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▪ Sozialdisziplinierung als Mittel der
Staatsentwicklung
▪
Überblick
▪
Aspekte der Sozialdisziplinierung (Oestreich/Schulze)
▪
Christliche Sexualmoral,
Sexualstrafrecht und Policey-Ordnungen in der frühen Neuzeit »
▪
Die Entwicklung sozial
konstruierter Scham in der frühen Neuzeit und im Barock
▪
Überblick
▪
Vorrücken der Scham- und
Peinlichkeitsschwellen
▪
Nacktheit auf dem Rückzug
Wihelm Rudeck (1873-1913), ein deutschsprachiger Autor und Arzt
veröffentlichte neben mehreren Büchern über das Verhältnis von
Medizin und Recht populäre Sachbücher zum deutschen Sittenleben,
darunter eine "Geschichte
der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland" (1897, 2. Aufl.1905).
Darin befasst er sich in seinem dritten Kapitel auch mit der
Kleidermode und dabei besonders mit der Mode des Dekolltierens im der ▪ frühen Neuzeit
(1350-1789).
»Nachdem das ganze
Mittelalter hindurch die Frauen Brust und Schultern verhüllt und nr
den Hals unbedeckt gelassen hatten, kam im 14. Jahrhundert, also in
der Zeit des Bürgertums, Mode auf, sich zu dekolletiieren. Bereits
in der Mitte des Jahrhunderts trugen die Frauen den Ausschnitt so
tief, daß man die halben Brüste sah. Und um die Weiße des Nackens
und Rückens zur vollen Geltung zu bringen, wurden die wallenden
Locken, wie sie bis dahin getragen worden waren, hochgebunden.
Vergebens
versuchten die Behörden dieser Mode entgegenzuwirken und umsonst
bemühten sie sich vorzuschreiben, wie tief der Ausschnitt sein und
wieviel Fingerbreit das Kleid auf den Achseln liegen sollte. Die
Mode ward gegen Ende des 14. Jahrhunderts dadurch noch anstößiger,
daß die Taille hoch unter den Busen hinaufrückte. So wurde die Fülle
des Busens noch verstärkt und unverhüllter als vorher getragen. In
diese zeit fällt die Schilderung, die Hus in dem 18. Kapitel seiner
"Historia et monumenta" von den Frauenkleidern entwirft: " Die
Weiber trugen und tragen ihre Kleider oben an der Halsöffnung so
ausgeschnitten und weit, daß beinahe bis an die Hälfte der
entblößten Brüste überall jeder ihre leuchtende Haut offen erblicken
kann, in den Tempeln des Herrn vor den Priestern und Geistlichen,
ebenso wie auf dem Markte, aber noch viel mehr im Hause, und was
noch von der übrigen Brust bedeckt war, das ist, wie schon vorher
gesagt wurde, so hervorstehend künstlich vergrößert und
hervorgeschoben, daß es fast wie zwei Hörner an der Brust
erscheint."
Die Mode der hohen
Taille herrschte noch das ganze fünfzehnte Jahrhundert hindurch. In
demselben nahm auch die Entblößung ständig zu. Waren zu allen Zeiten
die Arme bis zum Handgelenk völlig bedeckt gewesen, so kam jetzt die
Mode der bloßen Arme auf. Der Dichter des Kittel erzählt in vollster
Entrüstung, die Hauptlöcher seien so weit, daß die Achsel
herausfliege und man unter dem Arm die Gruben sähe; die Brüste
würden aufgeschürzt, daß man wohl einen Lichtstock darauf setzen
könne. [...] Der Ausschnitt reicht vorn bis unter die Brust und
hinten bis fast auf den Gürtel.
Die Chronisten,
Dichter und Prediger jener Zeit sind voll Entrüstung über die
Dekolletierung und geben ihren Gefühlen oft energischen Ausdruck. So
sagte der 1481 verstorbene Augustiner Gottschalk Hollen zu Osnabrück
über die Frauentracht: "So ist es gleichfalls gefährlich mir dem
Feinde zu kämpfen, der ein Schwert aus der Scheide gezogen, aber
viel gefährlicher ist es, wenn er viele gezogen, d. h. den Mantel
ablegt, daß der Busen bis zu den Brüsten sichtbar wird, dann reizen
sie die Männer um so mehr zur Unzucht." Noch am Ende des
Jahrhunderts bricht Sebastian Brand in die Wort aus:
"Pfui Schand
der deutschen Nation!
Was die Natur verdeckt will ha'n,
Daß man das blößt und sehen läßt."
In den Görlitzer
Staturen 1460 wurde verordnet: "Item sollen Frauen und Jungfrauen
ihre Röcke, Mäntel und alle andere Kleidung bis an den Hals machen
lassen und vorn ganz zuknöpfen und ihr leinen Gewand Gewand darunter
bedecken und verbergen." [...]
In Nürnberg
verordnete der Rat am Ende des 15. Jahrhunderts, daß die Weiber vorn
am Goller nicht tiefer als einen Querfinger breit unter dem
Knorrlein am Halse, hinten eine halbe Viertelelle tiefer
ausgeschnitten sein sollen.
