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Zeitgestaltung
im erzählenden Text
Bausteine
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Gliederung
für die Beschreibung der Zeitgestaltung
Edgar Neis untersucht die
Zeitgestaltung in Jorge
Luis Borges' Text "Das geheime Wunder" und
stellt dabei zunächst einmal fest, dass sich in dem Textauszug zwei
verschiedene Zeitebenen bzw. Zeitskalen überlagern, was sich aus der
besonderen Art der Gestaltung des
Verhältnis von Erzählzeit und
erzählter Zeit ergibt:
"Einer Denunziation zufolge wird Hladik nach dem Einrücken der
Panzertruppen Adolf Hitlers verhaftet. Obwohl er ein völlig unpolitischer
Mensch ist - seine Unterschrift fehlt auf einer Liste von Proteststimmen
gegen den "Anschluss" -, wird er als Verdächtiger und, »um
die anderen seiner Rasse und seines Glaubens abzuschrecken«, zum Tode
durch Erschießen verurteilt.[...]
Hladik fleht zu Gott, er möge ihm die nötige Zeit für die Vollendung
seines Gedichtes gewähren. Ein Traum offenbart ihm die Gewährung dieser
Bitte. Gott spricht zu ihm: »Die Zeit für deine Arbeit ist dir gewährt.«
Es ist eine imaginäre Zeit. Es ist die Zeit, die zwischen dem Feuerbefehl
und der Ausführung dieses Befehls, der Gewehrsalve, die den Delinquenten
zu Boden streckt, vergeht, eine Zeitspanne von Bruchteilen von Sekunden.
Sie genügt aber für die - in Gedanken vollzogene - Vollendung des
Gedichtes. Sie, die messbare reale Zeit, ist identisch mit einer unmessbaren
imaginären Zeit. Der Verfasser hält den Ablauf des Geschehens
gewissermaßen an, so etwa wie ein laufender Film plötzlich gestoppt wird
und ein Bild dieses Films als unbewegliches Bild erstarrt: »Das
physische Universum blieb stehen.«"
Der Übergang von der realen Zeit in eine simultan verlaufende, aber
rein imaginäre Zeit führt zu einer gänzlich veränderten Wahrnehmung, die
Edgar Neis, wie folgt beschreibt:
"Die Gewehre sind plötzlich unbeweglich, der Arm des Serenaden verewigt
eine unvollendete Gebärde, eine über den Fliesen des Hofes fliegende
Biene wirft einen reglosen Schatten, der Wind hat zu wehen aufgehört,
Hladik versucht einen Schrei, aber der Ton bleibt ihm im Halse stecken, er
versucht die Drehung einer Hand, aber er scheint »wie gelähmt« zu sein.
Ein Wassertropfen, der seine Schläfe gestreift hatte, beginnt »anzudauern«
so wie der Schatten der fliegenden Biene auf den Fliesen des Hofes oder
wie der Rauch einer weggeworfenen Zigarette in der Luft stehen bleibt. Die
Welt ist »lahmgelegt«. In dieser wenige
Sekunden währenden Ewigkeit, in der das Zifferblatt der Uhr angehalten
wird und das Universum stillsteht, gelingt Hladik die Vollendung seines
Gedichtes. Das geheime Wunder (daher der Titel der Geschichte) hat sich
vollzogen: Gott hat Hladiks Bitte erhört und ihm die Gnade der Vollendung
gewährt. Das Unbeschreibliche ist Ereignis geworden: in dem Augenblick,
da Hladik sein Gedicht vollendet hat, beginnt der
Wassertropfen über
seine Wange weiterzurollen, der Schrei seines Mundes vernehmlich zu
werden, der Schatten der fliegenden Biene auf den Fliesen des Hofes
weiterzuwandern, der Rauch der weggeworfenen, brennenden Zigarette sich zu
verflüchtigen, die Gewehre und der Arm des Serenaden sich zu senken: eine
vierache Salve hat Hladik niedergeworfen. [...]"
Das Besondere dieser imaginären Zeit sieht Edgar Neis in der
Darstellung der subjektiv wahrgenommenen Zeit, der vom Protagonisten
erlebten Zeit, der Zeit seiner inneren Erfahrung:
"Wir sehen: die erzählte, messbare Zeit, die [...] nur die wenigen
Sekunden zwischen dem Feuerbefehl und der Ausführung dieses Befehls umfasst,
wird zu einer endlosen, imaginären Zeit zerdehnt. Wichtiger als die messbare
Zeit ist Jorge Luis Borges, dem Verfasser der Geschichte, die erlebte Zeit
der inneren Erfahrung. Um diese darzustellen und dem Leser als solche
fühlbar zu machen, braucht der Verfasser ein Vielfaches der erzählten
Zeit, in der sich das Geschehen selbst, also die Hinrichtung Hladiks,
abspielt. Da es zu Beginn unseres Textes heißt: »Der Sergeant schrie
den Befehl zum Feuern« und am Schluss berichtet wird, dass eine
vierfache Salve Hladik niederwirft, können höchstens ein bis zwei
Sekunden vergangen sein, bis der eingangs gegebene Befehl vollzogen worden
ist; die Zeit aber, die der Dichter braucht, um den Vorgang zu berichten
und festzustellen, dass Jaromir Hladik »um neun Uhr zwei
Minuten« stirbt, beläuft sich auf etwa fünf bis sechs Minuten.
Diese Diskrepanz zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit beruht auf dem
Umstand, dass der Dichter die physikalische Zeit gleichsam anhält, »stehen
lässt«, weil er das subjektive Erleben und das Denken des Helden in
seiner Vieldimensionalität berücksichtigt und in seine Darstellung
mit einbezieht.[...] "
(aus: Edgar Neis, Struktur und Thematik der
traditionellen und modernen Erzählkunst, Paderborn: Ferdinand Schöningh
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
20.12.2023
Bausteine
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Zeitdehnung und imaginäre
Zeit - Interpretationsansatz von Edgar Neis (1965)
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Zeitgestaltung
im erzählenden Text