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1763-1806

Überblick

 
 
  Der Zeitraum zwischen dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-63) und der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (1806), von Zeitgenossen auch kurz Deutsches Reich genannt, ist geprägt von vielfältigen Prozessen des Wandels in verschiedenen Bereichen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.
In den Jahren, die zwischen 1763 und 1806 liegen, erhöht sich das Tempo des gesellschaftlichen Wandels in einer ganzen Reihe von Bereichen. Es kommt zu Veränderungen in der Wirtschaft und Gesellschaft, auf den Gebieten von Kommunikation und Kultur, im Bereich territorialer Innen-, Außen- und Reichspolitik. Das Jahr 1763 markiert dabei die Entstehung des so genannten deutschen Dualismus der beiden Großmächte Österreich und Preußen im Reich und das Jahr 1806 stellt mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eine tief greifende Zäsur dar, in deren Folge die kleinen und meist noch ständisch regierten Territorien, Reichsstädte, Reichsritterschaften, geistliche und auch viele weltliche Herrschaften von der Landkarte verschwinden. Die alten Institutionen des Reiches (Reichstag, Reichsstände, Reichskreise, Reichsgerichte etc.) lösen sich auf.
Zeitgleich beginnt sich die alte ständisch-feudale Gesellschaft aufzulösen. Sie macht nach und einer "bürgerlichen Gesellschaft“ Platz, in der sich das Bildungsbürgertum und das entstehende Wirtschaftsbürgertum jenseits der traditionellen Gesellschaftsstrukturen formiert. Das von ihm vertretene Bildungsideal ist die Brücke, die sich zu fortschrittlichen denkenden Adeligen schlagen lässt und in Aufklärungsgesellschaften kommt es zwischen dem Bildungsbürgertum und solchen Adeligen auch zu einer gewissen sozialen Annäherung. Das mehr oder weniger gemeinsame Werk dieser "gebildeten Stände“ sind neue Regeln für das Zusammenleben der beiden Geschlechter und der Generationen. Aber auch im handwerklichen und bäuerlichen Bereich hält der soziale Wandel Einzug. Die Lebensform des traditionellen "ganzen Hauses“ zeigt Risse und beginnt zu zerfallen. (vgl. Demel 2005, S.77ff.) Trotz alledem prägen ständische Ordnungsvorstellungen, die die rechtliche Ungleichheit der Menschen legitimieren, noch immer das Gesamtbild der Gesellschaft (vgl. ebd., S. 119) Auch wenn sich Tendenzen zu einer bürgerlichen Klassengesellschaft zeigen, bei der Besitz und Bildung die wesentlichen Bedingungen von sozialem Status darstellen, werden wichtige (Macht-)Positionen in der Gesellschaft, die ihren Inhabern einen hohen gesellschaftlichen Rang geben, immer noch nach geburtsständischen Konzepten vergeben.
Die Auflösungstendenzen in der ständischen Gesellschaft, die die Zeit prägen, zeigen in den zahlreichen Gebieten des Reiches ein unterschiedliches Gesicht und vollziehen sich zum Teil auf sehr unterschiedliche Art und Weise und, fast immer, in einem unterschiedlichen Tempo. Sie beruhen auf dem Bevölkerungswachstum, betreffen die Geschlechter- und Familienbeziehungen, zeigen sich in den veränderten Strukturen wirtschaftlicher Entwicklung und in der Entstehung der so genannten "gelehrten Stände“, die in vielen Gegenden an die Stelle ehemals geburtsständisch verfasster Gesellschaften treten.
