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Der Kampf der Königinnen ist ein Kampf um die Herrschaftslegitimation. Das
Thema der Auseinandersetzungen fast aller Beteiligten ist die
Herrschaftspraxis. Beides hängt eng mit der Rolle und dem Verständnis von
Recht zusammen.
1. Die Rechtfertigung von Herrschaftsansprüchen
Die Argumente der Rechtfertigung von Herrschaftsansprüchen prallen
aufeinander, ohne dass für die Figuren oder für die Zuschauer zu Schillers
Zeiten eine Entscheidung möglich wäre. Für
Maria spricht als ein damals juristisch gewichtiges Argument ihre
lupenreine Herkunft, gegen Elisabeth eben der Makel an ihrer fürstlichen
Geburt (vgl.
IV/10, V. 3223); dafür kann sie (historisch korrekt) die Unterstützung
durch das Volk (vgl.
II/2, V. 1122-24;
II/3, V. 1423f, 1309f;
IV/7-8)
und das Parlament (vgl.
II/3, V. 1420L) anführen.
Nun ist das Problem der Herrschaftslegitimation zu Zeiten Schillers
hochbedeutsam: Einerseits herrschen - vor allem in Deutschland -
weitgehend unangefochten Adel und Könige, die ihre Macht dynastisch
legitimieren; andererseits führen die Amerikanische und die
Französische Revolution als Kinder der Aufklärung die demokratische
Regierungsform vor Augen, und auch der klassische Schiller vertrat,
obschon kein Revolutionär, durchaus den Gedanken der Volkssouveränität
(Volk als Urträger der Herrschaft), nachlesbar in der Schrift »Die
Gesetzgebung des Lykurgus und Solon«.
Elisabeth scheint vor diesem Hintergrund eigentlich mehr Recht auf die
Krone zu haben als Maria, die ja nur das dynastische Prinzip anzubieten
hat. Dass Elisabeth trotzdem so dargestellt wird, als sei sie im Unrecht,
hat damit zu tun, dass es Schiller in diesem Stück allenfalls am Rand bzw.
nur oberflächlich um die Frage der Herrschaftslegimation ging.
2. Beugung des Rechts durch Elisabeth
Entscheidend ist vielmehr der Umgang der Beteiligten mit dem Recht als
solchem, als Teil der Praxis von Herrschaft. Das Recht als etwas für alle
Menschen gleich Gültiges, als Basis der Beziehungen der Menschen
zueinander war ein
aufklärerischer Grundgedanke; er sorgte dafür, dass der reine
Absolutismus früherer Jahrhunderte im 18. Jahrhundert vom aufgeklärten
Absolutismus abgelöst wurde - zumindest in der Theorie und in der Praxis
einiger Länder. Prototyp des aufgeklärten Herrschers war Preußens
Friedrich II.; er sah sich als erster Diener seines Staates und verstand
als Hauptaufgabe u. a. die unbestechliche Rechtspflege. Das Bürgertum,
politisch praktisch machtlos, aber philosophisch-moralisch Träger des
aufklärerischen Fortschritts (daraus bezog es sein Selbstbewusstsein),
wünschte die Rechtssicherheit, erlebte aber zugleich Rechtsbeugungen durch
die vielen unaufgeklärten Fürsten und Adeligen (Schiller hatte das schon
z. B. in »Kabale und Liebe« thematisiert). Das Drama »Maria Stuart« führt
diese Situation anschaulich vor Augen, und dabei schneidet Elisabeth sehr
schlecht ab.
Sie gibt sich nämlich den Schein eines aufgeklärten Herrschertums, obwohl
sie eigentlich unumschränkt absolutistisch herrschen will; in Elisabeths
Monolog (vgl.
IV/10) wird dies überdeutlich. Nur weil sie in ihrem
Herrschaftsanspruch vom Volk abhängig ist, hat sie ihr Leben lang
Gerechtigkeit geübt, / Willkür gehasst (V. 3200f.). Da die deutsche
Aufklärung (anders als die englisch-amerikanische!) primär eine
Gesinnungsethik vertrat (für die Beurteilung einer moralischen Handlung
sind die Motive entscheidend, nicht die Tat als solche), war Elisabeth
natürlich für Schiller und die Zuschauer "unten durch". Aus heutiger Sicht
ist das zweifellos anders: Entscheidend sind (für die meisten von uns) das
Handeln und seine Folgen - ob der Akteur dabei nur hehre Motive gehabt
hat, ist zweitrangig.
Elisabeths rechtliches Handeln ist mindestens im "Fall Maria Stuart"
moralisch verwerflich. Recht und Gerichte stehen hier nämlich nicht im
Dienste einer höheren, unabhängigen Gerechtigkeit, sondern zum einen im
Dienste der Staatsräson (Vorteil des Staates als entscheidendes Kriterium
des Handelns). Diese Auffassung vertritt ganz offen
Burleigh (vgl.
II/3,
IV/9), und auch
Leicester setzt es als taktisches Argument ein (vgl.
