Die »Kritik
des Gothaer Programms wurde von »Karl
Marx (1818-1883) 1875 verfasst und erst nach seinem Tode 1891
veröffentlicht. Die Schrift kritisiert den Entwurf des •
Gothaer Programms, das bei
der späteren Vereinigung der marxistisch orientierten »"Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei" (SDAP) mit dem »"Allgemeinen
Deutschen Arbeiterverein" (ADAV) zur »Sozialistischen
Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) beschlossen worden war. Die
Schrift stellt eine wichtige Quelle für das Verständnis von Marx’
Theorien über die Organisation und Natur einer »kommunistischen
Gesellschaft (vgl. auch »Klassenlose
Gesellschaft) dar.
Seine Kritik
richtet sich dabei gegen die programmatischen Vorstellungen zum
Ursprung des gesellschaftlichen Reichtums, seiner gerechter
Verteilung, oder der Stellung von Kapitalisten und Grundeigentümern
(alle I. Abschnitt). Ebenso thematisiert er die Notwendigkeit eines
Internationalismus in der Arbeiterbewegung, der Stellung der
Arbeiterklasse zu den anderen Klassen (beide I.), das Bildungssystem
(IV.). Kritisch beleuchtet er das so genannte »eherne
Lohngesetz von »Ferdinand
Lassalle (1825-1864) (II.). Zudem befasst er sich mit der Rolle
des Staates und seiner Entwicklung, besonders nach einer
proletarischen Revolution. (III. + IV.). (vgl.
Wikipedia)
Kritik des Gothaer
Programms
Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei
»Karl
Marx (1818-1883)
1. "Die Arbeit
ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da
nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft
möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem
Rechte, allen Gesellschaftsgliedern.“
Erster Teil
des Paragraphen: "Die
Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur.“
Die Arbeit ist nicht
die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebenso sehr die
Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche
Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft
ist, der menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen
Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, dass
die Arbeit mit den dazugehörigen Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein
sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerlichen Redensarten nicht
erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen
Sinn geben. Nur
1) soweit der Mensch
sich von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller
Arbeitsmittel und –gegenstände, verhält, sie als ihm gehörig behandelt,
wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum. Die
Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche
Schöpfungskraft anzudichten; denn grade aus der Naturbedingtheit der
Arbeit folgt, dass der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine
Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der
andern Menschen sein muss, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen
Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis
arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben.
Lassen wir jetzt den Satz,
wie er geht und steht, oder vielmehr hinkt. Was hätte man als
Schlussfolgerung erwartet? Offenbar dies:
"Da die
Arbeit die Quelle alles Reichtums ist, kann auch in der Gesellschaft
sich niemand Reichtum aneignen, außer als Produkt der Arbeit. Wenn er
also nicht selber arbeitet, lebt er von fremder Arbeit und eignet sich
auch seine Kultur auf Kosten fremder Arbeit an.“
Statt dessen
wird durch die Wortschraube "und da“ ein zweiter Satz angefügt, um aus
ihm, nicht aus dem ersten, eine Schlussfolgerung zu ziehn.
Zweiter Teil des
Paragraphen: "Nutzbringende
Arbeit ist nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich.“
Nach dem ersten Satz war
die Arbeit die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, also auch keine
Gesellschaft ohne Arbeit möglich. Jetzt erfahren wir umgekehrt, dass keine
"nutzbringende“ Arbeit ohne Gesellschaft möglich ist.
Man hätte ebenso gut sagen
können, dass nur in der Gesellschaft nutzlose und selbst gemeinschädliche
Arbeit ein Erwerbszweig werden kann, dass man nur in der Gesellschaft vom
Müßiggang leben kann etc. etc. – kurz, den ganzen Rousseau abschreiben
können.
Und was ist "nutzbringende“
Arbeit? Doch nur die Arbeit, die den bezweckten Nutzeffekt hervorbringt.
Ein Wilder – und der Mensch ist ein Wilder, nachdem er aufgehört hat, Affe
zu sein – der ein Tier mit einem Stein erlegt, der Früchte sammelt etc.,
verrichtet "nutzbringende“ Arbeit.
Drittens: Die
Schlussfolgerung: "Und da nutzbringende Arbeit nur in der
Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist – gehört der Ertrag
der Arbeit unverkürzt, nach
2) gleichem
Rechte, allen Gesellschaftsgliedern.“
Schöner Schluss! Wenn die
nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft
möglich ist, gehört der Arbeitsertrag der Gesellschaft – und kommt dem
einzelnen Arbeiter davon nur soviel zu, als nicht nötig ist, um die
"Bedingung“ der Arbeit, die Gesellschaft, zu erhalten.
In der Tat ist dieser Satz
auch zu allen Zeiten von den Vorfechtern
3)
des jedesmaligen
Gesellschaftszustands geltend gemacht worden. Erst kommen die
Ansprüche der Regierung mit allem, was daran klebt, denn sie ist das
gesellschaftliche Organ zur Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung; dann
kommen die Ansprüche der verschiednen Sorten von Privateigentümern
4),
denn die verschiednen Sorten Privateigentum sind die Grundlagen der
Gesellschaft etc. Man sieht, man kann solche hohlen Phrasen drehn und
wenden, wie man will.
Irgendwelchen verständigen
Zusammenhang haben der erste und zweite Teil des Paragraphen nur in dieser
Fassung:
"Quelle des Reichtums und
der Kultur wird die Arbeit nur als gesellschaftliche Arbeit“ oder, was
dasselbe ist, "in und durch die Gesellschaft“. Dieser Satz ist unstreitig
richtig, denn wenn die vereinzelte Arbeit (ihre sachlichen Bedingungen
vorausgesetzt) auch Gebrauchswerte schaffen kann, kann sie weder Reichtum
noch Kultur schaffen.