Das Bevölkerungswachstum, das sich nach den schweren Verlusten des Dreißigjährigen Krieges und der Pest, die beide ganze Landstriche entvölkern, beginnt schon ausgangs des 17. Jahrhunderts. Um 1750 leben in Deutschland – ganz genau weiß man das nicht – ca. 22,6 bis 26,5 Millionen Menschen, fünfzig Jahre später zwischen 25,1 und 31 Millionen. Da die landwirtschaftliche Produktion im gleichen Zeitraum ebenfalls erhöht werden kann, zudem noch die Verkehrsverbindungen besser werden, können auch Missernten mit ihrem drastischen Geburtenrückgang als Folge, wie 1770/72 geschehen, nicht mehr jene Hungersnöte auslösen, denen in den langen Jahren zuvor immer wieder Hunderttausende zum Opfer gefallen sind. Und auch Krieg und Seuchen dezimieren die Bevölkerung nicht mehr im gleichen Ausmaß wie früher. Aber noch immer wüten Krankheiten wie die Pocken, Typhus, Ruhr und Malaria unter den Menschen. Die Pest freilich, diese Geißel der Menschheit, ist verschwunden. Vor allem die Pocken sind es, die alle drei bis fünf Jahre wüten, und vor allem Kleinkinder hinraffen. Noch 1804 erkranken daran 800.000 Menschen, wovon 75.000 sterben. (vgl. Demel 2005, S.81) Trotzdem: die Sterblichkeit der älteren Kinder geht vielerorts zurück, was auch in bestimmten Regionen dazu führt, dass das Heiratsalter der Frauen, im allgemeinen wohl immer noch zwischen dem 25 und 27 Jahren, deutlich sinkt. Die Säuglingssterblichkeit bleibt dagegen hoch und verändert sich noch kaum. Je nach Gegend, in der die Menschen aufwachsen und leben, wuchs die durchschnittliche Lebenserwartung eines Menschen zwischen 1760 und 1800 etwa 60 Jahre. (vgl. ebd., S.82)
Ob man zum Erwachsenen werden kann, hängt vom Geschlecht des Neugeborenen, der sozialen Lage, aber auch von der Religion ab. So wird auf dem Land der männliche Hoferbe eben anders umsorgt als die Mädchen. Interessant die Erklärung, weshalb die Zahl der früh verstorbenen Kinder in protestantischen Gegenden geringer ausfällt, als in katholischen. Man führt dies auf ein unterschiedliches Verhalten der Mütter zurück, die sich bei den protestantischen darin zeigt, dass sie ihre Kinder offensichtlich länger und intensiver stillen. Katholische Frauen nehmen den Tod ihrer Kinder dazu offensichtlich gleichmütiger hin, akzeptieren, dass sie ihnen unter Umständen wieder von Gott genommen werden und gehen, salopp gesagt, nach der Geburt des nächsten Kindes, einfach dadurch wieder zur Tagesordnung über, dass sie dem Neugeborenen den gleichen Namen geben wie dem gerade verstorbenen Säugling. (vgl. ebd., S. 83)
Für das Bevölkerungswachstum vor 1800 spielen Fortschritte in Medizin und Hygiene, die sich nur recht langsam entwickeln keines so große Rolle. Sicher, man weiß wohl besser mit Seuchen umzugehen, aber die medizinische Versorgung ist noch immer katastrophal. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch die rasche Verbreitung der Baumwolle als Material für Kleidung, die sich eben viel leichter waschen und trocknen lässt als Wolle und Leinen.
Auch wenn fast alle größeren Städte ein Geburtendefizit aufweisen, das nur durch Zuwanderung kompensiert oder sogar überkompensiert werden kann, wachsen die (Vor-)Städte an, in denen die Menschen beengt und in z. T. katastrophalen, zumindest aber immer ungesunden Lebensverhältnissen hausen.
Die Familie besteht, dem gesellschaftlichen Idealbild des "ganzen Hauses“ entsprechend aus einem "Hausvater“, einer ihm rechtlich untergeordneten Mutter und den Kindern. Durchschnittlich leben in den meisten Regionen Mitteleuropas ca. 4-5,5 Personen in einem Haushalt. In diesem traditionellen Familientyp herrscht zwar grundsätzlich eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, aber häufig überschneiden sich die Arbeitsgebiete des als ein "Arbeitspaar“ aufzufassenden Ehepaars. Traditionell aber gilt: Während der Hausvater das unbestrittene patriarchalische Oberhaupt der Familie darstellt, kümmert sich die Frau um die Kinder und um den Haushalt i. e. S. (vgl. ebd., S. 88) Zum Haushalt zählen häufig noch Dienstpersonal, Knechte und Mägde, sowie mitarbeitende Verwandte, die mit der Familie unter dem gleichen Dach leben.
