aus.
Die Leiden beider Frauen sind unterschiedlich verursacht. Maria erfährt
sie als etwas ihrem Wesen Fremdes, von außen Aufgenötigtes, und meistert
sie mit dem Geschick der großen Lebenskünstlerin, ihrem eingefleischten
Leicht-Sinn. Sie nützt die Chance, die sich ihr im Park von Fotherinhay
bietet - nicht etwa, um ihr Leben zu retten. Diesen Vorsatz lässt sie bald
hinter sich, dank ihrer glücklichen Gabe, selbstvergessen im Augenblick
aufzugehen. Statt dessen kostet sie den ersehnten Triumph über die Rivalin
bis zur Neige. Nicht minder triumphal gestaltet sie ihren Weg zum
Schafott: im weißen Kleid, ihres Ruhms als Märtyrerin gewiss. Bis zu ihrem
Tode fehlt es ihr nicht an verständnisvollen Gesprächspartnern, sie kann
sich aussprechen, wann immer sie will. Anders Elisabeth. Wo Maria mit
Einverständnis rechnen kann, stößt sie auf Unverständnis. Ihre Versuche,
sich rückhaltlos zu offenbaren, schlagen fehl - die Gesprächspartner
täuschen sich durch Verstellung. Am Ende bleibt ihr nur noch der Monolog
als Möglichkeit, sich auszusprechen. Sie trägt das Stigma der
Ausnahmeexistenz, um sie ist Einsamkeit, ihre Liebesbeziehungen sind
gestört. "Offenbar verleihen Disziplin, Askese und politischer Beruf der
Erscheinung Elisabeths einen Einschlag maskuliner Härte, der die Männer
erotisch indifferent lässt." (Sautermeister
1979, S.182) Sie vermag die gesellschaftlichen Bedingungen der
"Liebenswürdigkeit" nicht erfüllen und leidet darunter, so sehr, dass ihr,
der Klugen und Übervorsichtigen, Fehler um Fehler unterläuft, wenn sie es
mit Leicester zu tun hat. An ihn knüpft sich ihre Hoffnung, als Frau dem
Anspruch der Liebenswürdigkeit zu genügen. Nur so erklärt sich ihre
Anfälligkeit für seine plumpen Schmeicheleien und (im vierten Aufzug) ihre
Bereitschaft, sein tollkühnes Lügengespinst schließlich für bare Münze zu
nehmen. Sie klammert sich an Leicesters Lügen, weil ihre eigene Lebenslüge
daran hängt. Mit dem letzten Satz des Dramas wird sie ihrer letzten
Illusion beraubt. Was bleibt, ist Kälte und Erstarrung.
Elisabeths Leiden ist ihrer Persönlichkeit angelegt, es wurzelt von langer
Hand in ihrer glücklosen Kindheit. Einen guten Teil daran hat sie sich
selbst auferlegt durch die Strenge ihrer Lebensauffassung und ihren Mut,
sich über herrschende Konventionen hinwegzusetzen. Auch ihr Leiden ist
außerordentlich.
Rückt man die Beleuchtung beider Hauptfiguren in dieser Weise zurecht, so
tritt Maria in den Schatten der Elisabeth. Sie erscheint, gemessen an der
Außerordentlichkeit ihrer Gegenspielerin, als konventionell und
unbedeutend.
Unser Gegenentwurf zu Mauerhofs "Monstrum" bleibt notwendig skizzenhaft.
Aber er ist durch Schillers Text deckt, Zug um Zug belegbar. Allerdings
beruht er auf einer Auswahl aus der Fülle von Daten, die das Drama bietet.