Aber ebenso unstreitig ist
der andre Satz:
"In dem Maße,
wie die Arbeit sich gesellschaftlich entwickelt und dadurch Quelle von
Reichtum und Kultur wird, entwickeln sich Armut und Verwahrlosung auf
seiten des Arbeiters, Reichtum und Kultur auf Seiten des
Nichtarbeiters.“
Dies ist das
Gesetz der ganzen bisherigen Geschichte. Es war also, statt allgemeine
Redensarten über "die Arbeit“ und "die Gesellschaft“ zu
machen, hier bestimmt nachzuweisen, wie in der jetzigen kapitalistischen
Gesellschaft endlich die materiellen etc. Bedingungen geschaffen sind,
welche die Arbeiter befähigen und zwingen, jenen geschichtlichen
5)
Fluch zu brechen.
In der Tat ist aber der
ganze, stilistisch und inhaltlich verfehlte Paragraph nur da, um das
Lassallesche Stichwort vom "unverkürzten Arbeitsertrag“ als Losungswort
auf die Spitze der Parteifahne zu schreiben. Ich komme später zurück auf
den "Arbeitsertrag“, "das gleiche Recht“ etc., da dieselbe Sache in etwas
andrer Form wiederkehrt.
2. "In der
heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der
Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse
ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen.“
Der dem
internationalen Statut
1*) entlehnte Satz ist in dieser "verbesserten“
Ausgabe falsch.
In der heutigen
Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Grundeigentümer (das
Monopol des Grundeigentums ist sogar Basis des Kapitalmonopols) und
der Kapitalisten. Das internationale Statut nennt im betreffenden Passus
weder die eine noch die andere Klasse der Monopolisten. Es spricht vom
"Monopol der Arbeitsmittel, d.h. der Lebensquellen“; der Zusatz
"Lebensquellen“ zeigt hinreichend, dass der Grund und Boden in den
Arbeitsmitteln einbegriffen ist.
Die Verbesserung wurde
angebracht, weil Lassalle, aus jetzt allgemein bekannten Gründen, nur
die Kapitalistenklasse angriff, nicht die Grundeigentümer. In England ist
der Kapitalist meistens nicht einmal der Eigentümer des Grund und Bodens,
auf dem seine Fabrik steht.
3. "Die
Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut
der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit
gerechter Verteilung des Arbeitsertrags.“
"Erhebung der
Arbeitsmittel zu Gemeingut“! Soll wohl heißen ihre "Verwandlung in
Gemeingut“. Doch dies nur nebenbei.
Was ist "Arbeitsertrag“?
Das Produkt der Arbeit oder sein Wert? Und im letzteren Fall, der
Gesamtwert des Produkts oder nur der Wertteil, den die Arbeit dem Wert der
aufgezehrten Produktionsmittel neu zugesetzt hat?
"Arbeitsertrag“ ist eine
lose Vorstellung, die Lassalle an die Stelle bestimmter ökonomischer
Begriffe gesetzt hat.
Was ist "gerechte“
Verteilung?
Behaupten die Bourgeois
nicht, dass die heutige Verteilung "gerecht“ ist? Und ist sie in der Tat
nicht die einzige "gerechte“ Verteilung auf Grundlage der heutigen
Produktionsweise? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch
Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die
Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen? Haben nicht auch die
sozialistischen Sektierer die verschiedensten Vorstellungen über
"gerechte“ Verteilung?
Um zu wissen, was man sich
bei dieser Gelegenheit unter der Phrase "gerechte Verteilung“ vorzustellen
hat, müssen wir den ersten Paragraphen mit diesem zusammenhalten.
Letzterer unterstellt eine Gesellschaft, worin "die Arbeitsmittel
Gemeingut sind und die Gesamtarbeit genossenschaftlich geregelt ist“, und
aus dem ersten Paragraphen ersehn wir, dass "der Ertrag der Arbeit
unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsmitgliedern gehört“.
"Allen Gesellschaftsgliedern“? Auch den nicht arbeitenden? Wo bleibt da
"der unverkürzte Arbeitsertrag“? Nur den arbeitenden
Gesellschaftsgliedern? Wo bleibt da "das gleiche Recht“ aller
Gesellschaftsglieder?
Doch "alle
Gesellschaftsglieder“ und "das gleiche Recht“ sind offenbar nur
Redensarten. Der Kern besteht darin, dass in dieser kommunistischen
Gesellschaft jeder Arbeiter seinen
6) "unverkürzten“
Lassalleschen "Arbeitsertrag“ erhalten muss.
Nehmen wir zunächst das
Wort "Arbeitsertrag“ im Sinne des Produkts der Arbeit, so ist der
genossenschaftliche Arbeitsertrag das gesellschaftliche Gesamtprodukt.
Davon ist nun abzuziehen:
Erstens: Deckung zum Ersatz der verbrauchten
Produktionsmittel.
Zweitens: zusätzlicher Teil für Ausdehnung der Produktion.
Drittens: Reserve- oder Assekuranzfonds gegen Missfälle,
Störungen durch Naturereignisse etc.
Diese Abzüge vom
"unverkürzten Arbeitsertrag“ sind eine ökonomische Notwendigkeit, und ihre
Größe ist zu bestimmen nach vorhandenen Mitteln und Kräften, zum Teil
durch Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber sie sind in keiner Weise aus der
Gerechtigkeit kalkulierbar.
Bleibt der andere Teil des
Gesamtprodukts, bestimmt, als Konsumtionsmittel zu dienen. Bevor es zur
individuellen Teilung kommt, geht hiervon wieder ab:
Erstens: die
allgemeine, nicht direkt
7) zur
Produktion gehörigen Verwaltungskosten.
