"Touristen sind wie Heuschrecken im Besitz von
Devisen. - Nehmen Sie zu dieser Aussage eines afrikanischen Politikers Stellung.Eine TV-Reportage lieferte mit ihrer Kamera unlängst wieder einen Blick ins
Innere eines kenianischen Naturparks. Tief in den Boden der Savanne gedrückt
zogen sich die Reifenspuren durch die Landschaft, ein Löwe wurde von einer
Wagenburg, vollgepackt mit Fotos schießenden Touristen umstellt, am Pool der
Safari-Luxus-Lounge lümmelten sich vom Sonnenbrand geplagte, meist
übergewichtige Touristen in der Sonne, während sich vor ihren Augen eine
Massai-Tanzgruppe mühte, einen Schimmer Folklore in die Gluthitze zu
bringen. Und am Ende präsentierte ein Urlauber aus Castrop-Rauxel gar noch,
was er, unter der Hand versteht sich, noch Hause zu schmuggeln gedachte:
Eine barbusige, afrikanische Schönheit aus purem Elfenbein.
Angesichts dieser Berichte wundert es nicht, wenn aus dem Munde eines
afrikanischen Politikers der Vergleich kommt, die ausländischen Touristen
benähmen sich mit ihren Taschen voller Geld wie Heuschreckenschwärme, die
immer wieder über das Land herfallen. Und doch ist es ein nicht geklärtes
Problem. Stimmt diese herkömmliche Tourismuskritik eigentlich heute immer
noch? Zerstören der Massentourismus langfristig wirklich die
Lebensgrundlagen, Natur und Kultur, insbesondere in Ländern der Dritten
Welt?
Die Meinungen über dieses Problem gehen heutzutage weit auseinander. Im Allgemeinen
werden in der Diskussion um diese Fragen vier Bereiche berührt, in denen sich positive oder negative
Auswirkungen des Massentourismus in der Dritten Welt aufzeigen lassen. Diese
vier Bereiche sind Wirtschaft, Soziales, Kultur und Ökologie.
Was den Bereich der Wirtschaft anbelangt, so betonen diejenigen, die dem
Tourismus langfristig zerstörerische Wirkungen absprechen, dass der
Tourismus die langfristige wirtschaftliche
Entwicklung dieser Länder voranbringt. Dies wird vor allem mit vier Argumenten
begründet.
Erstens,
Tourismus ist ohne Strukturentwicklung nicht möglich, heißt es, denn um die
Touristenströme überhaupt bewältigen zu können, müssen z. B. Straßen gebaut,
Flugplätze errichtet und ein öffentliches Nahverkehrssystem entwickelt oder
verbessert werden. Solche Baumaßnahmen schaffen aber nicht nur unmittelbar
Arbeitsplätze, sondern verbessern darüber hinaus die Infrastruktur für alle,
fördern damit letzten Endes auch den weiteren Ausbau des Handels oder andere
wirtschaftliche Tätigkeiten.
Die Deviseneinnahmen, die durch den Tourismus zustande kommen, verbessern
zweitens auch die allgemeine Finanzlage der Reiseländer. Denn,
wo bisher kein Geld für den Schulhausbau oder die Errichtung von
Krankenhäusern zur Verfügung gestanden hat, gibt es nun Überschüsse aus dem
Tourismustopf, die für solche Ausgaben verwendet werden können.
Der Tourismus fördert drittens auch das heimische
Gewerbe, das mit seinen landesüblichen Artikeln, die von den Touristen als
folkloristische Mitbringsel zur Erinnerung gekauft werden, neue Märkte
erschließen kann.
Viertens entstehen viele neue Dienstleistungsjobs, die auf den Tourismus
zugeschnitten sind. Da kann
man als Fremdenführer sein Geld verdienen, dort als Mitarbeiter in einem
Hotel, hier als Verkäufer auf einem Basar das fürs Leben Nötige
erwirtschaften, und das in Ländern, in denen es kaum eine andere
Verdienstmöglichkeit gibt.
Wirtschaftlich gesehen ist für die Befürworter der These, dass der
Massentourismus die Reiseländer in der Dritten Welt schädigt und deren
Lebensgrundlagen längerfristig sogar zugrunde richtet, an den "Heuschrecken
im Besitz von Devisen“ natürlich wenig Positives zu finden.