In der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts ging in der Tat auch die Dekolletierung
zurück, aber nicht infolge der behördlichen Verordnungen oder dank
dem Einfluß der Reformation. Die Ursache war vielmehr eine ganz
andere Bewegung der Mode. Seitdem die Männer sich von der
widernatürlich engen Kleidung befreiten, strebt auch das Frauenkleid
dahin, sich aller Fesseln und Hindernisse zu entledigen und
naturgemäßer zu gehen. Die Taille sank von ihrer Höhe dicht unter
den Brüsten herab an die ihr von Natur gegebene Stelle. Und als die
Mode des Ausschlitzens und Unterlegens anderen Stoffes den
allgemeinen Sieg davongetragen hatte, wurde auch der Brustausschnitt
von dieser Bewegung ergriffen. Die Brust wurde nicht mehr entblößt
wie früher, sondern mit einem besonderen Einsatz oder Bruststück
bedeckt, der getreu seinem Ursprung anders gefärbt als das Kleid
sein mußte.
Nach diesem
entscheidenden Schritt wuchs auch das Leibchen immer höher, und bald
drängte sich der Kragen des Leibchens bis unter das Kinn. So waren
um die Mitte des 16. Jahrhunderts die Frauen überall verhüllt: die
Moralisten hatten nichts mehr zu tadeln. Überall begegnen wir dem
Lob der Ehrbarkeit der Frau. [...]
Nur die große
Festkleidung, die Balltoillette behielt die Dekolletierung.
Im 17. Jahrhundert
wich die völlige Verhüllung wieder der Dekolletierung. Der
Ausschnitt ließ die Achseln mehr oder weniger bedeckt und senkte
sich vor der Brust in einer Spitze oder Rundung herunter, so daß
nicht selten die Hälfte der Brust entblößt wurde. Später ging der
Ausschnitt in eine Höhe um Schultern, Rücken und Brust.
Um 1670 ward auch
der Unterarm wieder bloß getragen.
Die Dekolletierung
ergriff immer weitere Kreise, und so kam es, daß abermals aufs
heftigste gegen sie geeifert wurde. So schrieb Caselius einen
"Zuchtspiegel, das ist Nothwendige und sehr wohlgemeinte Erinnerung
an das Chirst= und Ehrliebende Frawenzimmer in Deutschland" und
klagte hier, daß viele Frauen aus lauter Uebermut und Ueppigkeit
"ihre Hälse, Schultern und Brüste entblößen oder dieselben nur mit
einem subtilen und gantz durchsichtigen Flor bedecken" und daß "auch
arme Mägde, zweiffels ihne aus lauter böser Begierde und Mann=sucht,
sich unterfangen, also einher zu treten." Im Jahre 1689 erschien die
Schrift; Der gedoppelte Blasebalg der üppigen Wollust, nemlich die
erhöhete Fontange und die bloße Brust, mit welchem das alamodische
und die Eitelkeit liebende Frauenzimmer in ihrem eigenen und vieler
unvorsichtigen Mann-Personen sich darin vergaffenden Herzen ein
Feuer der verbotenen Liebes-Brunst angezündet, so hernach zu einer
hellleuchtenden Flamme einer bitteren Unlust ausschlägt.
Jedermänniglich, absonderlich dem Tugend und Ehrbarkeit liebenden
Frauenzimmer zu guter Warnung und kluger Vorsichtigkeit vorgestellet
und zum Druck befördert durch Ernestum Gottlieb, bürtig von
Beron." [...]

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Im 18. Jahrhundert
gewann die Dekolletierung noch neue Seiten. Vor der Mitte der
siebziger Jahre rückte der gerade Halsausschnitt so tief herab, daß
eine auch nur mäßige Bedeckung des Oberkörpers hinreichte, die Brust
nahezu gänzlich bloß zu legen. In den achtziger Jahren kamen sogar
von England her in Deutschland Busengestelle, in den
neunziger
Jahren falsche Busen auf. "Die Damen haben", heißt es in dem Journal
des Luxus, "die Sitte, durch wäscherne Anlangen ihren Armen Füllung
und Rundung zu geben, auf etwas noch Substanzielleres angewandt, und
sich statt der Busen, wenn die Natur die versagte, künstliche
Stellvertreter von Wachs zugelegt, die so künstlich angepaßt und
eingerichtet sind, daß Argus selbst mit allen seinen hundert Augen
den kleinen, unschuldigen Betrug nicht bemerkt haben würde, wenn
nicht ein unbescheidener Plauderer, der die neue Erfindung bei den
Busenfabrikaten ausgekundschaftet hatte, durch eine öffentliche
Bekanntmachung zum Verräter geworden wäre." Ja, selbst die
natürlichen Busen kamen jetzt in Verdacht, falsch zu sein, so
kunstvoll war Farbe und Geäder nachgeahmt. Da hatte die Spottlust
selbstverständlich einen reichen und dankbaren Stoff. [..6
Noch tollere Orgien
feierte die Dekolletierung in den griechischen Kostümen der
Revolutionsepoche. Ein gleichzeitiger Berichterstatter schrieb:
"Besuchen Sie einmal das Konzert im Theater de la rue Feydeau, und
Sie werden von der Menge der Juwelen und Gold geblendet werden,
womit die Damen bedeckt sind. Betrachten Sie diese brillanten
Geschöpfe näher, und Sie werden leicht bemerken, daß sie entweder
gar keine oder nur halbe Hemden tragen. Der ganze Arm, der halb
Nacken, die ganze Brust ist bloß. Verschiedene haben ihren dünnen
Florrock noch auf jeder Seite hinaufgeschützt, so daß sie auch noch
die schöne Wade sehen sollen; kurz, die Inzedenz der Trachten dieser
Impossibĺes ist unbeschreiblich. [...]"
Diese
Pariser Kostüme à la greque
fanden in Deutschland bald die vollste Nachahmung.«
(aus:
Rudeck, 2. Aufl. 1905, S. 77-85)

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Nacktheit auf dem Rückzug
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
06.12.2024