Dieser Teil wird von
vornherein aufs bedeutendste beschränkt im Vergleich zur jetzigen
Gesellschaft und vermindert sich im selben Maß, als die neue Gesellschaft
sich entwickelt.
Zweitens: was zur
gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen bestimmt ist, wie
Schulen, Gesundheitsvorrichtungen etc.
Dieser Teil wächst von
vornherein bedeutend im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft und nimmt im
selben Maß zu, wie die neue Gesellschaft sich entwickelt.
Drittens: Fonds für
Arbeitsunfähige etc., kurz, für, was heute zur sog. offiziellen
Armenpflege gehört.
Erst jetzt kommen wir zu
der "Verteilung“, die das Programm, unter Lassalleschem Einfluss,
bornierterweise allein ins Auge fasst, nämlich an den Teil der
Konsumtionsmittel, der unter die individuellen Produzenten der
Genossenschaft verteilt wird.
Der "unverkürzte
Arbeitsertrag“ hat sich unter der Hand bereits in den "verkürzten“
verwandelt, obgleich, was dem Produzenten in seiner Eigenschaft als
Privatindividuum entgeht, ihm direkt oder indirekt in seiner Eigenschaft
als Gesellschaftsglied zu gut kommt.
Wie die Phrase des
"unverkürzten Arbeitsertrags“ verschwunden ist, verschwindet jetzt die
Phrase des "Arbeitsertrags“ überhaupt.
Innerhalb der
genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten
Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebenso
wenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert
dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da
jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen
Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile
der Gesamtarbeit existieren. Das Wort "Arbeitsertrag“, auch heutzutage
wegen seiner Zweideutigkeit verwerflich, verliert so allen Sinn.
Womit wir es hier zu tun
haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer
eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben
aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder
Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den
Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß
erhält der einzelne Produzent – nach den Abzügen – exakt zurück, was er
ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum.
Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der
individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen
Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen
Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen
Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit
für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem
gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich
viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in
einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück.
Es herrscht hier offenbar
dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch
Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den
veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und
weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehn kann außer
individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren
unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie
beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleich viel Arbeit in einer
Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausgetauscht.
Das gleiche Recht
ist hier daher immer noch – dem Prinzip nach – das bürgerliche Recht,
obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während
der Austausch von Äquivalenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt,
nicht für den einzelnen Fall existiert.
Trotz dieses Fortschritts
ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen
Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen
proportionell; die Gleichheit besteht darin, dass an gleichem
Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder
geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit
oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu
dienen, muss der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden,
sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist
ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine
Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es
erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher
Leistungsfähigkeit der Arbeiter
8)
als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der
Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann
seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die
ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn
sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab messbar, soweit
man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer
bestimmten Seite fasst, z.B. im gegebnen Fall sie nur als
Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem
andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht;
einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung
und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds
erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als
der andre etc. Um alle diese Missstände zu vermeiden, müsste das Recht,
statt gleich, vielmehr
9) ungleich
sein.
Aber diese Missstände sind
unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie
sie eben aus der kapitalistischen
Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann
nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte
Kulturentwicklung der Gesellschaft.
In einer höheren Phase der
kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der
Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz
geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit
nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis
geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre
Produktivkräfte
10)
gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen
Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche
Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre
Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!
Ich bin weitläufiger auf
den "unverkürzten Arbeitsertrag“ einerseits, "das gleiche Recht“, "die
gerechte Verteilung“ andrerseits eingegangen, um zu zeigen, wie sehr man
frevelt, wenn man einerseits Vorstellungen, die zu einer gewissen Zeit
einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetem Phrasenkram geworden, unsrer
Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, andrerseits aber die
realistische Auffassung, die der Partei so mühvoll beigebracht worden,
aber Wurzeln in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Rechts- und
andre, den Demokraten und französischen Sozialisten so geläufige Flausen
verdreht.
Abgesehn von dem bisher
Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung
Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen.
Die jedesmalige Verteilung
der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der
Produktionsbedingungen selbst. Die kapitalistische Produktionsweise z.B.
beruht darauf, dass die sachlichen Produktionsbedingungen Nichtarbeitern
zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum,
während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung,
der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt,
so ergibt sich von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel.
Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum
der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen
verschiedne Verteilung der Konsumtionsmittel. Der Vulgärsozialismus (und
von ihm wieder ein Teil der Demokratie) hat es von den bürgerlichen
Ökonomen übernommen, die Distribution als von der Produktionsweise
unabhängig zu betrachten und zu behandeln, daher den Sozialismus
hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen. Nachdem
das wirkliche Verhältnis längst klargelegt, warum wieder rückwärtsgehn?
4. "Die
Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber
alle andren Klassen nur eine reaktionäre Masse sind.“
Die erste
Strophe ist aus den Eingangsworten der internationalen Statuten, aber
"verbessert“. Dort heißt es: "Die Befreiung der Arbeiterklasse muss die
Tat der Arbeiter selbst sein“; hier hat dagegen "die Arbeiterklasse“ zu
befreien – was? "die Arbeit“. Begreife, wer kann.
Zum Schadenersatz ist
dagegen die Gegenstrophe Lassallesches Zitat vom reinsten Wasser: "der
(der Arbeiterklasse) gegenüber alle andern Klassen nur eine
reaktionäre Masse bilden“.
