Peter-André
Alt (2000, Bd.2, S.499f.) hält u. a. gegen »Bertolt
Brecht Brechts (1898-1956), der 1939 im Rahmen seiner Übungsstücke für Schauspieler
die Begegnung der Königinnen (▪
III,4) als »Streit zweier Fischweiber
inszenierte, am • politischen Kern
der Tragödie Schillers fest. Sie werde in
Schillers
Drama
Maria Stuart auch durch "die subjektiven Spiele der
Leidenschaft" und die privaten Beweggründe für das Handeln der
Akteure grundsätzlich nicht in den Hintergrund gedrängt, sondern
drehten sich stattdessen um "objektive Folgen für den Staat",
die im Zentrum der Tragödie stünden.
Auch für
Alexander Geist (1996, S.46) ist die Auseinandersetzungen der beiden
Königinnen •
Maria Stuart und •
Elisabeth vorrangig "ein Kampf um die Herrschaftslegitimation" und um
die damit verbundene Herrschaftspraxis, zwei Aspekte, die eng
mit der Rolle und dem Verständnis von Recht zusammen hingen.
Das Problem der Herrschaftslegitimation
war gerade im 18. Jahrhundert von besonders großer Bedeutung.
Auch wenn in Deutschland Adel und Könige ihre Macht weiterhin
monarchisch und dynastisch legitimierten, war mit der »Amerikanischen
Revolution (1763-1766), die zur Loslösung der
dreizehn britischen Kolonien in Nordamerika vom
britischen Königreich und Empire und mit der
Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zur Unabhängigkeit
der Vereinigten Staaten von Amerika führten, und der »Französische Revolution
auch eine demokratische Legitimation basierend auf dem Prinzip
der Volkssouveränität auf die Tagesordnung gesetzt worden.
Die Argumente,
die beide Königinnen im Verlauf des Dramas zur Rechtfertigung
ihres jeweils eigenen Herrschaftsanspruches vorbringen, sind
nicht miteinander vereinbar und lassen den Figuren keine Wahl,
als diese im Kampf miteinander zu behaupten. Und auch die
zeitgenössischen Zuschauer von Schillers Stück können sich
eigentlich kaum begründet auf die eine oder andere Seite
schlagen.
Maria kann nämlich mit Fug und Recht auf ihre "lupenreine Herkunft" (ebd.)
verweisen, die im 18. und 19. Jahrhundert als juristisches
Argument großes Gewicht hat, während
Elisabeth der Makel ihrer Geburt anhaftet. (vgl.
IV/10, V. 3223)
Allerdings kann
Elisabeth, um ihren Herrschaftsanspruch zu legitimieren auf die
breite Unterstützung durch das Volk (vgl.
II/2, V. 1122-24;
II/3, V. 1423f, 1309f;
IV/7-8)
und das Parlament (vgl.
II/3, V. 1420L) verweisen, was im Übrigen auch den historischen
Tatsachen entspricht.
Vor diesem
Hintergrund scheint
Alexander Geist (1996, S.46f.)
Elisabeth "eigentlich mehr Recht auf die Krone zu haben als Maria, die
ja nur das dynastische Prinzip anzubieten hat. Dass Elisabeth
trotzdem so dargestellt wird, als sei sie im Unrecht, hat damit
zu tun, dass es Schiller in diesem Stück allenfalls am Rand bzw.
nur oberflächlich um die Frage der Herrschaftslegitimation ging."
Wichtiger als die Frage
nach der Herrschaftslegitimation selbst sei es, wie die Beteiligten "mit
dem Recht als solchem, als Teil der Praxis von Herrschaft" umgingen (ebd.).
Die
Herrschaftspraxis von Elisabeth konnte dabei wohl kaum weder die
Zustimmung Schillers selbst als auch den Beifall des
zeitgenössischen Publikums finden, Zu durchschaubar war für den
Autor und das Publikum, dass Elisabeth nur scheinbar dem Modell
des »aufgeklärten
Absolutismus folgte, für den in der deutschen Geschichte vor
allem »Friedrich
II., der Große, (1712-1786) von
Preußen (stand. Zu offenkundig strebt die englische Königin
in Schillers Drama nämlich nach uneingeschränkter »absolutistischer
Herrschaft.
In ihrem
Monolog (IV/10)
macht Elisabeth klar, dass sie nur deshalb ihr Leben lang
Gerechtigkeit geübt und Willkür gehasst habe, weil sie ihren auf
das Volk gestützten Herrschaftsanspruch absichern musste. Solche
Einstellungen waren selbst für aufgeklärte Zeitgenossen, die
sich von ihrer Gesinnungsethik leiten ließen, nicht akzeptabel,
weil sie die Motive moralischen bzw. unmoralischen Handelns
höher bewerteten als die daraus folgenden Taten. Ob dies heute
wirklich für die meisten umgehrt ist, wie
Geist (1996, S.46ff.) behauptet, bleibt indessen
zweifelhaft.
