Gert Ueding, Kurzer Abriss der
Geschichte der Rhetorik
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Parallelkonspekt |
Die Rhetorik ist im 5.
Jh. v. Chr. nach der Beseitigung der
Tyrannenherrschaft in Syrakus und Athen entstanden, als
Interessengegensätze auf ökonomischem, politischem und rechtlichem
Gebiet öffentlich ausgetragen werden konnten. Ihre erste Blüte
erlebte sie in der sophistischen Aufklärung (Protagoras,
Gorgias), die
die Sprache endgültig aus dem mythischen Denken befreite und
die menschliche Rede zu einem rational brauchbaren und universell
einsetzbaren Instrument des gesellschaftlichen Lebens machte. In
Platon,
dessen Zerrbild der
Sophistik bis heute nachwirkt, erwuchs der Rhetorik ein
wirkungsmächtiger Gegner, der sie als "Überredung",
"Scheinkunst" und "Schmeichelei" kritisierte
und zur Wahrheitserkenntnis für untauglich erklärte. Ihre
Rehabilitierung kam von dem Platon-Schüler
Aristoteles,
der mit seiner "Rhetorik"
das bis heute folgenreichste Lehrbuch einer rhetorischen
Argumentationstheorie schrieb und ihre Aufgabe darin bestimmte,
"nicht ... zu überreden, sondern zu untersuchen, was an jeder
Sache Glaubwürdiges vorhanden ist." Außerdem wurde von
Aristoteles die Rhetorik als gleichberechtigtes Gegenstück zur
philosophischen Dialektik behandelt, da beide es mit dem
Ungewissen zu tun haben und durch ihre Fähigkeit, "über
Entgegengesetztes Schlüsse zu bilden", strittige Sachverhalte
im Für und Wider der Argumente zur Entscheidung bringen
können. |
Griechische
Antike
Blüte während
Sophistik
Befreiung der Sprache aus mythischem
Denken
Platon
als Gegner der Rhetorik
Aristoteles
verfasst "Rhetorik" = Lehrbuch rhetorischer
Argumentations-
theorie
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Von den römischen
Rednern und Redetheoretikern wurde die Rhetorik dann
endgültig zu dem neben der Philosophie wirkungsmächtigsten
Bildungssystem der europäischen Geschichte ausgeführt.
Während die nur anonym überlieferte "Rhetorik an Herennius",
das älteste erhaltene Lehrbuch in lateinischer Sprache, allein die
Produktionsstadien und Hauptgattungen der Rede behandelt, legte
Cicero
in seinen rhetorischen Lehrschriften (De oratore, Orator, Brutus)
die Grundlage für ein umfassendes Lehrgebäude, in dem Erziehung,
Politik, Recht, Gesellschaftstheorie und Ethik zusammengeführt
wurden. Sein Ideal des "perfectus orator", der die
Redekunst auf der Grundlage einer umfassenden Allgemeinbildung mit
moralischem Verantwortungsbewusstsein ausübt (ein "vir
bonus", ein guter Mensch, sein soll), wurde auch von
Quintilian
in das Zentrum seiner Rhetorik gestellt. Sein umfangreiches Lehrbuch
"Die Ausbildung des Redners" (De institutione oratoria),
ein Kompendium, das die Rhetorik als regina artis, als Königin
aller Künste und Wissenschaften, inthronisierte, avancierte zum
maßgebenden Standardwerk der europäischen Rhetorik |
Römische
Antike
Rhetorik neben Philosophie
wichtigstes Bildungsinstrument
Cicero
führt in seinen Lehrschriften über die Rhetorik
fächerübergreifend Erziehung, Politik, Recht, Gesellschafts-
theorie und Ethik zusammen
Quintilian
macht Rhetorik zur regina artis |
Das christliche
Mittelalter rezipierte die Rhetorik nach
anfänglichem Zögern (bahnbrechend:
Augustinus
"De doctrina christiana") und eignete sich das rhetorische
Wissen für die Bibelauslegung und Predigtlehre an, womit den
bisherigen drei klassischen eine weitere Redegattung hinzugefügt
und mit der
Homiletik*
