Kaum eine Aufführung von
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Friedrich Schillers •
Maria
Stuart hat in den letzten Jahrzehnten wohl solche Wogen
geschlagen, wie die Inszenierung des Hamburger Regisseurs »Ulrich Heising
(1941-2013)
im Jahr 1980 in Düsseldorf. Die Düsseldorfer Inszenierung knüpfte dabei an
die Interpretation des Dramas von
Ilse Graham (1974) an. Die äußerst heftigen Publikumsreaktionen
veranlassten damals den Generalintendanten sich direkt in einem offenen
Brief an die Theateröffentlichkeit und das Publikum zu wenden.
"Schillers 'Maria Stuart' [...] gehört zu den großen Frauendramen der
deutschen Literatur. Die Bezeichnung "Frauendrama" ist durchaus wörtlich
zu nehmen, Schillers Theaterspiel erzählt die Geschichte von der
Unterwerfung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft.
Von der Literaturkritik als zweitrangig eingestuft, von den Theatern oft
nur als zugkräftiges
Kolportagestück* zugelassen, behandelt "Maria Stuart" dennoch Themen,
die auf der Tagesordnung stehen: das Verhältnis von Staat und Individuum,
die Korruption der einstmals revolutionäre Vernunft, die Frage nach der
Identität der Frau – und damit die Frage nach der Identität der Menschen
überhaupt. Schillers Trauerspiel vom aussichtslosen Kampf der Frauen gegen
eine unerbittliche Männerwelt führt bewegte Klage über einen Zustand der
Welt, in der jene Fragen und Probleme nicht zu lösen sind – heute
vielleicht noch weniger als zu Schillers Zeiten. Denn jene zugleich
männliche und bürgerliche Vernunft, von deren Machtergreifung Schillers
Stück handelt, jene Todfeindin der Leidenschaft, erweist sich zusehends
als Unvernunft, als blinde, ihrer ursprünglichen Humanität längst nicht
mehr verpflichtete Rationalität, deren Amoklauf die Welt verwüstet. [...]
(aus: Programmheft zur Düsseldorfer Aufführung am Schauspielhaus
Düsseldorf, Spielzeit 1979/80, H. 13) * Kolportage: 1.
als literarisch von minderer Qualität angesehener Bericht, der auf billige
Wirkung aus ist 2. Verbreitung von Gerüchten
(Kolporteur=Gerüchteverbreiter, kolportieren) 3. (veralt.) (Hausierer-)
Handel mit Kolportageliteratur
Kolportageliteratur: billige, literarisch wenig angesehene (Unterhaltungs-)Literatur,
auch gleichbedeutend verwendet mit Schundliteratur
"Entkleidet von historischen Kostümen wickelt sich das politische Spiel in
neonbeleuchteten Räumen, bestückt mit Mikrofonen, Diawerfern, Fernseher
und Sprechgerät ab. Die Herren erscheinen mit Diplomatenköfferchen und
knabbern Salzstangen. [...]
So ernst er [der Regisseur Heising, d. Verf.] den Bereich der Frauen
nimmt, die sich im Schlussbild zu einem Schutzwall aus Leibern
zusammenfügen, so wenig kann er sich enthalten, die Männergesellschaft der
Lächerlichkeit preiszugeben. Und so rutscht die beabsichtige Bedrohung
durch die auf politischen Nutzen fixierte maskuline Welt durch
Albernheiten und effektheischende Spekulationen ins Lächerliche ab.
Einige Beispiele: 1. Der Empfang bei der englischen Königin mit
Luftballons, ausgiebiger Teezeremonie und disco-laxen französischen
Diplomaten. 2. Verspielt wird durch vordergründig hektische action die
großartige Idee mit der Zwölferreihe von Telefonhäuschen, in den von
herumrasenden Staatsbeamten ermittelt wird, ob die Königin ermordet ist.
[...] 3. Das gezierte Haarabschneiden Lesters, der Mortimer eine Locke für
Maria mitgeben will. 4. Der Tod Mortimers in einer Telefonzelle durch
Selbstverbrennung mit Benzin. 5. Der letzte Auftritt Elisabeths an
vierrädriger Gehhilfe und die beiden Schüsse nach Burleighs Abgang.
All dies wendet die von Schiller weitaus sparsamer und besser formulierte
Gefährlichkeit politischer Macht ins Vordergründige."
(Dieter Westecker, in: Düsseldorfer Nachrichten 25.2.1980, Auszüge)
"Der Hamburger Regisseur Ulrich Heising [...] sieht die beiden königlichen
Rivalinnen als eine Einheit – als zwei komplementäre Figuren, von denen
jede den unausgelebten Teil ihrer Persönlichkeit bei der anderen
verwirklicht findet: Elisabeth die erotische Sinnlichkeit bei Maria, diese
die erstrebte Machtfülle der englischen Thronerbin. Aus dieser Sicht erscheint es nur folgerichtig, wenn Heising Schillers
psychologische Dialektik körperlich, das heißt bar aller Rollenmaskerade,
sichtbar macht in dem Augenblick, als Elisabeth ihrer gefangenen Gegnerin
ansichtig wird: „Das also sind die Reizungen, die ungestraft kein Mann
erblickt ...“. Der Regisseur hat mithin nur in theatralische Bilder
umgesetzt, was bei Schiller Utopie von der Versöhnung widersprüchlicher
Lebensprinzipien – Eros und Vernunft – unter dem Diktat einer feudalen
Männergesellschaft scheitert. Die Kühnheit dieser Umsetzung muss ein
Publikum entrüsten, das auf ein überliefertes Klassikerverständnis
eingeschworen ist. Zweifellos hätte Heising sein Konzept auch durch eine
traditionelle Besetzung der beiden Hauptfiguren verdeutlichen können. Doch
er entschied sich, auch darin radikal konsequent, für eine Schauspielerin.
Und er konnte das Wagnis eingehen, weil Christa Berndl dieser
ungewöhnlichen Doppelrolle gewachsen ist. Mit einer verblüffend
natürlichen Wandlungsfähigkeit formt sie die scheinbar gegensätzlichen
Gestalten zu einer komplexen Figur. Sie hat die Leidenschaft der liebenden
Frau und die Kälte der einsamen Herrscherin, spielt die Begegnung der
Königinnen als Traumdialog mit dem eigenen Spiegelbild, das als
Schattenriss durch einen Projektor auf die Wand fällt. Zum Schluss, nach
dem Todesurteil über Maria geht Elisabeth an Krücken – die Hinrichtung
bedeutet zugleich eine moralische Amputation der eigenen Persönlichkeit.
(Hans Jansen, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 25.2.1980, Auszüge)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023
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