Im Kommunistischen
Manifest heißt es: "Von allen Klassen, welche heutzutage der
Bourgeoisie gegenüberstehn, ist nur das Proletariat eine wirklich
revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehn unter
mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.“
Die Bourgeoisie ist hier
als revolutionäre Klasse aufgefasst – als Trägerin der großen Industrie –
gegenüber Feudalen und Mittelständen, welche alle gesellschaftlichen
Positionen behaupten wollen, die das Gebilde veralteter Produktionsweisen.
Sie bilden also nicht zusammen mit der Bourgeoisie nur eine
reaktionäre Masse.
Andrerseits ist das
Proletariat der Bourgeoisie gegenüber revolutionär, weil es, selbst
erwachsen auf dem Boden der großen Industrie, der Produktion den
kapitalistischen Charakter abzustreifen strebt, den die Bourgeoisie zu
verewigen sucht. Aber das Manifest setzt hinzu: dass die "Mittelstände ...
revolutionär (werden) ... im Hinblick auf ihren bevorstehenden Übergang
ins Proletariat“.
Von diesem Gesichtspunkt
ist es also wieder Unsinn, dass sie "zusammen mit der Bourgeoisie“ und
obendrein den Feudalen, gegenüber der Arbeiterklasse "nur eine reaktionäre
Masse bilden“.
Hat man bei den letzten
Wahlen Handwerkern, kleinen Industriellen etc. und Bauern
zugerufen: Uns gegenüber bildet ihr mit Bourgeois und Feudalen nur eine
reaktionäre Masse?
Lassalle wusste das
Kommunistische Manifest auswendig wie seine Gläubigen die von ihm
verfassten Heilsschriften. Wenn er es also so grob verfälschte, geschah es
nur, um seine Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider
die Bourgeoisie zu beschönigen.
Im obigen Paragraph wird
nun zudem sein Weisheitsspruch an den Haaren herbeigezogen, ohne allen
Zusammenhang mit dem verballhornten Zitat aus dem Statut der
Internationalen. Es ist also hier einfach eine Impertinenz, und zwar
keineswegs Herrn Bismarck missfällige, eine jener wohlfeilen Flegeleien,
worin der Berliner Marat
2*) macht.
5. "Die
Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen des
heutigen nationalen Staats, sich bewusst, dass das notwendige
Ergebnis ihres Strebens, welches den Arbeitern aller Kulturländer
gemeinsam ist, die internationale Völkerverbrüderung sein wird.“
Lassalle hatte,
im Gegensatz zum Kommunistischen Manifest und zu allem
früheren Sozialismus, die Arbeiterbewegung vom engsten nationalen
Standpunkt gefasst. Man folgt ihm darin – und dies nach dem Wirken der
Internationalen!
Es versteht sich ganz von
selbst, dass, um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei
sich zu Haus organisieren muss als Klasse, und dass das Inland der
unmittelbare Schauplatz ihres Kampfs. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht
dem Inhalt, sondern, wie das Kommunistische Manifest
sagt, "der Form nach“ national. Aber der "Rahmen des heutigen nationalen
Staats“, z.B. des Deutschen Reichs, steht selbst wieder ökonomisch "im
Rahmen des Weltmarkts“, politisch "im Rahmen des Staatensystems“. Der
erste beste Kaufmann weiß, dass der deutsche Handel zugleich ausländischer
Handel ist, und die Größe des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner
11)
Art internationaler Politik.
Und worauf reduziert die
deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewusstsein,
dass das Ergebnis ihres Strebens "die internationale
Völkerverbrüderung sein wird“ – eine dem bürgerlichen Freiheits- und
Friedensbund
3*)
entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die
internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen
Kampf gegen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen. Von
internationalen Funktionen der deutschen Arbeiterklasse also kein
Wort! Und so soll sie ihrer eignen, mit den Bourgeois aller andern Länder
bereits gegen sie verbrüderten Bourgeoisie und Herrn Bismarcks
internationaler Verschwörungspolitik das Paroli bieten!
In der Tat steht das
internationale Bekenntnis des Programms noch unendlich tief unter
dem der Freihandelspartei. Auch sie behauptet, das Ergebnis ihres Strebens
sei "die internationale Völkerverbrüderung“. Sie tut aber auch
etwas, um den Handel international zu machen, und begnügt sich keineswegs
bei dem Bewusstsein – dass alle Völker bei sich zu Haus Handel treiben.
Die internationale
Tätigkeit der Arbeiterklassen hängt in keiner Art von der Existenz der
"Internationalen Arbeiterassoziation“ ab. Diese war nur der erste
Versuch, jener Tätigkeit ein Zentralorgan zu schaffen; ein Versuch, der
durch den Anstoß, welchen er gab, von bleibendem Erfolg, aber in
seiner ersten historischen Form nach dem Fall der Pariser Kommune
nicht länger durchführbar war.
Bismarcks
Norddeutsche war vollständig im Recht, wenn sie zur Zufriedenheit
ihres Meisters verkündete, die deutsche Arbeiterpartei habe in dem neuen
Programm dem Internationalismus abgeschworen.
4*)
II
"Von diesen
Grundsätzen ausgehend, erstrebt die deutsche Arbeiterpartei mit allen
gesetzlichen Mitteln den freien Staat – und – die
sozialistische Gesellschaft; die Aufhebung des Lohnsystems mit
dem ehernen Lohngesetz – und – der Ausbeutung in jeder Gestalt;
die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.“
Auf den "freien
Staat“ komme ich später zurück.
Also in Zukunft hat die
deutsche Arbeiterpartei an Lassalles "ehernes Lohngesetz“ zu glauben!
