Genossen!
Die Internationale fordert gemäß den Kongressbeschlüssen von Stuttgart,
Kopenhagen und Basel die sozialistischen Parteien auf, bei dem Ausbruch
eines Krieges für dessen schnelle Beendigung einzutreten.
Dementsprechend hat die Opposition in der deutschen Sozialdemokratie
sich stets der Parole des Durchhaltens bis zum Siege widersetzt und
stets von der Regierung verlangt, dass sie ihre Friedensbereitschaft
bekennt. Die Opposition hat ihre Friedenspropaganda nicht erst mit dem
Moment begonnen, wo eine solche von der Regierung gutgeheißen wurde.
Was die Opposition fordert, war nicht die Bereitschaft zum Frieden um
jeden Preis, aber auch nicht die bloße Bereitschaft zu einem Frieden an
sich ohne jede nähere Angabe seiner Bedingungen. Was sie fordert, war
die Bereitschaft zu einem Frieden, in dem es weder Sieger noch Besiegte
gibt, zu einem Frieden der Verständigung ohne Vergewaltigung.
Die Opposition innerhalb der deutschen Sozialdemokratie betrachtet die
Friedensbereitschaft, die der Reichskanzler am 12. Dezember v. J.
kundgab, als Symptom aufkeimenden Friedenswunsches in den regierenden
Kreisen. Sie kann aber die Art der Ankündigung dieser Bereitschaft nicht
als taugliches Mittel zur Erreichung des Friedenszieles anerkennen.
Der Reichskanzler proklamierte das Deutsche Reich als Sieger im
Weltkriege. Und doch erschwert das Pochen auf erfochtene Siege den
Friedensschluss ebenso sehr, wie die Ankündigung kommender Siege. Ferner
unterließ der Reichskanzler jede genaue Darlegung der Kriegsziele. Keine
der beiden Mächtegruppierungen hat bisher Kriegsziele erkennen lassen,
die der anderen Seite das Eingehen auf Verhandlungen erleichtern. Diese
verhängnisvolle Unterlassung ist eine Folge der Macht, welche die
Kriegsparteien in den herrschenden Klassen noch besitzen. Deren Einfluss
muss gebrochen werden, ehe wir zum Frieden kommen können. Das ist nicht
zu erreichen durch diplomatische Transaktionen hinter den Kulissen,
sondern nur durch die Einwirkung der Volksmassen auf ihre Regierungen.
Nur aus diesem politischen Kampf, nicht aus dem Burgfrieden, kann die
wirkliche Friedensbereitschaft hervorgehen. Sie erheischt die Aufhebung
des Kriegszustandes, erheischt die Freiheit der Presse und
Versammlungen.
Aber auch nur als internationaler Kampf ist das Ringen um den Frieden zu
gewinnen. Es darf nicht einseitig bleiben. Mehr als je bedürfen wir in
der neuen Situation, die durch das Friedensangebot des Reichskanzlers
und die Intervention Wilsons geschaffen worden ist, des internationalen
Zusammenhanges der Parteien des proletarischen Sozialismus, der
berufenen Vorkämpfer des Friedens. […]
Wir halten dafür, dass in allen kriegführenden Ländern für die
sozialistischen Parteien die Zeit gekommen ist, von ihren Regierungen
eindringlich die genaue Mitteilung der Ziele zu fordern, für die sie den
Krieg führen; zu fordern, dass diese Ziele derart sind, dass sie für
keines der betreffenden Völker eine Demütigung oder eine Schädigung
ihrer Existenzbedingungen bedeuten, dass die Sozialisten überall den
Kampf gegen alle Parteien aufnehmen, die den Krieg über diese Ziele
hinaus fortsetzen wollen.
Als demokratische und internationale Partei steht die Sozialdemokratie
auf dem Boden des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Aber die
Opposition innerhalb der deutschen Sozialdemokratie hat zu keiner der
bürgerlichen Regierungen genügendes Vertrauen, um einer von ihnen die
Mission der Befreiung der Nationalitäten durch den Krieg zuzuerkennen.
Diese Aufgabe allseitig zu lösen, kann nur das Werk des siegreichen
Proletariats sein.
Doch stehen wir der Freiheit und Selbstbestimmung der Nationen in der
bürgerlichen Gesellschaft keineswegs gleichgültig gegenüber. Wir müssen
uns entschieden dagegen wehren, dass der Zustand, wie er vor dem Kriege
bestand, durch diesen noch verschlechtert wird. Wir lehnen jede
Gebietsveränderung ab, die nicht die Zustimmung der betroffenen
Bevölkerung hat. Was die Internationale vor allem gemäß den Beschlüssen
ihrer Kongresse zu fordern hat, sind internationale Abkommen über die
Entscheidung aller Konflikte zwischen den Staaten durch Schiedsgerichte
und über eine allseitige Einschränkung der Kriegsrüstungen.
Im Wettrüsten liegt eine der stärksten Wurzeln des jetzigen Krieges. Sie
auszurotten, ist die erste Vorbedingung dafür, künftigen Kriegen
vorzubeugen. Hier ist die Möglichkeit vorhanden, über den Status quo vor
dem Kriege hinauszugehen, einen Fortschritt zu erzielen für alle, ohne
Benachteiligung irgendeines der kriegführenden Teile. Hier wird in
besserer Form an materiellen Vorteilen das gegeben, was man vergeblich
durch Kriegsentschädigungen zu erreichen sucht: jede Milliarde im Jahre,
die durch eine Verminderung der Rüstungskosten erspart wird, entspricht
der Verzinsung einer Kriegsentschädigung von 20 Milliarden.
Mit dem Abkommen über Abrüstung und Schiedsgerichte wird auch das
Maximum an materiellen Garantien gegen künftige Überfälle gegeben, das
in der kapitalistischen Gesellschaft durch bestimmte Friedensbedingungen
überhaupt erreichbar ist.
Den sichersten Schutzwall des Friedens bildet freilich nur ein politisch
machtvolles, geistig selbständiges Proletariat, bildet dessen
intensivste Teilnahme an der äußeren Politik, die im vollsten Lichte der
Öffentlichkeit zu führen ist.
Macht und Selbständigkeit des Proletariats, Offenheit und Klarheit in
der Politik, Einheit im Innern, internationale Solidarität nach außen
bringen den Frieden, sichern den Frieden.
(aus:
Michaelis/Schraepler, Ursachen und Folgen, Bd. 1, S.300-302)
*Die
Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft war ein Zusammenschluss
oppositioneller SPD-Abgeordneter, die sich frühzeitig gegen die
Burgfriedenspolitik der Mehrheitspartei aussprechen. Sie bildet den Keim
der 1918 gegründeten
Unabhängigen Sozialistischen Partei Deutschlands (USPD).
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.12.2024