Andrerseits hat sich auch Mauerhof sein Urteil nicht aus den Fingern
gesogen. Wir räumen ihm sogar gerne ein, dass er für seine Deutung die
auffälligeren Daten des Textes herangezogen hat. Denn unser Ehrgeiz war es
ja gerade, Unauffälliges und Verstecktes durch Zusammenfassungen auffällig
zu machen. Wir sind schon mit dem Zugeständnis zufrieden: So kann man es
auch sehen. Halten wir also fest: Der Text lässt zwei entgegengesetzte
Perspektiven auf die beiden Hauptfiguren zu, er legt Standort und Urteil
des Betrachters nicht fest. Wer Elisabeth als Monstrum wahrnimmt, erlebt
sie aus dem Blickwinkel Marias. Sie ist für ihn der Inbegriff des Bösen
und Bedrohlichen, eine Kontrastfigur, kein eigenständiger Charakter. Sie
ist Hintergrund und wird "flächig" wahrgenommen, nicht "plastisch". Weil
sich dieser Betrachter mit Maria identifiziert, fühlt er sich
aufgefordert, Elisabeth zu verdammen. Wir gestehen ihm zu, dass er sich so
verhält, wie des der Text "nahe legt". Aber das Naheliegende ist noch nicht
unbedingt das Richtige.
Die gegenläufige Perspektive, die von Elisabeth auf Maria, tut sich im
Text selten einmal länger als augenblicksweise auf. Wer sich auf sie
einlässt, wird nicht so häufig bestätigt wie der Schwarz-Weiß-Betrachter.
Er wird sich, was die "bösen" Züge der Elisabeth betrifft, an jene
Bestandteile des Textes halten, die sich zur "biographischen
Charakteristik" zusammenfügen, die die Motivation ihres Verhaltens "aus
der trüben Jugend der Elisabeth heraus", "aus der haltlosen Stellung des
Weibes auf dem Thron" (Petersen
1904, zit. n. Ibel, 9. Aufl, 1982, S.49).
Seine Haltung zu Elisabeth ist vom Verstehen bestimmt, nicht vom
Verdammen. Bei alledem bleibt seine Rezeptionsweise distanziert:
Identifikation mit Elisabeth wird schwerlich aufkommen, dafür bietet ihr
verwinkelter Charakter zu wenig Zugang. Auch seine Beziehung zu Maria wird
eher kühl ausfallen: Wer etwas von der leidenden Größe Elisabeths
begriffen hat, wird das selbst inszenierte Märtyrertum ihrer
Gegenspielerin wiegen und zu leicht zu befinden. [...]
Welche der beiden beschriebenen Perspektiven des Dramas ist nun die
richtige? Die Frage stellen heißt sie zurückweisen. Nach Iser haben
literarische Texte eine "perspektivische Anlage, die aus mehreren deutlich
von einander abhebbaren Perspektivträgern besteht." (Iser
1976, S.62). Keine der durch sie vorgegebenen Perspektiven ist aber
"ausschließlich mit dem Sinn des Textes identisch". Aufgabe des
Rezipienten ist vielmehr die "Integration der Textperspektiven". Er ist
aufgefordert, jene
Leerstelle, die zwischen den Perspektiven liegt, mit seiner
Vorstellung auszufüllen. Beide dominierenden Perspektiven der 'Maria
Stuart' gehören also zum "Rollenangebot" (Iser) des Textes an den Leser.
Ihre Vermittlung leistet der Betrachter dann, wenn es ihm gelingt, die
beiden vorgegeben Standpunkte zu etwas Drittem zu verbinden. Man könnte
dieses Dritte die "plastische Sichtweise" der beiden Hauptgestalten
nennen. Um im Bilde zu bleiben: Wer das Drama "richtig" erfassen will,
muss es mit beiden Augen sehen können. Er muss eine Doppelrolle
wahrnehmen, die ihm erhebliche Flexibilität und Fähigkeit zur
Differenzierung abverlangt. Er darf Elisabeth verurteilen, ist aber
zugleich aufgefordert, sie zu verstehen und zu würdigen. Auf der anderen
Seite ist er gehalten, sein Mit-Leiden mit Maria zu zügeln. Schiller
selbst skizziert in einer bekannten Briefstelle die ihm für die Gestalt
der Maria vorschwebende Rezeptionsweise so:
"Meine Maria wird keine weiche Stimmung erregen, es ist meine
Absicht nicht, ich will sie immer als physisches Wesen halten, und das
pathetische muß mehr eine allgemeine tiefe Rührung als ein persönlich und
individuelles Mitgefühl seyn." "(aus: Frommer, Harald: Lernziel: Leserrolle. Ein Annäherungsversuch an
Schillers Königin Elisabeth in Klasse 10, in: Der Deutschunterricht, 33.
Jg., 2(1981), S.61-65, gekürzt)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023
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