Das Schöne ist nur in der Kunst, nicht aber im Feld des geschichtlichen
Lebens präsent. Erst im Angesicht des Todes wird
Maria zu einer schönen Seele; zur äußeren tritt die innere Schönheit;
eine ideale Koinzidenz von Wesen und Erscheinung stellt sich ein [...] Der
Tod ist in der Tragödie der Preis, der für die idealidyllische Koinzidenz
zu bezahlen ist. Schiller spiegelt sie auch szenisch: durch Gestik, Mimik
und das Gewand Marias sowie durch die Gestaltung des Raums. Ein
geistig-seelischer Vorgang, Marias ideale Verwandlung, wird durch
sinnliche Details konkretisiert: die neue Idealität im Bewusstsein und in
der Seele Marias wird durch äußere Prachtentfaltung versinnlicht. Das
Theater wird zum »heitern Tempel«, worin der Betrachter selber einen
idealen Mitvollzug des Geschehens, einen geistig-erkennenden und zugleich
sinnlichen Mitvollzug leistet. [...]
Mortimer wähnt das Schöne der Kunst im Leben selbst anzutreffen, in der
Gestalt Maria Stuarts. [...] und was als Schönheit der Gestalt erscheint,
sieht Mortimer zugleich als ideale schöne Menschlichkeit [...] Aber hierin
versieht sich Mortimer. Denn entgegen seiner Illusion ist Marias Schönheit
nur eine Schönheit der Gestalt und nicht von vornherein auch eine der
Menschlichkeit. Es ist vorläufig eine nur partielle Schönheit, weil es die
ganze, vollkommene Schönheit nur im Zeichen des Todes oder in der Kunst
geben kann, nicht in der Welt selbst. [...]
Beispielhaft hat Schiller Marias Ambivalenz in die Begegnung der beiden
Königinnen eingestaltet. Verräterisch ist schon Marias psychische
Verfassung kurz vor dieser Konfrontation: »Nichts lebt in mir in diesem
Augenblick, / Als meiner Leiden brennendes Gefühl. / In blutgen Hass
gewendet wider sie / Ist mit das Herz, es fliehen alle guten / Gedanken,
und die Schlangenhaare schüttelnd / Umstehen mich die finstern
Höllengeister.« (V. 2182 ff.) Diese seelische Situation ist geradezu
antithetisch zum idealidyllischen Dasein der schönen Seele, die »das
sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad
versichert hat, dass es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu
überlassen darf« (NA, Bd. 20, S.287). [...]
An Mortimers Verhaltensweise spiegelt Schiller symbolisch Marias
Doppelsichtigkeit, ihre äußere Schönheit und ihre innere Unvollkommenheit.
Dem Schönen in der Erscheinung antwortet noch nicht die Schönheit der
Seele. Dieser Diskrepanz entledigt sich Maria erst unter dem Aspekt des
Todes. Der Tod ist in de Tragödie die Bedingung für die idyllische
Idealität, die Identität von Gestaltschönheit und menschlicher Schönheit.
Dass Maria nur um den Preis des Todes zu einer »schönen Seele« werden
kann, macht ihre Tragik aus. Aber die schließlich erreichte Schönheit des
Menschlichen begründet zugleich die das Tragische transzendierende
Schicht: »schnell augenblicklich muss / Der Tausch geschehen zwischen
Zeitlichem / Und Ewigem, und Gott gewährte meiner Lady / In diesem
Augenblick, der Erde Hoffnung / Zurück zu stoßen mit entschlossner Seele,
/ Und glaubenvoll den Himmel zu ergreifen. « (V. 3403ff.) Dass dieser
»Tausch« Maria zu einer »schönen Seele« macht, wo »Pflicht und Neigung
harmonieren« ( NA, Bd. 20, S. 288)m bezeugt ihr Verhalten jenen Personen
gegenüber, die zuletzt ihre ungeläuterten Affekte herausgefordert hatten.
