"Bleibt
Maria die aus politischen Gründen Internierte, so ist
Elisabeth die Gefangene ihres Amtes. [...] Auffällig ist die
Ambivalenz der Urteile über Elisabeths Machtmonopol.
Paulet betont im Gespräch mit Maria die Kontrollfunktion des
Parlaments, dem die Königin juristisch unterworfen bleibt (V. 247ff.); sie
selbst sieht sich durch die »allgewaltige Notwendigkeit« (V. 3209f.), die
zur Rücksicht auf die öffentliche Meinung verpflichtet, in ihrer
politischen Handlungsfreiheit eingeschränkt.
Burleigh [...] hält »Des Volkes Wohlfahrt« (V. 3182) für das Idealziel
von Elisabeths Entscheidungen [...]. Talbot jedoch verweist die Königin
ausdrücklich auf ihre absolute Machtfülle, wenn er sie zu bewegen sucht,
Maria zu schonen [...] (V. 3083f.). Ähnlich argumentiert schon Leicester,
der das Gesetz des Sachzwangs nicht anerkennen mag und auch die
Kontrollfunktion des Parlaments in Zweifel zieht. An die Stelle der
»Stimmenmehrheit«, die kaum zur politischen Entscheidungsbildung
qualifiziere, möchte er den unbedingten Souveränitätsanspruch des freien
Rechts treten lassen, das sich in den Handlungsoptionen der Herrscherin
bekunde: »Sag nicht, du müssest der Notwendigkeit / Gehorchen und dem
Dringen deines Volks.« (V. 1330f.)
Talbot und
Leicester beleuchten hier Machtfunktionen des Souveräns, wie sie die
Staatsphilosophie der frühen Neuzeit hervorzuheben pflegt. Bei Jean Bodin
(Six livres de la république, 1583) findet sich der Herrscher weder
durch Verträge noch durch andere Formen juristischer Vereinbarung
gebunden. Den durch Gott gegebenen "natürlichen Gesetzen", den
menschlichen Tugenden der Friedfertigkeit und Rücksichtnahme verpflichtet,
amtiert er als unbedingter Staatslenker, der auch durch die Interessen von
Rat und Parlament nicht eingeschränkt werden darf. [...] Vom
Souveränitätsideal der frühen Neuzeit [...] weicht das Herrschermodell,
das Schillers Drama entwirft, deutlich ab. Elisabeth sieht sich als
Sklavin der allgemeinen Meinung, die keine Entscheidung ohne Rücksicht auf
die Öffentlichkeit fällen kann ...] Der Druck der opinio communis
prägt nicht zuletzt das Selbstbild der Monarchin. [...] Gerade weil
Elisabeth die Sklavin der öffentlichen Stimmung ist, bleibt ihre Rolle
prekär. Die absolute Macht erweist sich so als widersprüchlich gewordenes
Privileg im Raum einer kompliziert strukturierten Ordnung modernen
Zuschnitts.
Der Begriff der »Notwendigkeit« gerät zum Signalwort, das die
Handlungszwänge der Herrscherin bezeichnet. Zumal der unwillige Hinweis
auf die Macht des Volkes und den Einfluss des Parlaments scheint dabei ein
Reflex des aufgeklärten Zeitalters. Elisabeths eigenes Rollenbild der
öffentlich überwachten Regentin entspricht dem legalistischen Gedanken der
Kontrolle absoluter Herrschaft durch Gesetzgebungsinstitutionen und
parlamentarische Gremien, folglich einem tragenden Element der von
Montesquieu, Rousseau und Diderot im Vorfeld der Revolution formulierten
modernen Staatsphilosophie [...]. Andererseits ist kaum zu übersehen, dass
die Regentin aus den Zwängen, denen sie unterliegt, ihrerseits Argumente
zur Entlastung vom Druck politischer Verantwortung ableitet. [...}
Elisabeth zögert mit der Anordnung der Exekution nicht, weil sie von
Gewissensängsten beherrscht wird, sondern aus Furcht vor der öffentlichen
Meinung, die ihr, gegen die innere Überzeugung, Milde aus »allgewaltige(r)
Notwendigkeit« befiehlt. Weniger die »eigne freie Wahl / Gerecht zu sein«
als die Sorge um die Reputation beim Volk haben Elisabeth zu ihrer
Zurückhaltung gegenüber Maria veranlasst (V. 3278ff.)
Damit scheint ein Teufelskreis beschrieben; weil die Souveränität der
Königin durch ein modernes Rollenmodell eingeschränkt wird, sieht sie sich
am entscheidenden Punkt genötigt, ihre politische Sicherheit durch Gewalt
zu garantieren.“
(Alt
2000, Bd. 2, S. 501- 504, gekürzt)
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Literarische Charakteristik
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Charakteristik dramatischer Figuren
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023