Heutzutage wird die Geschichte des •
Deutschen Kaiserreichs häufig im
Kontext der verschiedenen Wege in die westliche Moderne gesehen. Im
Zentrum stehen die unterschiedlichen Wege zum »Nationalstaat
in Europa. Dies war langer Prozess, der sich in unterschiedlichen
Regionen auf der Grundlage unterschiedlicher Ausgangsbedingungen bis
1918 hingezogen hat und dabei sehr verschiedene Wege eingeschlagen
hat.
Im Rahmen der
europäischen Nationalstaatsbildung gehört die Entstehung des
Nationalstaates in Deutschland neben Italien und Griechenland zu den
Staaten, die man als junge
Nationalstaaten bezeichnet, da sie sich erst ab Mitte des 19.
Jahrhunderts auf Grund ihrer besonderen Ausgangsbedingungen dahin
entwickelten. Die Entwicklung in Mitteleuropa unterschied sich dabei
von der im Westen und Norden sowie im Osten des Kontinents, die
andere Wege zum Nationalstaat beschritten haben.
In den sog.
alten Nationalstaaten
Westeuropas (Frankreich, Spanien, Großbritannien, Portugal,
Belgien, Niederlande, Schweden, Norwegen, Dänemark und Schweiz)
entwickelte sich der Nationalstaat schon lange vor 1800 in einem
eindeutig umgrenzten Territorium. Diese "alten" Nationalstaaten
ersetzten im Zuge ihrer Entwicklung die monarchische Souveränität
durch das Prinzip der »Volkssouveränität.
(Transformierender
Nationalismus) Die entscheidende Triebkraft dieser Entwicklung
war die Französische Revolution von 1789 und die Auswirkungen der
Eroberungskriege Napoleons bzw. , aus anderer Perspektive, die
Befreiungskriege gegen die napoleonische Vorherrschaft in Europa. Im
nördlichen und westlichen Europa entstanden dabei vielfach
konstitutionelle Monarchien, die sich auch auf ein starkes Bürgertum
stützen konnten, um auf dem Weg zur politischen Modernisierung
voranzuschreiten.
In Mitteleuropa,
vor allem im Deutschen Reich, aber auch in Italien, vollzog sich die
Nationalstaatsbildung erheblich komplizierter. Hier waren die
maßgeblichen politischen Kräfte in unterschiedlichen
Herrschaftsverbänden lange nur sehr zögerlich bereit, einen
Nationalstaat zu erreichen. Der
unifzierende Nationalismus in Mitteleuropa sollte im Zuge der
Nationalstaatsentwicklung also Herrschaftsverbände zusammenbringen,
die sich als unabhängige und souveräne Staaten verstanden und als
solche agierten. Dementsprechend konnte sich auch die
Nationalbewegung nicht wie in den westlichen und nördlichen Staaten
Europas auf schon vorhandene (gesamt-)staatliche Strukturen und
Traditionen stützen, sondern verstand sich in Ermangelung dessen
meistens als Sprach- und Kulturgemeinschaft ("»Kulturnation").
Die deutsche und die italienische Nationalbewegung wollte daher, die
in viele kleinere staatliche Einheiten organisierte "Nation" zu
einem Nationalstaat vereinen. Zugleich zielte sie darauf, ein nach
dem Muster der »Französischen
Revolution gestaltetes politisches System zu verwirklichen, das
eine freiheitliche Ordnung im Innern, u. U. auch die Demokratie
verwirklichen sollte. Allerdings waren die nationale und politische
Fragen nicht die einzigen Probleme, die in dieser Zeit gleichzeitig
angegangen werden mussten. Die mit der »Industrialisierung
ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sich verschärfende "»Soziale
Frage", deren Lösung die aufkommende Arbeiterbewegung dringlich
forderte, führte letzten Endes auch dazu, dass der Fokus der auf
Modernisierung zielenden gesellschaftlichen Kräfte eben nicht allein
auf die Einheits- und Freiheitsfrage gelegt werden konnte. Insgesamt
führte die sich überlagernden Probleme dazu, dass der politische
Modernisierungsprozess in den unter solchen Umständen neu
gegründeten Nationalstaaten in Mitteleuropa (Italien 1861/70) und im
Deutschen Reich (1871) im Vergleich zu anderen Staaten um Jahrzehnte
langsamer vollzog.