Was die
zeitgenössische Rezeption des Stückes anbelangt, so dürfte
allerdings gelten. dass den Zuschauern Elisabeths rechtliches
Handeln ""mindestens im 'Fall Maria Stuart' moralisch
verwerflich" (ebd.)
erschienen ist, weil Recht und Gerichte allein für Staatsräson
instrumentalisiert werden, für deren Vorrang gegenüber allen
anderen moralischen Überlegungen vor allem
Burleigh (vgl.
II/3,
IV/9) entschieden eintritt. Auch
Leicester nutzt den Verweis auf die Staatsräson als taktisches Argument
(
II/3, V. 1440f) Beide gehen dabei davon aus, dass die schottische
Königin eine Gefahr für die politische und konfessionelle
Unabhängigkeit Englands darstellt.
Vor allem darum gehe es auch
Burleigh, für den Elisabeth "'nur' Garantin dieses
Fortschritts" (ebd.)
sei, was ihre Sicherheit und Herrschaft damit jedoch unabdingbar
mache. Noch schlimmer freilich sei, dass das Rechtzusätzlich aus persönlichen
Motiven gebeugt werde: "Elisabeths ganze Frustration über die Opfer, die sie als
Mensch und Frau für ihr Amt hat bringen müssen, ist eine der
entscheidenden Triebfedern ihres Handelns (vgl.
II/2,
II/9,
IV/10): Maria Stuart gilt ihr als Verursacherin dieses Leids, als vom
Schicksal begünstigt, da jene ihre Leidenschaften habe ausleben dürfen
(vgl.
II/9) - dass Maria in Wirklichkeit gerade als Frau genauso bankrott
ist wie sie selbst, dafür verstellt ihr der Neid den Blick.
Maria, die mit ihrer Vergangenheit und ihrer Gesinnung eigentlich das
antibürgerliche, undemokratische dynastische Prinzip vertritt, profitiert
hinsichtlich ihrer Sympathiewerte bei Schiller und den Zuschauern von dem
Amts- und Rechtsmissbrauch Elisabeths, auch auch wenn er sich
offensichtlich nur auf Maria bezieht. Welcher Art die Missbräuche sind,
schleudert Maria
Burleigh schon am Anfang des Stücks entgegen (vgl.
I/7), und
Shrewsbury wiederholt sie (vgl.
II/3,
IV/9):
-
zweifelhafte Rechtsbasis: ein nur auf Maria gemünztes Gesetz wird
gegen diese angewandt,
-
parteiische Richter: vom Königshaus abhängige Adelige
-
offenkundige Verfahrensfehler: keine Gegenüberstellung von Beklagter
und Zeugen (obschon vorgeschrieben),
-
unglaubwürdige Beweise und Zeugenaussagen (zum Teil von Zeugen, die
im Eilverfahren hingerichtet wurden); dass die ganz wesentliche Aussage
von Marias Sekretär ein Meineid war erfährt man ja noch im 5. Akt.
-
die fragwürdige Zuständigkeit des Gerichts: Maria ist Ausländerin
und gesalbte Königin (in der Tat war Maria die erste gekrönte Königin
der europäischen Geschichte, die hingerichtet wurde!)." (ebd.)
Burleigh könne mit seinem Versuch, den Vorwurf der Rechtsbeugung zu
entkräften, so betont
Geist (1996, S.46ff.), bei den zeitgenössischen Zuschauern
nicht punkten. Sie hätten nämlich aufgrund eigener Erfahrungen
mit absolutistischer Fürstenwillkür keine Anlass dafür gehabt,
den Behauptungen Burleighs zu vertrauen, wonach "sich die
Richter weder unter Druck setzen noch bestechen lassen würden,
da sie die allseits respektierten ersten Männer dieses Landes
und deshalb völlig selbstständig und ohne Fürstenfurcht seien
(vgl.
I/7, V. 742-61)."
So sei auch
nicht Burleigh, sondern
Shrewsbury, der schon deshalb sympathisch wirke, weil er rechtliches
Denken mit Standfestigkeit, Offenheit und menschlichen Gefühlen (seine
Liebe zu Maria; vgl.
II/3) verbinde, das eigentliche "Sprachrohr Schillers (und des bürgerlich-aufgeklärten
Zuschauers) auf der Bühne". Er nehme Elisabeth alle Ausflüchte,
wenn er ihr sage dass sie allein entscheiden könne und müsse und
sich von etwas Wandelbarem der öffentlichen Meinung nicht
beeinflussen lassen dürfe (II/3,
V. 1323-41;
IV/9, V. 3083-88). Er spreche zwar innerhalb der Situation die
absolute Herrscherin an (deshalb argumentiert er auch oft in
Kategorien der Staatsräson!), vertrete aber er "einen aufklärerischen
Grundgedanken: dass das Individuum sich nicht von außen in
seinem Urteil bestimmen lassen dürfe, sondern autonom
entscheiden müsse, dies aber auf der Basis seiner Vernunft, die
ihm das moralisch Richtige vermittelt. Außerdem malt Shrewsbury
der Königin aus, was passieren würde, wenn sich Marias aus
persönlichen Motiven (Hass, Eifersucht) entledigen und somit
(das meint er, ohne es auszudrücken) Recht beugen würde [...]"
(aus:
Alexander Geist 1996, S.46-50)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023