Die Strukturentwicklung, von der die eine Seite spricht, ist in den Augen
der anderen meist kein Bündel von Maßnahmen, das an die jeweiligen
Verhältnisse und deren allmähliche Weiterentwicklung angepasst ist. Ein am
internationalen Standard orientierter Airport in einem Entwicklungsland, um
den Bedürfnissen der großen Fluggesellschaften und ihrer Passagiere gerecht
zu werden, ist eben nicht das, was ein Bauer benötigt, dessen Brunnen ohne
entsprechende Hilfe versiegt.
Die Deviseneinnahmen, die der Tourismus solchen Ländern bringt, werden gar
nicht in Projekte
investiert, die der Allgemeinheit zugute kommen. Noch immer fließt ein
Großteil der Einnahmen aus dem Tourismus in die Hände Einzelner, nicht
selten der Machthaber selbst, und über Rüstungskäufe wieder in die
Industriestaaten zurück, aus denen die Touristen anreisen.
Natürlich, das wird wohl auch von dieser Seite nicht geleugnet, schafft der
Tourismus auch Arbeitsplätze, die es in dieser Form in den betreffenden
Ländern nicht gegeben hat. Aber zugleich sind diese Arbeitsplätze auch
abhängig von Entwicklungen außerhalb des betreffenden Landes. Wenn z. B. das
Land, aus dem die Touristen kommen, in eine wirtschaftliche Krise gerät,
dann versiegen bekanntlich auch die Touristenströme und die Einnahmen,
mit denen oft noch große vorfinanzierte Bauvorhaben abbezahlt werden müssen,
gehen verloren. Das hat zur Folge, dass die Verschuldung solcher Länder noch
höher werden kann.
In sozialer Hinsicht verweisen diejenigen, die die schädlichen
Auswirkungen des Tourismus im Auge haben, auf verschiedene Gesichtspunkte.
Da ist zum einen das vom Tourismus geprägte Preisniveau, das meistens weit
über den sonst landesüblichen Grenzen liegt. Dies bekommen vor allem die
ärmeren Schichten zu spüren, deren mühsam erwirtschaftete Einkommen damit
kaum mehr für das täglich Allernötigste ausreichen.
Zum anderen wirkt sich dies auch darauf aus, dass junge Mädchen und Frauen
der Prostitution nachgehen müssen, um gestrandet in den Touristenzentren,
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die "Sexbomber“ in die
Prostitutionszentren Thailands, wo Tausende junger Frauen dieses Schicksal
erleiden, sind dafür ein deutliches Beispiel.
Wichtiger vielleicht noch als diese negativen Auswirkungen ist wohl die
Tatsache, dass die Gesellschaft in diesen Ländern, mit ihren überlieferten
Strukturen, in einen sozialen Wandel gestürzt wird, der große Risiken birgt.
Denn vom Tourismus, dem Massentourismus mit seinen Hotel- und Clubanlagen
profitieren so wenige, dass die soziale Ungleichheit größer wird und damit auch die
sozialen Spannungen zunehmen. Die Folge: Wachsende Kriminalität und
Ghettobildung und auf der einen Seite hermetisch abgeschirmte
Touristenzentren, auf der anderen Seite die Blechhüttenghettos der Armen.
Die Vorteile, die der Tourismus den Reiseländern bringen kann, liegen in
sozialer Hinsicht wohl vor allem darin, dass ein Teil der Gesellschaft im
Tourismus einen Broterwerb finden kann. Mitunter mag es auch gelingen, dass
unter dem Einfluss des Tourismus soziale Strukturen aufgebrochen werden, die
nach dem Verständnis der Länder, aus denen die Touristen stammen,
mittelalterlich und menschenunwürdig erscheinen. So mag es durchaus
vorkommen, dass ein Land, das Touristen aus dem Westen anziehen will, auf
öffentliche Hinrichtungen oder Verstümmelungen verzichtet.
In ähnlicher Weise werden dann auch die positiven kulturellen Einflüsse
gesehen, die vom Tourismus auf die Reiseländer der Dritten Welt ausgehen.
Die Übernahme westlicher Lebensgewohnheiten, Coca Cola und McDonalds
überall, erscheint unter einem solchen Blickwinkel wie eine Glückverheißung
für die sonst noch im finsteren Mittelalter lebenden und bestenfalls von
Hirsebrei sich nährenden Einwohnern der Reiseländer in der Dritten Welt.