Freiwillig, aus innerem Antrieb, hebt sie jetzt ihre Rachgefühle in einem
Versöhnungsgruß auf: »Der Königin von England / Bringt meinen
schwesterlichen Gruß - Sagt ihr, / Dass ich ihr meinen Tod von ganzem
Herzen / Vergebe, meine Heftigkeit von gestern / Ihre reuevoll abbitte«
(V. 3781ff.). Hier ist das »sittliche Gefühl« in der Tat zur zweiten Natur
geworden, wie Schiller dies von einer »schönen Seele« erwartet, und
parallel dazu bezeugt sich auch Marias Verzicht auf die »sündge Liebe« zu
Leicester als ideale Entsagung, die sie in Freiheit mit
Selbstverständlichkeit übt:[...]
Wenn nach Schiller die Schönheit des Menschlichen darin besteht, dass man
dem Gesetz der »Vernunft mit Freunden gehorcht« (NA, Bd. 20, S.283), so
wird Maria angesichts des Todes dieser menschlichen Schönheit teilhaftig.
[...] Außerdem stellt Schiller das Schöne auch szenisch dar. Bediente
treten auf, »welche goldne und silberne Gefäße, Spiegel, Gemälde und
andere Kostbarkeiten tragen« (NA, Bd.9, S.135), Dinge, deren Anblick Maria
bisher verwehrt war [...] Der äußere Schmuck repräsentiert die innere
Vollkommenheit; die religiösen Ornamente symbolisieren den göttlichen
Zustand einer schönen Seele. Die Schönheit des Menschlichen soll zur
Anschauung kommen durch die Symbolkraft religiöser Gegenstände und Riten.
Dazu bedient sich Schiller zumal katholischer Riten: Melvil nimmt eine
Beichte ab und zelebriert die heilige Kommunion [...]. Aber es ist daran
zu zweifeln, ob das Theater sich hier in den Dienst der Religion stellt.
Eher das Umgekehrte ist der Fall, eher wird das Religiöse in den Dienst
des Ästhetischen gestellt. [...] Die von Melvil zelebrierte christliche
Lossprechung meint symbolisch die Herstellung des Idealschönen. Und dieses
Idealschöne, das szenisch in Marias äußerer Erscheinung, in Kostbarkeiten
und religiösen Gegenständen präsent wird, verleiht der Kunst einen
erhöhten und festlichen Glanz. [...]
Indem wir das Thema der Schönheit und ihrer Wirkung verfolgten, trat die
geheime dialektische Bewegung des Dramas hervor. Mortimer, vom Schönen der
Kunst beseligt, erfuhr die verhängnisvolle Wirkung der ambivalenten
Schönheit des Lebens (Maria), Nur um den Preis des Todes wird dem Leben
für Augenblicke die ideale Schönheit zuteil. Das wurde an der Existenz
Marias beispielhaft klar. Schiller lässt es aber bei dieser Einsicht nicht
bewenden, Entspricht es seiner politischen, durch die Französische
Revolution fundierten Erfahrung, dass dem geschichtlichen Leben der
Übertritt ins Paradies aus eigener Anstrengung nicht möglich sei, so ist
er von Resignation doch weit entfernt. Die Kunst soll vollbringen, was die
Politik aus sich selbst heraus nicht vermag: die Verwandlung des
Zuschauers durch das Schöne. Dieser Intention ordnet Schiller Marias
Todesstunde unter. Durch die Vollkommenheit der Heldin wie durch die
Symbolik kostbarer und religiöser Gegenstände erzeugt die Kunst das Bild
einer schönen, versöhnten Welt, die jenseits des geschichtlichen Lebens
Marias angesiedelt, doch insgeheim auf das geschichtliche Leben eines
Zuschauers zurückwirken soll. [...]
Der Kunst ist aufgetragen, diejenige Wirkung auf den Betrachter auszuüben,
die sie auf Mortimer ausübte: in ihrer »heitren Wunderwelt« den »Geist der
Wahrheit« vor den »entzückten Sinnen« zu bewegen. [...] [Der Zuschauer,
der Verf.] soll durch die Kunst in einen idyllischen Zustand des Freiseins
und des Glücks geführt werden, wo seine »sinnlich-vernünftige Natur«
harmonisch tätig ist und er durch Anschauung und durch Empfindung den
»Geist der Wahrheit« zu ergreifen lernt.
(aus: Gert
Sautermeister, Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers. Zum
geschichtlichen Ort seiner klassischen Dramen, Stuttgart: Kohlhammer 1971
(Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, Bd.17), S. 209-215,
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Literarische Charakteristik
Literarische
Charakteristik dramatischer Figuren
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023