Damit es nicht verloren geht, begeht man den Unsinn, von "Aufhebung des
Lohnsystems“ (sollte heißen: System der Lohnarbeit) "mit dem
ehernen Lohngesetz“ zu sprechen. Hebe ich die Lohnarbeit auf, so hebe ich
natürlich auch ihre Gesetze auf, seien sie "ehern“ oder schwammig. Aber
Lassalles Bekämpfung der Lohnarbeit dreht sich fast nur um dies sog.
Gesetz. Um daher zu beweisen, dass die Lassallesche Sekte gesiegt hat,
muss das "Lohnsystem mit dem ehernen Lohngesetz“ aufgehoben
werden und nicht ohne dasselbe.
Von dem "ehernen
Lohngesetz“ gehört Lassalle bekanntlich nichts als das den Goetheschen
"ewigen, ehernen, großen Gesetzen“ entlehnte Wort "ehern“. Das Wort
ehern ist eine Signatur, woran sich die Rechtgläubigen erkennen.
Nehme ich aber das Gesetz mit Lassalles Stempel und daher in seinem Sinn,
so muss ich es auch mit seiner Begründung nehmen. Und was ist sie? Wie
Lange schon kurz nach Lassalles Tod zeigte: die (von Lange selbst
gepredigte) Malthussche Bevölkerungstheorie.
5*)
Ist diese aber richtig, so kann ich wieder das Gesetz nicht
aufheben, und wenn ich hundertmal die Lohnarbeit aufhebe, weil das Gesetz
dann nicht nur das System der Lohnarbeit, sondern jedes
gesellschaftliche System beherrscht. Grade hierauf fußend, haben seit
fünfzig Jahren und länger die Ökonomisten bewiesen, dass der Sozialismus
das naturbegründete Elend nicht aufheben, sondern nur
verallgemeinern, gleichzeitig über die ganze Oberfläche der
Gesellschaft verteilen könne!
Aber all das ist nicht die
Hauptsache. Ganz abgesehen von der falschen
Lassalleschen Fassung des Gesetzes, besteht der wahrhaft empörende
Rückschritt darin:
Seit Lassalles Tode hat
sich die wissenschaftliche Einsicht in unsrer Partei Bahn
gebrochen, dass der Arbeitslohn nicht das ist, was er zu sein
scheint, nämlich der Wert respektive Preis der Arbeit,
sondern nur eine maskierte Form für den Wert resp. Preis der
Arbeitskraft. Damit war die ganze bisherige bürgerliche Auffassung
des Arbeitslohnes sowie die ganze bisher gegen selbe gerichtete Kritik ein
für allemal über den Haufen geworfen und klargestellt, dass der
Lohnarbeiter nur die Erlaubnis hat, für sein eignes Leben zu arbeiten,
d.h. zu leben, soweit er gewisse Zeit umsonst für den
Kapitalisten (daher auch für dessen Mitzehrer am Mehrwert) arbeitet; dass
das ganze kapitalistische Produktionssystem sich darum dreht, diese
Gratisarbeit zu verlängern durch Ausdehnung des Arbeitstages oder durch
Entwicklung der Produktivität,
12)
größere Spannung der Arbeitskraft etc.; dass also das System der
Lohnarbeit ein System der Sklaverei, und zwar einer Sklaverei ist, die im
selben Maß härter wird, wie sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte
der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere
Zahlung empfange. Und nachdem diese Einsicht unter unsrer Partei sich mehr
und mehr Bahn gebrochen, kehrt man zu Lassalles Dogmen zurück, obgleich
man nun wissen musste, dass Lassalle nicht wusste, was der
Arbeitslohn war, sondern, im Gefolg der bürgerlichen Ökonomen, den Schein
für das Wesen der Sache nahm. Es ist, als ob unter Sklaven, die endlich
hinter das Geheimnis der Sklaverei gekommen und in Rebellion ausgebrochen,
ein in veralteten Vorstellungen befangener Sklave auf das Programm der
Rebellion schriebe: Die Sklaverei muss abgeschafft werden, weil die
Beköstigung der Sklaven im System der Sklaverei ein gewisses niedriges
Maximum nicht überschreiten kann! Die bloße Tatsache, dass die Vertreter
unsrer Partei fähig waren, ein so ungeheuerliches Attentat auf die in der
Parteimasse verbreitete Einsicht zu begehn – beweist sie nicht allein, mit
welchem <frevelhaften> Leichtsinn, <mit welcher Gewissenlosigkeit> sie bei
der Abfassung des Kompromissprogramms zu Werke gingen!
Anstatt der unbestimmten
Schlussphrase des Paragraphen, "die Beseitigung aller sozialen und
politischen Ungleichheit“, war zu sagen, dass mit der Abschaffung der
Klassenunterschiede von selbst alle aus ihnen entspringende soziale und
politische Ungleichheit verschwindet.
III
"Die deutsche
Arbeiterpartei verlangt, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen,
die Errichtung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der
demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volks. Die
Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in
solchem Umfang ins Leben zu rufen, dass aus ihnen die
sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht.“
Nach dem
Lassalleschen "ehernen Lohngesetz“ das Heilmittel des Propheten! Es wird
in würdiger Weise "angebahnt“! An die Stelle des existierenden
Klassenkampfes tritt eine Zeitungsschreiberphrase – "die soziale
Frage“, deren "Lösung“ man "anbahnt“. Statt aus dem
revolutionären Umwandlungsprozesse der Gesellschaft "entsteht“ die
"sozialistische Organisation der Gesamtarbeit“ aus der "Staatshilfe“, die
der Staat Produktivgenossenschaften gibt, die er, nicht der
Arbeiter, "ins Leben ruft“. Es ist dies würdig der Einbildung
Lassalles, dass man mit Staatsanleihen ebenso gut eine neue Gesellschaft
bauen kann wie eine neue Eisenbahn!