ein neuer rhetorischer Theoriebereich geschaffen wurde. In den
Schulen wurden die sieben freien Künste gelehrt, wobei der
Rhetorik neben Grammatik und Dialektik grundlegende Bedeutung
zukam. |
Christliches
Mittelalter
Augustinus:
Rhetorik für Bibelauslegung und Predigtlehre
Rhetorik im Feld der sieben freien
Künste mit grundlegender Bedeutung |
Renaissance
und Humanismus brachten der Rhetorik neue Höhepunkte
an Geltung und Machtausbreitung, die Philosophie ging zeitweise
in ihr auf, sie beherrschte Schul- und Universitätsbetrieb,
Literatur und Architektur, Hof- und Gerichtswesen,
gesellschaftliches Leben, Kirche und Theologie; der historische und
philologische Sinn und die allgemeine Verweltlichung der
Wissenschaften und des Lebens waren unmittelbare Folgen der neuen
Rhetorik-Rezeption, die dann auch in die höfische Kultur
aufgenommen wurde und das barocke
Zeitalter besonders hinsichtlich seiner Schmuck- und
Prachtentfaltung geprägt hat. |
Renaissance
und Humanismus
Philosophie geht in Rhetorik auf, die
das gesellschaftliche Leben beherrscht
Rhetorik-Rezeption im
Barock
führt zur Integration der höfischen Kultur in das System der
Rhetorik |
Die Aufklärung
des 18. Jh.s brachte die Nationalisierung der
bisher lateinischsprachigen Rhetorik in allen europäischen
Ländern. Es entstand eine Fülle neuer muttersprachlicher
Lehrbücher, auch die Terminologie veränderte sich, in
Deutschland z. B. festigte sich der Sprachgebrauch "Beredsamkeit"
(oder" Eloquenz") für die Praxis und "Redekunst"
(oder "Rhetorik") für die Theorie der Rede. Anknüpfend
an die antiken Briefautoren (Plinius)
und die humanische ars dictandi (Briefkunst)
weiterführend, etablierte sich der Brief als eigenständige
rhetorische Gattung und der "Briefsteller" (Gellert)
als ihre Theorie. Auch die Poetik,
seit der Antike (Horaz)
zur rhetorischen Domäne gehörend, blieb weiter unter dem Einfluss
der Rhetorik (Pope,
Boileau,
Gottsched).
Eine neue politische Dimension gewann die Rhetorik bei der
Vorbereitung und nach dem Ausbruch
der Französischen Revolution, direkt als politische
Beredsamkeit oder durch die Entwicklung einer kritischen
bürgerlichen Publizistik. |
Aufklärung
(18. Jh.)
ehemals lateinsprachige Rhetorik wird
"nationalisiert"
In Deutschland
Begriffsdifferenzierung in
Beredsamkeit
(Eloquenz) und
Redekunst (Rhetorik)
Briefkunst
als eigenständige rhetorische Gattung
Poetik
unter dem Einfluss der Rhetorik
unter
dem Einfluss der frz. Rev.: politische Beredsamkeit,
kritische bürgerliche Publizistik |
Mit dem Ende
des Jh.s begann aber auch der Verfall der Rhetorik
als Folge komplizierter, bis heute nicht ganz erhellter Vorgänge
wie der politisch restaurativen Entwicklung, der Entstehung
neuer konkurrierender Wissenschaften (Ästhetik, Psychologie,
Germanistik, Pädagogik) und einer allgemeinen Kultur der
Innerlichkeit. Einzelne Gegenstimmen wie die
Nietzsches
änderten daran nichts. |
Ende
des 18. Jh.
Verfall der Rhetorik
z. T. wegen politischer
Restauration, Aufkommen konkurrierender Wissenschaften wie
Ästhetik, Psychologie, Germanistik und allgemeiner Kultur der
Innerlichkeit |
(Text übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors)
Seminar für Allgemeine Rhetorik
Wilhelmstraße 50 72074 Tübingen
Worterklärungen
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Homilektik:
Theorie und Geschichte der Predigt
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.01.2023
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