In
Osteuropa dauerte der Weg zum
Nationalstaat am längsten und musste die meisten Schwierigkeiten
überwinden. Um dahin zu gelangen, mussten sich die neuen
Nationalstaaten in längeren Kämpfen aus den Imperien in Osteuropa (»Österreich-Ungarn,
»Russland
und dem »Osmanischen
Reich) befreien und diese Abspaltung (Sezession) behaupten (Sezessionistischer
Nationalismus). Polen gelang dies lange nicht, seine Versuche
wurden von Russland, Österreich-Ungarn und Preußen (»Polnischer
Aufstand 1863) niedergeschlagen. Polen wird erst 1918 ein
Nationalstaat. Rumänien, Serbien, Bulgarien und Montenegro schafften
es hingegen sich gegen das schwächelnde Osmanische Reich 1878
durchzusetzen. Da die neuen Nationalstaaten aber wie die Imperien,
von denen sie sich abspalteten, selbst multiethnische Gebilde (»"Vielvölkerstaaten")
waren, ging auch hier die Modernisierung nur schleppend voran. In
den neuen Nationalstaaten schlug man im Umgang mit der nationalen
Heterogenität der Bevölkerung dabei einen anderen Weg ein als die
Imperien, aus denen sie hervorgegangen waren. Während diese nämlich
die multikulturellen Strukturen jahrhundertelang geduldet hatten,
wollten die neuen Nationalstaaten diesen ein Ende setzen. Mit
Vertreibungen, in Bürgerkriegen und mit ihrem ausgeprägten
Antisemitismus taten sie alles dafür, um ihren Nationalstaat »"ethnisch
zu säubern", also eine homogene nationale Bevölkerung zu
erzwingen. Nicht zuletzt in diesen "ethnischen Konflikten" dürfte
begründet liegen, dass autoritäre und diktatorische Regime, die sich
diesen Zielen verpflichteten und sie umsetzten, so große
Unterstützung gefunden haben. Modernisierungsprozesse, die auch
darauf beruhen, dass Kompromisse geschlossen und immer wieder ein
Ausgleich zwischen den Interessen verschiedener gesellschaftlicher
und politischer Gruppen stattfindet, hatten im Rahmen solcher
Konfliktlinien lange keine Chance.
Der Reichsnationalismus nach der Reichsgründung 1871
Nach der »Reichsgründung
1871 wurden die alten partikularstaatlichen
Identifikationsmuster durch einen neuartigen, übergreifenden »Reichsnationalismus
ergänzt. Dazu konnte zuallererst das Kaisertum dienen und die
Narrative, die sich um die militärischen Erfolge in den
Reichsgründungskriegen rankten sowie die Person des "Reichsgründers"
»Otto
von Bismarck (1815-1898). Die preußische Vorrangstellung im
Reich führte zu einer "ausgesprochen protestantische(n) Prägung, die
dem neuen Nationalstaat einen geradezu heiligen Charakter verleihen
konnte." (Kruse
2012), die selbst Mythen aus dem frühen Mittelalter (z. B.
Hermann den Cherusker) nutzte, um den Reichsnationalismus sakral zu
überhöhen.
Von zentraler
Bedeutung waren aber auch liberale Vorstellungen von nationaler
Freiheit und Selbstbestimmung, die auf den nationalliberalen
Einfluss bei Reichsgründung und Verfassungsgebung zurückgingen. In
deren Mittelpunkt stand allerdings von Anfang an der Gedanke an
"Freiheit von äußerer Fremdbestimmung" sowie "der sinnstiftende
Bezug auf die deutsche Kulturnation, wie er in Denkmälern für
Schiller und Goethe seinen klassischen Ausdruck fand. Deutschtum
erschien als eine höherwertige sittliche Kultur, überlegen nicht nur
slawischer *Unkultur', sondern auch der als oberflächlich
abqualifizierten, westlichen Zivilisation. Die Idee der Reichsnation
verband sich schließlich mit Vorstellungen von einem positiven
historisch-politischen Sonderweg Preußen-Deutschlands, wie sie von
vielen Historikern propagiert wurden. Dieser deutsche Sonderweg
hatte zum einen, anders als in Osteuropa, eine hochmoderne Staats-
und Gesellschaftsordnung hervorgebracht, die zum andern aber, anders
als im Westen, nicht von revolutionärem Umsturz und demokratischer
Selbstregierung geprägt war, sondern von der Führung der Nation
durch den starken Staat der preußischen Militärmonarchie." (ebd.)