Aus <einem Rest von> Scham
stellt man "die Staatshilfe“ – "unter die demokratische Kontrolle des
arbeitenden Volks“.
Erstens besteht "das
arbeitende Volk“ in Deutschland zur Majorität aus Bauern und nicht aus
Proletariern.
Zweitens heißt
"demokratisch“ zu deutsch "volksherrschaftlich“. Was heißt aber "die
volksherrschaftliche Kontrolle des arbeitenden Volkes“? Und nun gar bei
einem Arbeitervolk, das durch diese Forderungen, die es an den Staat
stellt, sein volles Bewusstsein ausspricht, dass es weder an der
Herrschaft ist, noch zur Herrschaft reif ist!
Auf die Kritik des von
Buchez unter Louis-Philippe im Gegensatz gegen die französischen
Sozialisten verschriebnen und von den reaktionären Arbeitern des
Atelier
6*) angenommenen Rezepts ist es überflüssig, hier
einzugehn. Es liegt auch der Hauptanstoß nicht darin, dass man diese
spezifische Wunderkur ins Programm geschrieben, sondern dass man überhaupt
vom Standpunkt der Klassenbewegung zu dem der Sektenbewegung zurückgeht.
dass die Arbeiter die
Bedingungen der genossenschaftlichen Produktion auf sozialem und zunächst
bei sich, also [auf] nationalem Maßstab herstellen wollen, heißt nur, dass
sie an der Umwälzung der jetzigen Produktionsbedingungen arbeiten, und hat
nichts gemein mit der Stiftung von Kooperativgesellschaften mit
Staatshilfe! Was aber die jetzigen Kooperativgesellschaften betrifft, so
haben sie nur Wert, soweit sie unabhängige, weder von den
Regierungen noch von den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungen sind.
[IV]
Ich komme jetzt
zum demokratischen Abschnitt.
A.
"Freiheitliche Grundlage des Staats.“
Zunächst nach
II erstrebt die deutsche Arbeiterpartei "den freien Staat“.
Freier Staat – was ist das?
Es ist keineswegs Zweck der
Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat
"frei“ zu machen. Im Deutschen Reich ist der "Staat“ fast so "frei“ als in
Russland. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft
übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln,
und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin
sie die "Freiheit des Staats“ beschränken.
Die deutsche Arbeiterpartei
– wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht – zeigt, wie ihr
die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt
die bestehende Gesellschaft (und das gilt von jeder künftigen) als
Grundlage des bestehenden Staats (oder künftigen, für
künftige Gesellschaft) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein
selbständiges Wesen behandelt, das seine eignen "geistigen,
sittlichen, freiheitlichen Grundlagen“ besitzt.
Und nun gar der wüste
Missbrauch, den das Programm mit den Worten "heutiger Staat“,
"heutige Gesellschaft“ treibt, und den noch wüsteren Missverstand,
den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet!
Die "heutige Gesellschaft“
ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern
existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder
weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes
modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der "heutige Staat“
wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußisch-deutschen
Reich als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten
Staaten. "Der heutige Staat“ ist also eine Fiktion.
Jedoch haben die
verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten
Formverschiedenheit, alle das gemein, dass sie auf dem Boden der modernen
bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch
entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein.
In diesem Sinn kann man von "heutigem Staatswesen“ sprechen, im Gegensatz
zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft,
abgestorben ist.
Es fragt sich dann: Welche
Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesellschaft
untergehn
13)? In andern Worten, welche gesellschaftliche
Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind?
Diese Frage ist nur wissenschaftlich zu beantworten, und man kommt dem
Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Worts Volk mit dem Wort
Staat auch nicht um einen Flohsprung näher.
Zwischen der
kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode
der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch
eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als
die revolutionäre Diktatur des Proletariats.
Das Programm nun hat es
weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der
kommunistischen Gesellschaft.
Seine politischen
Forderungen enthalten nichts, außer der aller Welt bekannten
demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung,
Volksrecht, Volkswehr etc. Sie sind bloßes Echo der bürgerlichen
Volkspartei, des Friedens- und Freiheitsbundes. Es sind lauter
Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben,
bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem sie angehören,
nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze, sondern in der Schweiz, den
Vereinigten Staaten etc. Diese Sorte "Zukunftsstaat“ ist heutiger
Staat, obgleich außerhalb "des Rahmens“ des Deutschen Reichs
existierend.
Aber man hat eins
vergessen. Da die deutsche Arbeiterpartei ausdrücklich erklärt, sich
innerhalb "des heutigen nationalen Staats“, also ihres Staats, des
preußisch-deutschen Reichs, zu bewegen – ihre Forderungen wären ja sonst
auch großenteils sinnlos, da man nur fordert, was man noch
14)
nicht hat –, so durfte sie die Hauptsache nicht vergessen, nämlich dass
alle jene schönen Sächelchen auf der Anerkennung der sog.
Volkssouveränität beruhn, dass sie daher nur in einer demokratischen
Republik am Platze sind.
Da man nicht den Mut hat
15)
– und weislich, denn die Verhältnisse gebieten Vorsicht –, die
demokratische Republik zu verlangen, wie es die französischen
Arbeiterprogramme unter Louis-Philippe und unter Louis-Napoleon taten – so
hätte man auch nicht zu der <weder "ehrlichen“ noch würdigen> Finte
flüchten sollen, Dinge, die nur in einer demokratischen Republik Sinn
haben, von einem Staat zu verlangen, der nichts andres als ein mit
parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und
zugleich
169 schon von der Bourgeoisie beeinflusster,
bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist,
«und diesem Staat obendrein noch zu beteuern, dass man ihm dergleichen
"mit gesetzlichen Mitteln aufdringen zu können wähnt!»