II/3, V. 1440f): Maria sei nämlich eine Gefahr für die politische und
konfessionelle Unabhängigkeit Englands. Um den Erhalt dieser Freiheit geht
es Burleigh vor allem; Elisabeth ist ihm "nur" Garantin dieses
Fortschritts, ihre Sicherheit und Herrschaft damit jedoch unabdingbar. Was
aber noch schlimmer ist: Das Recht wird zusätzlich aus persönlichen
Motiven gebeugt. Elisabeths ganze Frustration über die Opfer, die sie als
Mensch und Frau für ihr Amt hat bringen müssen, ist eine der
entscheidenden Triebfedern ihres Handelns (vgl.
II/2,
II/9,
IV/10): Maria Stuart gilt ihr als Verursacherin dieses Leids, als vom
Schicksal begünstigt, da jene ihre Leidenschaften habe ausleben dürfen
(vgl.
II/9) - dass Maria in Wirklichkeit gerade als Frau genauso bankrott
ist wie sie selbst, dafür verstellt ihr der Neid den Blick.
Maria, die mit ihrer Vergangenheit und ihrer Gesinnung eigentlich das
antibürgerliche, undemokratische dynastische Prinzip vertritt, profitiert
hinsichtlich ihrer Sympathiewerte bei Schiller und den Zuschauern von dem
Amts- und Rechtsmissbrauch Elisabeths, auch auch wenn er sich
offensichtlich nur auf Maria bezieht. Welcher Art die Missbräuche sind,
schleudert Maria
Burleigh schon am Anfang des Stücks entgegen (vgl.
I/7), und
Shrewsbury wiederholt sie (vgl.
II/3,
IV/9):
- zweifelhafte Rechtsbasis: ein nur auf Maria gemünztes Gesetz wird
gegen diese angewandt,
- parteiische Richter: vom Königshaus abhängige Adelige
- offenkundige Verfahrensfehler: keine Gegenüberstellung von Beklagter
und Zeugen (obschon vorgeschrieben),
- unglaubwürdige Beweise und Zeugenaussagen (zum Teil von Zeugen, die
im Eilverfahren hingerichtet wurden); dass die ganz wesentliche Aussage
von Marias Sekretär ein Meineid war erfährt man ja noch im 5. Akt.
- die fragwürdige Zuständigkeit des Gerichts: Maria ist Ausländerin
und gesalbte Königin (in der Tat war Maria die erste gekrönte Königin
der europäischen Geschichte, die hingerichtet wurde!).
3. Der Zuschauer als Richter
Burleigh versucht zwar, die Rechtsbeugung zu widerlegen: Er verweist
darauf, dass sich die Richter weder unter Druck setzen noch bestechen
lassen würden, da sie die allseits respektierten ersten Männer dieses
Landes und deshalb völlig selbstständig und ohne Fürstenfurcht seien (vgl.
I/7, V. 742-61). Diese beschönigende Argumentation kannten aber die
Zeitgenossen Schillers aus der fürstlichen Propaganda; dass Fürstenfurcht
trotzdem die Gerichte prägte, wussten alle.
So wird der Zuschauer zum Richter über einen typischen Fürsten. Schon die
Anlage vieler Szenen ist darauf abgestimmt: vor Gericht werden Reden
gehalten, wird juristisch argumentiert, werden Zeugen und Beweise
vorgeführt - und wird der falsche Schein aufgedeckt, mit dem die
Beteiligten sich und ihre Taten zu verhüllen suchten.
Sprachrohr Schillers (und des bürgerlich-aufgeklärten Zuschauers) auf der
Bühne ist der alte
Shrewsbury, der schon deshalb sympathisch wirkt, weil er rechtliches
Denken mit Standfestigkeit, Offenheit und menschlichen Gefühlen (seine
Liebe zu Maria; vgl.
II/3) verbindet. Shrewsbury nimmt Elisabeth alle Ausflüchte, wenn er
ihr sagt, dass sie allein entscheiden könne und müsse und sich von etwas
Wandelbarem der öffentlichen Meinung nicht beeinflussen lassen dürfe (II/3,
V. 1323-41;
IV/9, V. 3083-88). Damit spricht er zwar innerhalb der Situation die
absolute Herrscherin an (deshalb argumentiert er auch oft in Kategorien
der Staatsräson!), Schillers Absicht her aber vertritt er einen
aufklärerischen Grundgedanken: dass das Individuum sich nicht von außen in
seinem Urteil bestimmen lassen dürfe, sondern autonom entscheiden müsse,
dies aber auf der Basis seiner Vernunft, die ihm das moralisch Richtige
vermittelt. Außerdem malt Shrewsbury der Königin aus, was passieren würde,
wenn sich Marias aus persönlichen Motiven (Hass, Eifersucht) entledigen
und somit (das meint er, ohne es auszudrücken) Recht beugen würde [
(aus:
Alexander Geist 1996, S.46-50)
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