Dabei führte die
Entwicklung, die nach
Elias (1897-1990)
"mit der beschleunigten Verhöflichung der Oberschicht" (Elias
1939/1976.,
Bd. 2, S.415) zu tun hatte, auch zu neuen
Abhängigkeitsverhältnissen.
Was das bedeutet,
wird am Beispiel des französischen Königs
»Ludwig XIV. (1638-1715) deutlich, dessen Hofhaltung im »Schloss
von Versailles in Europa eine mehr oder weniger einheitliche
Hofkultur begründete, in der "der Hof die lebendige Mitte des ganzen
Landes (war): [...] Fluchtpunkt der neuen [...] klar aufgebauten
und rational disziplinierten Herrschafts- und Gesellschaftsordnung
des Absolutismus." (Schilling
1994a, S.19)
Der Versailler Hof wurde nach den zuvor lange
dominierenden konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen
dabei zur "Bühne, wo Fürst und Adel die neue vom Herrscher bestimmte
Einvernehmlichkeit inszenierten." (ebd.)
Eine wesentliche Voraussetzung dieser Inszenierung war, dass die
Rolle, der Rang und Status der Adeligen davon abhing, ob sie sich in
die Hofgesellschaft einfügten, deren Spielregeln der König
festlegte.
So wurde die Zahl
der am Hof von Versailles in der Hofgesellschaft lebenden Personen
immer größer. Zugleich wurde der Hoch- und Hofadel damit auch der
Kontrolle
»Ludwigs XIV. (1638-1715)
unterworfen, zumal er jeden, der sich weigerte, seinen ständigen
Aufenthalt in Versailles zu nehmen, missachtete und gänzlich
ignorierte.
Wo so viele
Menschen so eng zusammenlebten, entwickelten sich auch neue Elemente
der sozialen Kontrolle, die vergleichsweise unabhängig von dem
direkten Eingreifen des Königs dieses soziale System "bei Hofe"
stabilisierten. Man beobachtete sich gegenseitig und die Verbote wurden
"differenzierter und
differenzierter, umfassender, vielfältiger". (Elias
1939/1976.,
Bd. 2, S.415) Das betraf dabei auch das, worüber man sich schämen musste
und das,
was man an anderen als peinlich empfand. (vgl.
ebd.)
Wer einmal von den öffentlich vollzogenen Ankleideritualen, dem
sogenannten »Lever gehört hat, denen sich Fürsten
und Fürstinnen, Könige und Königinnen vom 17. Jahrhundert an in
ihren Schlaf- und Ankleidezimmern unterzogen haben, wird sich unter
Umständen über diese seltsame soziale Praxis am Hof gewundert haben.
Während des
»Lever
du Roi (=Aufstehen des Königs) war der französische König ▪
Ludwig XIV. (1638-1715), dessen ganzer Tagesablauf nach einem
von ihm selbst erfundenen ▪
Hofzeremoniell im Schloss von Versailles "getaktet" war, in
seinem »Paradeschlafzimmer
von einer Reihe von Würdenträgern und Dienern umgeben, die dem
Ankleiden des Königs beiwohnten oder es vornahmen. Sein Zeremoniell,
das das spanische Hofzeremoniell ablöste, sah u. a. vor, dass sich
der König in Anwesenheit des erlesenen Personkreises, der dem Lever
beiwohnen durfte und musste, den Morgenrock ausziehen ließ. Dann
zogen ihm der Meister und der Erste Diener der Garderobe sein
Nachthemd aus und zogen dem nun nackt im Raum stehenden König ein
frisches Hemd an, welches ihnen von einem königlichen Prinzen oder
dem Großkammerherrn von Frankreich ihnen gereicht wurde. Danach
waren die Seidenstrümpfe und die Schuhe an der Reihe. Man band ihm
danach einen Degen und der Großmeister der Garderobe zog ihm dann
die Weste, den Justaucorps und die Krawatte an.
Von unserer heutigen Warte betrachtet, kann man sich schon, warum
dem König oder anderen Fürsten, die das Lever in ähnlicher Weise
anordneten, die Anwesenheit ihrer
Bediensteten und sonstiger Höflinge offenbar überhaupt nichts
ausmachte, wenn sie sich ohne Perücke von oben bis unten nackt
zeigten.
Sieht man etwas genauer hin, zeigt sich einem ein Zugang zum barocken Verständnis
von Nacktheit, zumindest in der höfischen Gesellschaft, der einem
dieses verwunderliche und fremdartige Verhalten erklären kann.
Vielleicht wird einem dann auch das Eigene im Fremden
erkennbar, wenn man z. B. an Peinlichkeiten unserer Tage denkt, die
beim Besuch einer öffentlichen Sauna entstehen, in der man sich
unzähligen fremden Personen ohne Scham (in den USA geht man nur mit
Badeanzug dahin!) nackt zeigt, aber "erschauert", wenn plötzlich der
Nachbar oder die Nachbarin splitterfasernackt, noch viel schlimmer
Kolleginnen oder Kollegen, vom Chef ganz zu schweigen, vor einem
steht.
In der höfischen Gesellschaft des Barock hatte Peinlichkeit von oben nach unten
jedenfalls keinen Platz, wenn
der König sich beim Ankleiden nur vor seinen Dienern oder anderen
Höflingen entblößte. Unerträglich wäre ihm aber gewesen, wenn ihn
"Seinesgleichen", also Gleichrangige oder sonst wie Hochgestellte,
die nicht zu dem von ihm erwählten Personenkreis gehört hätten, so
zu Gesicht bekommen hätten.
Was gegenüber dem Untergebenen letztlich noch als Geste des
königlichen oder fürstlichen Wohlwollens interpretiert wurde (vgl.
Elias
1997, Bd.2, S.414), wird aber im Zuge der weiteren
gesellschaftlichen Entwicklung, "wenn die ständischen Mauern fallen,
wenn die funktionelle Abhängigkeit aller von allen noch stärker wird
und alle Menschen in der Gesellschaft um einige Stufen
gleichwertiger" (ebd.)
werden, zusehends bedeutungslos und im Zuge des sozialen Wandels
entsprechend verändert.
So wurde im Laufe der Zeit "die
Entblößung des Menschen von minderem Rang vor dem Höherstehenden
[...] oder auch die von Menschen gleichen Ranges voreinander mehr
und mehr als Zeichen der Respektlosigkeit aus dem gesellschaftlichen
Verkehr verbannt [...] als Verstoß gebrandmarkt und dementsprechend
mit Angst belegt" (ebd.).
Heute, wo wir längst im Sinne von
Elias, sämtliche grundsätzlich sozial konstruierten Schamgefühle so
internalisiert haben, dass uns die Scham als Gebot unseres eigenen
Innern erscheint (vgl.
ebd.),
ist die Entblößung des Körpers "außerhalb bestimmter, enger Enklaven
in Gegenwart eines anderen zu einem Verstoß" (ebd.)
geworden, auch
wenn
sich die Schamgrenzen, ganz entgegen der Sozialdisziplinierungsthese
von Elias, schon seit Längerem wieder zurückgezogen haben und ihn
einer medialen Kultur des "Anything goes", in der alle Akteure um
Aufmerksamkeit ringen, die bis ins Obszöne reichende
Zurschaustellungen des menschlichen Körpers ein tägliches und
einträgliches Geschäft wurde.