Neil Postman, Wir informieren uns zu Tode

Parallelkonspekt


Der nachfolgende Parallelkonspekt dient zur strukturierten Erfassung des Textes.

Gewiss, die Welt des Mittelalters war voller Rätsel und Gefahren, aber ein Bewusstsein von Ordnung fehlte ihr nicht. Einfache Männer und Frauen begriffen vielleicht nicht ganz, wie sich die rauhe Wirklichkeit ihres Daseins in den großen, wohltätigen Plan des Universums fügte, aber sie zweifelten nicht daran, dass es einen solchen Plan gebe, und ihre Priester waren imstande, ihn mit Hilfe einer Handvoll abgeleiteter Prinzipien wenn schon nicht als rational, so doch als kohärent[1] darzustellen. [...] Es gab eine Zeit, da half die Information den Menschen dabei, dringende Probleme ihres Lebens zu lösen, indem sie ihr Wissen von ihrer physischen und gesellschaftlichen Umwelt erweiterte. Es trifft zu, dass im Mittelalter Informationsknappheit herrschte, aber gerade ihre Knappheit machte die Information wichtig und nutzbar. Das Weltbild des Mittelalters

Orientierungssicherheit in einer gottgefügten Ordnung

kohärentes Weltbild

wenige Menschen haben Zugang zur Information 

Funktion der Information: Lösung dringender Probleme des Lebens durch Wissenszuwachs in einer von Wissensknappheit bestimmten Welt

Informationsknappheit

 

Das begann sich, wie jeder weiß, im späten 15. Jahrhundert zu ändern, als ein Mainzer Goldschmied namens Gutenberg eine alte Weinpresse in eine Druckmaschine verwandelte und damit das auslöste, was wir heute als Informationsexplosion bezeichnen. Vierzig Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks standen Druckerpressen in hundertzehn Städten, verteilt über sechs Länder; fünfzig Jahre später waren mehr als acht Millionen Bücher gedruckt und fast alle waren mit Informationen gefüllt, die bis dahin für die meisten Menschen unzugänglich gewesen waren.

Wende zur Neuzeit

 

 

Wandel im 15. Jahrhundert: Druckerpresse führt zur Informationsexplosion

mehr Menschen haben Zugang zur Information

Nichts wäre irreführender als die Behauptung, die Computertechnologie habe das Informationszeitalter hervorgebracht. Die Druckpresse hat damit begonnen und seither sind wir nicht mehr von ihr losgekommen. Aber was als ein Strom nützlicher Informationen begann, hat sich inzwischen in eine Sturmflut verwandelt. [...]  

 

Informationsschwemme der Gegenwart

Th: ehemals nützliche Informationen haben sich zu einer Katastrophe („Sturmflut“) verändert

Aus Millionen von Quellen auf dem ganzen Erdball, aus jedem erdenklichen Medium - Lichtwellen, Ätherwellen, Telexstreifen, Datenbanken, Telephondrähte, Fernsehkabel, Satelliten, Druckmaschinen - sickert Information hervor. Dahinter hält sich in jeder erdenklichen Form von Speicher - auf Papier, auf Video- und Audiobändern, auf Platten, Film und Silikon-Chips eine noch viel größere Masse abrufbarer Informationen bereit.  

Beispiele für moderne Informationsquellen und –technologie

Die Information ist zu einer Art Abfall geworden. Sie trifft uns wahllos, richtet sich an niemand Bestimmten und hat sich von jeglicher Nützlichkeit gelöst; wir werden von Information überschwemmt, sind nicht mehr imstande, sie zu beherrschen, wissen nicht, was wir mit ihr tun sollen. Und zwar deshalb nicht, weil wir keine kohärente Vorstellung von uns selbst, von unserem Universum und von unserer Beziehung zueinander und zu unserer Welt besitzen. Wir wissen nicht mehr, woher wir kommen und wohin wir gehen und warum. Wir verfügen über keinen kohärenten Rahmen, an dem wir uns orientieren können, wenn wir unsere Probleme definieren oder nach Lösungen für sie suchen wollen, und haben deshalb auch keine Maßstäbe, mit denen wir beurteilen können, was sinnvolle, nützliche oder relevante Information ist. Unsere Abwehrmechanismen gegen die Informationsschwemme sind zusammengebrochen; unser Immunsystem gegen Informationen funktioniert nicht mehr. Wir leiden unter einer Art von kulturellem Aids.

These:

Folge: Information wird eine Art „Abfall“:

  • wahllos

  • ohne richtigen Adressaten

  • ohne Bindung an Nützlichkeit

  • vom Menschen nicht mehr beherrschbar

Mensch kann damit nichts mehr anfangen

Argumentation:

Basisargument:

ohne kohärente Vorstellungen und Rahmen keine Möglichkeit zu erkennen, welche Informationen sinnvoll, nützlich oder relevant sind

Folgerung/These:

gegen die Informationsschwemme sind wir daher hilflos,

ohne Orientierungssicherheiten dauerhafte Immunschwäche (AIDS) gegen Informationsfülle

Die Informationstechnologien des 20. Jahrhunderts haben das alte Problem der Information auf den Kopf gestellt: Während die Menschen früher nach Informationen suchten, um die Zusammenhänge ihres wirklichen Lebens zu bewältigen, erfinden sie heute Kontexte, in denen ansonsten nutzlose Informationen scheinbar nutzbringend angewendet werden können. Das Kreuzworträtsel, das kurz, nachdem der Telegraph die moderne Informationsflut auslöste, zu einem populären Zeitvertreib wurde, ist ein solcher Pseudokontext für nutzlose Fakten; die Cocktailparty ist ein anderer, ebenso wie Radioquizsendungen der dreißiger und vierziger Jahre und die modernen Ratespiele im Fernsehen. Ihre vielleicht extremste Ausformung hat diese Tendenz in dem ungeheuer erfolgreichen Spiel "Trivial Pursuit" gefunden.