Die Zerstörung der heimischen Kultur ist für die andere Seite eine
ausgemachte Tatsache. Dem Tourismus werde sie bedingungslos geopfert, heißt
es, und durch amerikanisierten Lifestyle nach westlichem Muster ersetzt. Was
bleibt, sind jene zur folkloristischen Einlage verkümmerten Vorführungen
Einheimischer, seien es Massai-Tanzgruppen in Kenia oder Tempeltänzerinnen
in Burma, die eigens für Touristen inszeniert werden. Auf diese Weise geht
aber dennoch über kurz oder lang die kulturelle Vielfalt, die in diesen
Gesellschaften in der Zeit vor dem Tourismus geherrscht hat, verloren. Übrig
bleibt, wofür der Tourist zahlt, in der Hoffnung, das Wahre, das
Ursprüngliche kennen zu lernen.
Die Auswirkungen des Massentourismus unter dem Aspekt der Umwelt werden
von den beiden Seiten ganz kontrovers beurteilt. Während den einen schon die
umweltschädigende Anreise über den Wolken ein Dorn im Auge ist, betonen die
anderen, dass Umwelt und Tourismus gerade in den Ländern der Dritten Welt
häufig keine Gegensätze darstellen.
Dabei berufen sich beide Seiten auch auf die Problematik des Artenschutzes.
Die Touristen, so sagen die einen, bringen mit, was ihnen gefällt, und das
sind nicht selten die Überreste geschützter Tiere z. B. als
Krokodilledertasche oder als barbusige Elfenbeinstatue. So fördern sie die
Jagd auf bedrohte Tierarten und leisten dem Artensterben Vorschub.
Die andere Seite wiederum behauptet, dass nur dem Tourismus zu danken sei,
dass in vielen Ländern, insbesondere Afrikas, mittlerweile Naturreservate
eingerichtet wurden, wo bedrohte Tierarten unter der Aufsicht von Rangern
gegen Wilderer geschützt werden können. Und nur wenn Touristen dahin reisen,
den einen Löwen vielleicht, wie eingangs gesagt, mit ihren Landrovern
umstellen, können die anderen Löwen ein mehr weniger ungestörtes Dasein
genießen. Und: Selbst wenn einem gut betuchten Europäer der Abschuss eines
Elefanten gegen eine Menge Geld von der Reservatsdirektion gestattet wird,
kommt dieses Geld dem Naturschutz des Reservates wieder zu gute. So
garantieren in manchen Fällen erst die Deviseneinnahmen aus dem Tourismus
sogar wirksamen Artenschutz.
Die Behauptung des afrikanischen Politikers mag unter dem Eindruck
dessen, wie sich Touristen häufig im Ausland verhalten, durchaus
verständlich sein. Viele Bilder, nicht zuletzt jene geschmacklosen Fotos,
auf denen ein bierbäuchiger Urlauber sich im Kreise barbusiger junger
Mädchen ablichten lässt, zeigen Auswüchse von Verhaltensweisen an, die einen
die Touristenströme mit Heuschreckenschwärmen vergleichen lassen kann. Und
doch, so meine ich, greift die Aussage zu kurz. Die Frage jedenfalls, ob der
Massentourismus die Lebensgrundlagen der Gesellschaften und Länder in der
Dritten Welt längerfristig zugrunde richtet, kann meines Erachtens nicht mit
einem uneingeschränkten Ja beantwortet werden. Die gängige Tourismuskritik,
die den Touristen, insbesondere dann, wenn er zuhauf kommt, schnell
verteufelt, übersieht die dargestellten positiven Aspekte. Dass der
Massentourismus dabei auch eine Dynamik in Gang setzt, deren Ende weder in
Sicht, noch genau voraussehbar ist, muss dabei wohl in Kauf genommen werden.
Allerdings lassen sich bestimmte Missstände, insbesondere in
wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, wenn die Regierungen es wollen,
sicher mildern, wenn nicht gar beseitigen. Voraussetzung dafür muss
allerdings sein, dass die "Segnungen“ des Tourismus allen zugute kommen.
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Bausteine zum Beispielthema
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Niederschrift
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
03.01.2024