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Karl Moor wird in der ersten Szene
(I,1) von
Schillers
Drama »Die
Räuber«, in der er selbst überhaupt
nicht auftritt, vor allem durch Äußerungen seines jüngeren Bruders
Franz
charakterisiert. Zugleich erfüllen diese Aussagen auch wichtige Aufgaben
im Rahmen der
Exposition
des Dramas.
Der Form nach handelt es sich bei den Äußerungen von Franz um
Fremdkommentar (explizit-figurale Charakterisierungstechnik).
Dabei charakterisiert er aber nicht nur selbst den Bruder, sondern
greift auch auf Äußerungen zurück, die sein Vater Maximilian (= Der alte
Moor) offenbar früher über Karl gemacht hat. Allerdings kann nicht
gesagt werden, ob es sich um wörtliche Wiedergaben dessen handelt, was
der Vater über Karl im Beisein seines zweiten Sohnes Franz gesagt hat,
oder ob Franz nur sinngemäß, dazu möglicherweise noch sprachlich über-
und zugespitzt, wiedergibt, was er immer und immer wieder gehört hat
("sagtet ihr immer").
Textauszug (I,1)
FRANZ. Das weiß ich wohl.
Das ist es ja, was ich eben sagte. Der
feurige Geist, der in dem
Buben lodert, sagtet Ihr immer, der
ihn
für jeden Reiz von Größe und Schönheit so empfindlich
macht, -
diese Offenheit, die seine Seele auf dem Auge
spiegelt, diese Weichheit des Gefühls, die ihn bei jedem Leiden in
weinende Sympathie dahinschmelzt, dieser
männliche
Mut, der ihn auf den Wipfel hundertjähriger Eichen treibet und über
Gräben und Palisaden und reißende Flüsse jagt, dieser
kindische Ehrgeiz, dieser
unüberwindliche Starrsinn und alle
diese schöne, glänzende Tugenden, die im
Vatersöhnchen keimten, werden ihn dereinst zu einem warmen Freund
eines Freundes, zu einem trefflichen
Bürger, zu einem Helden,
zu einem großen, großen Manne
machen. - Seht Ihr's nun, Vater! - der feurige Geist hat sich entwickelt,
ausgebreitet, herrliche Früchte hat er getragen. Seht diese Offenheit, wie
hübsch sie sich zur
Frechheit herumgedreht hat!
seht diese Weichheit, wie
zärtlich sie
für Koketten girret, wie so empfindsam für die Reize einer Phryne!
Seht dieses feurige Genie, wie es das
Öl
seines Lebens in sechs Jährchen so rein weggebrannt hat, dass er bei
lebendigem Leibe umgeht, und da kommen die Leute und sind so unverschämt
und sagen: c'est l'amour qui a fait ça! Ah! seht doch diesen kühnen,
unternehmenden Kopf, wie er Plane schmiedet und ausführt, vor denen die
Heldentaten eines
Cartouches und Howards verschwinden! - Und wenn erst diese prächtigen
Keime zur vollen Reife erwachsen - was lässt sich auch von einem so
zarten Alter Vollkommenes erwarten? -
Welche Eigenschaften Karls hebt Franz in seiner Charakterisierung
gegenüber dem alten Moor hervor? (I,1; reclam 2001, S.11ff.)
Charakterisierung Karls durch frühere
Äußerungen seines Vaters, die Franz wiedergibt |
Charakterisierungen Karls durch Franz (im
Dialog mit seinem Vater) |
-
"dieser feurige
Geist"
-
für jeden Reiz
von Größe und Schönheit so empfindlich"
-
"Offenheit, die
seine Seele auf dem Auge spiegelt"
-
"Weichheit des
Gefühls", die sich in einer großen Mitleidensfähigkeit
äußert
-
"männlicher Mut,
der ihn auf den Wipfel hundertjähriger Eichen und über
Gräber und Palisaden und reißende Flüsse jagt"
-
"dieser kindische
Ehrgeiz"
-
"dieser
unüberwindliche Starrsinn"
-
alles das wird
ihn einst "zu einem warmen Freund eines Freundes, zu einem
trefflichen Bürger, zu einem Helden, zu einem großen,
großen Manne machen"
-
"Universalkopf"
|
-
"Vätersöhnchen"
-
"Offenheit" wurde
"Frechheit"
-
"Weichheit" dient
nur zur Triebbefriedigung
-
"feuriges Genie"
in sechs Jahren einfach verschleudert
-
"kühner,
unternehmender Kopf" zu kriminellen und unmoralischen Taten
missbraucht
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Karl vereint männliche Stärke mit
Fähigkeit zur Emotionalität, die etwas Einzigartiges darstellen
und zu Höherem befähigen (= Wunschdenken und Projektionen des
Vaters) |
Karl hat seine (angeblichen) Begabungen brach
liegen und seine Fähigkeiten für kriminelle und unmoralische
Taten eingesetzt (= Realität von Karl Moor) |
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