These:

Die Nutzlosigkeit von Wissen wird durch das Erfinden von scheinbar sinnstiftenden Kontexten kompensiert.

 

 

Beispiele für Pseudokontexte:

  • Kreuzworträtsel

  • Radioquizsendungen der dreißiger und vierziger Jahre

  • Ratespiele im modernen Fernsehen

  • "Trvial Pursuit“-Spiel

 

Alle diese Phänomene liefern eine Antwort auf die Frage: "Was soll ich mit den zusammenhanglosen Tatsachen tun?" Und im Grunde genommen ist die Antwort immer die gleiche: "Benutze sie zum Zeitvertreib, zur Unterhaltung, amüsiere dich mit ihnen." Mit anderen Worten, die Informationsschwemme bringt Pseudokontexte hervor, und Pseudokontexte verwandeln sich, indem sie die Kluft zwischen Information und sinnvollem Handeln noch weiter vertiefen, in Unterhaltung.

Folgerung / These:

Die Schaffung von Pseudokontexten macht Wissen zum reinen Zeitvertreib

 

Die Informationsschwemme führt auch zu einem wachsenden Gefühl von Ohnmacht. Die Nachrichtenmedien berichten uns über die Probleme im Nahen Osten, in Nordirland, in Jugoslawien. Wir hören von der Zerstörung der Ozonschicht und der Vernichtung der Regenwälder. Wird von uns nun erwartet, dass wir selber etwas unternehmen? Die meisten von uns können bei der Lösung solcher Probleme nicht aktiv werden.

These:

Informationsschwemme bringt Ohnmachtsgefühle hervor

Beispiele: Katastrophenmeldungen aus aller Welt

Argument:

Der Einzelne kann nicht handelnd damit umgehen

Und so wächst bei den Menschen ein Gefühl der Passivität und Unfähigkeit, das unweigerlich in ein verstärktes Interesse an der eigenen Person mündet. Wenn man in der Welt nichts auszurichten vermag, kann man doch zumindest sich selbst verändern. Man kann abnehmen, man kann sich die Haare anders färben, man kann die Form der eigenen Nase oder die Größe der eigenen Brüste verändern. Folge: Interesse an der eigenen Person kompensiert Ohnmachtsgefühle
Daraus, dass man tausend Dinge kennt und weiß und nicht imstande ist, Einfluss auf sie zu nehmen, erwächst ein eigenartiger Egoismus. Schlimmer: Die meisten Menschen glauben immer noch, Information und immer mehr Information sei das, was die Menschen vor allem benötigen. Die Information bilde die Grundlage all unserer Bemühungen um die Lösung von Problemen.

Beispiele für individuelle "Veränderungen"

 

Schlussfolgerung/These:

Informationsschwemme / Ohnmachtsgefühle lassen eigenartigen Egoismus entstehen

Aber unsere wirklich ernsten Probleme erwachsen nicht daraus, dass die Menschen über unzureichende Informationen verfügen. Wenn es zu einer Nuklearkatastrophe kommt, dann nicht wegen unzulänglicher Information. Wenn Familien zerbrechen, wenn Kinder misshandelt werden, wenn zunehmende Kriminalität eine Stadt terrorisiert, wenn sich das Erziehungswesen als ohnmächtig erweist, so nicht wegen mangelnder Information, sondern weil wir kein zureichendes Bewusstsein davon entwickeln, was sinnvoll und bedeutsam ist.

These:

Politische und gesellschaftliche Probleme können nicht mit mehr Information gelöst werden.

Beispiele:

  • Nuklearkatastrophen

  • Familienentwicklung

  • Kriminalität

  • Erziehungswesen

Argument:

Weil das Bewusstsein darüber was sinnvoll und relevant ist, nicht vorhanden

Um dieses Bewusstsein zu entwickeln, brauchen die Menschen eine glaubwürdige "Erzählung". Unter "Erzählung" verstehe ich hier eine Geschichte über die Geschichte der Menschheit, die der Vergangenheit Bedeutung zuschreibt, die Gegenwart erklärt und für die Zukunft Orientierung liefert. Eine Geschichte, deren Prinzipien einer Kultur helfen, ihre Institutionen zu organisieren, Ideale zu entwickeln und ihrem Handeln Autorität zu verleihen. Die Information als solche ist keine Erzählung und sie verdeckt in der gegenwärtigen Situation nur die Tatsache, dass die meisten Menschen nicht mehr an eine Erzählung glauben. [...]

Schlussfolgerung /These:

Die Menschen brauchen eine glaubwürdige "Erzählung" ("Mythos")

  • Sie muss Vergangenheit und Gegenwart deuten helfen und Orientierungssicherheit für die Zukunft geben

  • Sie soll die politischen und gesellschaftlichen Strukturen organisieren helfen

  • Sie soll Ideale, Werte und Normen setzen und durchsetzen helfen

 

Ohne Erzählungen von transzendentem[2] Ursprung kann keine Kultur wirklich gedeihen und die Kraft erhalten, den Menschen beim Sichten und Einschätzen von Informationen ebenso zu helfen wie bei der Entscheidung darüber, welches Wissen ihnen noch fehlt.[...]

These:

Die Erzählung muss transzendenten Ursprunges sein

These:

  • Transzendente Mythen lassen Kultur gedeihen und sich weiter entwickeln

  • ~ geben den Rahmen vor, in dem Informationen wieder auf ihre Nützlichkeit eingeschätzt werden können und müssen

1] kohärent : zusammenhängend
[2] transzendent : hier im Sinne von: übersinnlich, religiös, weltanschaulich