Die nationalistische Reichsbegeisterung hatte dabei aber auch
stets eine verschwörungstheoretische Komponente, die äußere (z. B.
den französischen "Erbfeind") und innere »Reichsfeinde
(nationale Minderheiten wie Dänen, Franzosen, Litauer, Masuren,
Polen, aber auch alle politischen Gegner der offiziellen
Reichspolitik) bestimmte, "gegen die sich die Nation
zusammenschließen und verteidigen müsse." Vor allem die
Sozialdemokraten wurden mit den
»Sozialistengesetzen
(1878-1890) als "varterlandslose Gesellen" diffamiert und damit
aus der deutschen Nation ausgegrenzt. Aber auch vor antisemitischen
Diskriminierungen machte der Reichsnationalismus nicht halt und
drang mehr und mehr in das politische Denken und Bewusstsein auch
der gebildeten und gehobenen Schichten ein. Dabei waren es vor allem
auch die Studenten und die studentischen Burschenschaften, unter
denen sich der Antisemitismus schnell verbreitete. In der der
Folgezeit verband er sich "zunehmend mit einer völkischen Konzeption
des Nationalismus, die auf die biologische Reinheit des deutschen
Herrenvolkes zielte." (ebd.)
In der wilhelminischen Phase des Kaiserreichs kamen es zu einer
weiteren Radikalisierung des Reichsnationalismus. Da waren zunächst
einmal die imperialistischen Ziele des Reiches, die dem Reich neben
den anderen imperialistischen Großmächten den ihm vermeintlich
zustehenden "Platz an der Sonne" mit einem entsprechenden Anteil an
der kolonialen Aufteilung der Welt bringen sollte. Die zusehends
aggressive "Weltpolitik", die daraus resultierte, wurde dabei "von
neuen, bürgerlich geprägten Agitationsverbänden angetrieben, die die
monarchische Regierung von rechts propagandistisch unter Druck zu
setzen versuchten und dabei einen radikalen Nationalismus
entwickelten." (ebd.)
Solche Verbände waren z. B. die 1887 gegründete »Deutsche
Kolonialgesellschaft, der »Deutsche
Ostmarkenverein(1894), der »Deutsche
Flottenverein (1898), der »Reichsverband
gegen die Sozialdemokratie (1904) und der »Deutsche
Wehrverein (1912). Der »Alldeutsche
Verband tat sich dabei bereits seit 1891 hervor, indem er "einen
besonders radikalen, pangermanisch-völkischen Nationalismus" vertrat
und außer einer expansionistischen Außenpolitik auch darauf
hinarbeitete, eine Schaffung homogene, national, politisch und
rassisch einheitliche »Volksgemeinschaft
mit präfaschistischem Charakter zu schaffen. Die Welt sollte am "»deutschen
Wesen genesen", wie der Lyriker
»Emanuel
Geibel (1815-1884) im Schlussvers seines Gedichts
Deutschlands Beruf (1861) so ähnlich ausdrückte, und
dementsprechend hielten mehr und mehr »sozialdarwinistisch
begründete Vorstellungen von der kulturellen und rassischen
Unterlegenheit der kolonialisierten Völker, der slawischen Völker
Einzug in das politische Denken.
Der radikale nationalistische Ton und die rassistischen Ziele
dieser Interessengruppen fanden allerdings nicht überall Anklang.
Vor allem die Sozialdemokraten entwickelten ganz andere
Vorstellungen von der Nation, die auf einen Patriotismus gründeten,
für den die nationale Souveränität nach außen und die
Volkssouveränität im Inneren sowie die internationale Verständigung
die elementaren Grundpfeiler darstellten.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.10.2023
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