Allerdings ist die Lebensform des "ganzen Hauses“ aus drei Gründen auch schon in Auflösung begriffen. Wohnung und Arbeitsstätte beginnen sich räumlich voneinander zu trennen, die Beziehung der Ehepartner zueinander und der Eltern zu ihren Kindern wird zusehends emotionaler und das Dienstpersonal (einschließlich der Handwerksgesellen) löst sich heraus und gewinnt an Mobilität. (vgl. ebd., S.88)
Insbesondere die Mutterliebe, so wie wir sie auch heute noch sehen, ist als familialer und sozialer Wert wohl eine Erfindung der Zeit um 1760, in der die von den gehobeneren Schichten kultivierten Empfindsamkeit emotional tiefer gehendere Beziehungen zu den Kindern entstehen lässt. Die Sicht auf die Heranwachsenden verändert sich dabei. Man will dem "unschuldigen“ Kind eine "gute Kinderstube“ zuteil werden lassen, will es zu einem vernünftigen Menschen bilden, zugleich aber vor allen sexuellen "Ausschweifungen“, besonders in der Pubertät bewahren, sie mit Selbstdisziplin und Scham zu Herren ihrer Triebe machen. (vgl. ebd., S.90)
Das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern gestaltet sich, je nach Herkunft, sozialem Status und Wohlstand unterschiedlich. Während sich unter Adeligen und insbesondere in Fürstenkreisen weiterhin ein förmlicher und distanzierter Ton zwischen den Generationen herrscht, gibt es in bürgerlichen Kreisen einen Trend zunehmender Emotionalisierung der innerfamiliären Beziehungen, die zugleich ihre eigene Dynamik entfalten. In Scheidungsangelegenheiten allerdings kommen Männer trotz einer gewissen Liberalisierung hie und dort immer noch besser weg und auch Zivil- und Zivilprozessrecht bleiben die Frauen weiter benachteiligt.
Auch wenn der gesellschaftliche Status des einzelnen noch immer überwiegend von seiner Geburt abhängt, zeigen sich doch vermehrt Tendenzen einer neuen Art von sozialer Mobilität, die sich in einer Zunahme der Erhebungen von Bürgern in den Adelsstand (Nobilitierung) ausdrücken. Doch insgesamt kann die ständische Gesellschaft auf diesem Wege die neu entstehenden bürgerlichen Eliten nicht mehr integrieren. Genauso wenig gelingt dies am unteren Ende der sozialen Stufenleiter. So genannte Randgruppen "ohne Standesehre“, die auch nicht zu den anerkannten Dorf- und Stadtarmen zählen sind in den ständischen Strukturen nicht mehr sozial zu disziplinieren. Egal ob man sesshaft oder "unbehaust“ war, ob Scharfrichter oder Prostituierte in größeren Städten oder zu einer der aus Angehörigen beider Geschlechter bestehenden Diebes- oder Räuberbande zählt, die es nahezu überall und in nicht allzu geringer Zahl gibt, sie werden alle vom religiösen Leben und geselligen öffentlichen Leben ausgeschlossen. (vgl. ebd., S.120) Mit der gemeinsamen Religionsausübung geht damit auch bei solchen Randgruppen der wirksame Kitt verloren, der diese noch irgendwie an die Gesellschaft binden kann. Aber trotzdem: auch neue Mechanismen sozialer Integration lassen sich beobachten. So kommt es in Württemberg um 1800 in Mode Ehepartner und Taufpaten danach auszusuchen, wie vermögend sie sind und über welchen sozialen Status sie in der Gesellschaft verfügen. (vgl. ebd., S. 122)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 29.09.2013
 

 
     
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