Selbst die vulgäre
Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich
sieht und keine Ahnung davon hat, dass grade in dieser letzten Staatsform
der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist
– selbst sie steht noch berghoch über solcherart Demokratentum innerhalb
der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten.
dass man in der Tat unter
"Staat“ die Regierungsmaschine versteht oder den Staat, soweit er einen
durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen
Organismus bildet, zeigen schon die Worte: "Die deutsche Arbeiterpartei
verlangt als wirtschaftliche Grundlage des Staats: eine einzige
progressive Einkommensteuer etc.“ Die Steuern sind die wirtschaftliche
Grundlage der Regierungsmaschinerie und von sonst nichts. In dem in der
Schweiz existierenden Zukunftsstaat ist diese Forderung ziemlich erfüllt.
Einkommensteuer setzt die verschiednen Einkommensquellen der verschiednen
gesellschaftlichen Klassen voraus, also die kapitalistische Gesellschaft.
Es ist also nichts Auffälliges, dass die Financial Reformers von Liverpool
– Bourgeois mit Gladstones Bruder an der Spitze – dieselbe Forderung
stellen wie das Programm.
B. "Die
deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des
Staats:
1. Allgemeine
und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine
Schulpflicht. Unentgeltlichen Unterricht.“
Gleiche Volkserziehung?
Was bildet man sich unter diesen Worten ein? Glaubt man, dass in der
heutigen Gesellschaft (und man hat nur mit der zu tun) die Erziehung für
alle Klassen gleich sein kann? Oder verlangt man, dass auch die
höheren Klassen zwangsweise auf das Modikum Erziehung – der Volksschule –
reduziert werden sollen, das allein mit den ökonomischen Verhältnissen
nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch der Bauern verträglich ist?
"Allgemeine Schulpflicht.
Unentgeltlicher Unterricht.“ Die erste existiert in Deutschland, das
zweite in der Schweiz [und] den Vereinigten Staaten für Volksschulen. Wenn
in einigen Staaten der letzteren auch "höhere“ Unterrichtsanstalten
"unentgeltlich“ sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre
Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel bestreiten. Nebenbei
gilt dasselbe von der unter A. 5 verlangten "unentgeltlichen
Rechtspflege“. Die Kriminaljustiz ist überall unentgeltlich zu haben; die
Ziviljustiz dreht sich fast nur um Eigentumskonflikte, berührt also fast
nur die besitzenden Klassen. Sollen sie auf Kosten des Volkssäckels ihre
Prozesse führen?
Der Paragraph über die
Schulen hätte wenigstens technische Schulen (theoretische und praktische)
in Verbindung mit der Volksschule verlangen sollen.
Ganz verwerflich ist eine
"Volkserziehung durch den Staat“. Durch ein allgemeines Gesetz
die Mittel der Volksschulen bestimmen, die Qualifizierung des
Lehrerpersonals, die Unterrichtszweige etc., und, wie es in den
Vereinigten Staaten geschieht, durch Staatsinspektoren die Erfüllung
dieser gesetzlichen Vorschriften überwachen, ist etwas ganz andres, als
den Staat zum Volkserzieher zu ernennen! Vielmehr sind Regierung und
Kirche gleichmäßig von jedem Einfluss auf die Schule auszuschließen. Im
preußisch-deutschen Reich nun gar (und man helfe sich nicht mit der faulen
Ausflucht, dass man von einem "Zukunftsstaat“ spricht; wir haben gesehn,
welche Bewandtnis es damit hat) bedarf umgekehrt der Staat einer sehr
rauhen Erziehung durch das Volk.
Doch das ganze Programm,
trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom
Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was
nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein
Kompromiss zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen,
Wunderglauben.
"Freiheit der
Wissenschaft“ lautet ein Paragraph der preußischen Verfassung. Warum
also hier?
"Gewissensfreiheit“!
Wollte man zu dieser Zeit des Kulturkampfes
7)
dem Liberalismus seine alten Stichworte zu Gemüt führen, so konnte es
doch nur in dieser Form geschehen: Jeder muss seine religiöse wie seine
leibliche Notdurft
17) verrichten können, ohne dass die
Polizei ihre Nase hineinsteckt. Aber die Arbeiterpartei musste doch bei
dieser Gelegenheit ihr Bewusstsein darüber aussprechen, dass die
bürgerliche "Gewissensfreiheit“ nichts ist außer der Duldung aller
möglichen Sorten religiöser Gewissensfreiheit, und dass sie
vielmehr die Gewissen vom religiösen Spuk zu befreien strebt. Man beliebt
aber das "bürgerliche“ Niveau nicht zu überschreiten.
Ich bin jetzt zu Ende
gelangt, denn der nun im Programm folgende Anhang bildet keinen
charakteristischen Bestandteil desselben. Ich habe mich daher hier
ganz kurz zu fassen.
"2.
Normalarbeitstag.“
Die
Arbeiterpartei keines andern Landes hat sich auf solch unbestimmte
Forderung beschränkt, sondern stets die Länge des Arbeitstags fixiert, die
sie unter den gegebnen Umständen für normal hält.
"3.
Beschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit.“
Die Normierung
des Arbeitstags muss die Beschränkung der Frauenarbeit schon einschließen,
soweit sie sich auf Dauer, Pausen etc. des Arbeitstags bezieht; sonst kann
sie nur Ausschluss der Frauenarbeit aus Arbeitszweigen bedeuten, die
speziell gesundheitswidrig für den weiblichen Körper oder die für das
weibliche Geschlecht sittenwidrig sind. Meinte man das, so musste es
gesagt werden.
"Verbot der
Kinderarbeit“! Hier war absolut nötig, die Altersgrenze
anzugeben.
Allgemeines Verbot
der Kinderarbeit ist unverträglich mit der Existenz der großen Industrie
und daher leerer frommer Wunsch.
Durchführung desselben –
wenn möglich – wäre reaktionär, da, bei strenger Regelung der Arbeitszeit
nach den verschiednen Altersstufen und sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum
Schutz der Kinder, frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit
Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen
Gesellschaft ist.
"4. Staatliche
Überwachung der Fabrik-, Werkstatt- und Hausindustrie.“
Gegenüber dem
preußisch-deutschen Staat war bestimmt zu verlangen, dass die Inspektoren
nur gerichtlich absetzbar sind; dass jeder Arbeiter sie wegen
Pflichtverletzung den Gerichten denunzieren kann; dass sie dem ärztlichen
Stand angehören müssen.
"5. Regelung
der Gefängnisarbeit.“
Kleinliche
Forderung in einem allgemeinen Arbeiterprogramm. Jedenfalls musste man
klar aussprechen, dass man aus Konkurrenzneid die gemeinen Verbrecher
nicht wie Vieh behandelt wissen und ihnen namentlich ihr einziges
Besserungsmittel, produktive Arbeit, nicht abschneiden will. Das war doch
das Geringste, was man von Sozialisten erwarten durfte.
"6. Ein
wirksames Haftgesetz.“
Es war zu
sagen, was man unter "wirksamem“ Haftgesetz versteht.
Nebenbei bemerkt, hat man
beim Normalarbeitstag den Teil der Fabrikgesetzgebung übersehn, der
Gesundheitsmaßregeln und Schutzmittel gegen Gefahr etc. betrifft. Das
Haftgesetz tritt erst in Wirkung, sobald diese Vorschriften verletzt
werden.
<Kurz, auch dieser Anhang
zeichnet sich durch schlottrige Redaktion aus.> Dixi et salvavi animam
meam. |Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet.|
(verfasst von April bis
Anfang Mai 1875; erstmals veröffentlicht in: "Die Neue Zeit", Nr. 18, 1.
Band, 1890 - 1891)
Textvarianten
1. (1891) Und
2. (1891) mit
3. (1891) Verfechtern
4. (1891) Privateigentum
5. (1891) gesellschaftlichen
6. (1891) einen
7. (1891) fehlt: direkt
8. (1891) fehlt: der Arbeiter
9. (1891) fehlt: vielmehr
10. (1891) die Produktionskräfte
11. (1891) einer
12. (1891) eingefügt: resp.
13. (1891) erleiden
14. (1891) fehlt: noch
15. (1891) Da man nicht in der Lage
ist
16. (1891) fehlt: und zugleich
17. (1891) seine religiösen ...
Bedürfnisse
Erläuterungen
1*. Internationales Statut
– Die "Allgemeinen Statuten und Verwaltungs-Verordnungen der
Internationalen Arbeiterassoziation“, wurden 1866 auf dem Genfer Kongress
der Internationale angenommen. Im September und im Oktober 1871 bereiteten
Marx und Engels eine Neuausgabe vor. Dabei wurden alle Bestimmungen, die
nicht mehr gültig waren, gestrichen, vorgenommene Änderungen wurden im
Anhang begründet. Die deutsche Ausgabe erschien 1871 in Leipzig.
2*. Berliner Marat –
ironische Anspielung auf Wilhelm Hasselmann, Chefredakteur des
Organs des Lassalleanischen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (Neuer
Sozial-Demokrat), neben Wilhelm Liebknecht Mitverfasser des
Programmentwurfs
3*. Friedens- und Freiheitliga
– bürgerlich-pazifistische Organisation; 1867 in der Schweiz von
Republikanern sowie Liberalen unter maßgeblicher Beteiligung von Victor
Hugo, Giuseppe Garibaldi u.a. gegründet;. 1867/68 nahm Bakunin an der
Arbeit der Liga teil. Anfangs versuchte die Liga, unter dem Einfluss von
Bakunin, die Internationale und die Arbeiterbewegung für ihre Zwecke
auszunutzen. Die Liga propagiert u. a., dass durch die Schaffung von
"Vereinigten Staaten von Europa“ mit Kriegen Schluss gemacht werden
könnte..
4*. Bismarcks
Norddeutsche – Norddeutsche Allgemeine Zeitung
– Tageszeitung, die von 1861 bis 1918 in Berlin erschien; in den sechziger
bis achtziger Jahren offizielles Organ der Regierung Bismarcks.
Marx bezieht
sich auf den Leitartikel, den die Norddeutsche Allgemeine Zeitung
in der Nr.67 vom 20. März 1875 zum sozialdemokratischen Programmentwurf
schrieb und in dem es zu Punkt 5 hieß: "die sozialdemokratische Agitation
ist in mancher Hinsicht behutsamer geworden; sie verleugnet die
Internationale ...“
5*. Friedrich Albert Lange,
Die Arbeiterfrage in ihrer Bedeutung für Gegenwart und Zukunft,
Duisburg 1865.
6*. L’Atelier
– französische Monatsschrift, die von 1840 bis 1850 in Paris erschien;
Organ von Handwerkern und Arbeitern, die unter dem Einfluss des
christlichen Sozialismus standen. Die Zeitung wurde von Arbeitervertretern
redigiert; ihren Redaktionsstab wählte man alle drei Monate neu.
7*. Kulturkampf – "... der
Kampf, den Bismarck in den siebziger Jahren durch polizeiliche Verfolgung
des Katholizismus gegen die deutschen Partei der Katholiken, die
Zentrumspartei, führte.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.10.2023