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Strukturwandel in Deutschland

Ländliches Alltagsleben in vorindustrieller Zeit

 
 
 

Die agrarisch-handwerkliche vorindustrielle Welt stellt keine heile Welt dar, auch wenn sie als „gute alte Zeit“ oftmals romantisch verklärt wird. Und natürlich gab es auch in vorindustrieller Zeit viel Negatives und Problematisches, das uns auch heute noch in gleicher oder in anderer Form begegnet.
Allerdings ist das damalige Leben in Alltag und Beruf von unserem modernen Leben so verschieden, dass ein kurzer, notgedrungen oft sehr allgemein gehaltener Rückblick auf das Leben in einer von der Landwirtschaft geprägten Gesellschaft hilfreich ist. So erschließen sich dem Betrachter im Vergleich von gestern und heute nicht nur viele Veränderungen, sondern er gewinnt auch eine Vorstellung von der ungeheuren Dynamik, die sämtliche Lebensbereiche der Menschen seit Beginn der Industrialisierung erfasst hat. Diese Dynamik, die den Menschen, dem Staat und der Gesellschaft immer wieder neue Herausforderungen stellt, hält dabei bis heute in einem unverminderten, vielleicht sogar noch beschleunigten Strukturwandel an.
In den 51 Staaten Europas leben heute (2015) 738.442 Menschen. Die Russische Föderation hat davon alleine über 143 Mio. Einwohner, von denen aber nur etwa 65% im europäischen Teil des Landes wohnen. (vgl. United Nations Department of Economic und Social Affairs/Population Division, World Population Prospects: The 2015 Division) Im Vergleich bevölkerten Mitte des 18. Jahrhunderts nur 140 Millionen Menschen Europa.(vgl. Rübberdt 1972, S.1ff.) Der Bevölkerungsanstieg, der seitdem stattgefunden hat, wird etwa um 2020 herum einem stetigen Rückgang weichen, so dass bedingt durch den demografischen Wandel bis 2100 voraussichtlich nur noch ca. 645 Millionen Menschen in Europa leben werden. (vgl. World Population Prospects: The 2015 Division, ebd.)
In vorindustrieller Zeit lebten nicht nur sehr viel weniger Menschen in Europa, auch die Bevölkerungsentwicklung zeigte ab 1750 allmählich nach oben, weil die Lebenserwartung der Menschen aufgrund besserer medizinischer Versorgung und besserer Ernährungslage zunahm. Noch im 17. Jahrhundert hatte ein neugeborenes Kind, vor allem wegen der immens hohen Kindersterblichkeit, gerade mal die (statistische) Aussicht auf 30 Lebensjahre, wenn nicht Kriege, Missernten, Naturkatastrophen und Seuchen seinem Leben schon vorher ein Ende setzten. (vgl. Bolte/Kappe/Schmid 1980, S.45ff.) Aber selbst wenn die Lebenserwartung der Menschen allmählich stieg, konnten 1875 Männer bei der Geburt nur ungefähr 35 Jahre, Frauen bei Geburt 38 Jahre – statistisch gesehen – erwarten. (vgl. Hradil 2012)
Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Lebensmittelpunkt der Menschen in vielen Teilen Europas auf dem Lande. Für ganz Europa schätzt man die Zahl derer, die von landwirtschaftlicher Tätigkeit und vom ländlichen Kleingewerbe lebten, auf ca. 90 Prozent. (vgl. Rübberdt 1972, ebd.) In Deutschland waren 1780 von den 10 Millionen Beschäftigten insgesamt noch mehr als 3/5 aller Beschäftigten (65%) im Agrarsektor (Primärsektor) tätig. (vgl.Henning, 1973, S.20) Und im Zuge des allgemeinen Bevölkerungswachstums stieg die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft in den nächsten 135 Jahren sogar noch um 65% an. Allerdings konnte dieses Wachstum nicht mit dem Schritt halten, welche der Industriesektor (Sekundärsektor) und der Dienstleistungssektor (Tertiärsektor) im gleichen Zeitraum verzeichneten. Gemessen an der Gesamtzahl der Beschäftigten ging der Anteil der Menschen, die von der Landwirtschaft lebten, aber immer mehr zurück (ökonomischer Wandel).
Die Bauern auf dem Lande wirtschafteten so wie es seit Generationen üblich war. Die Landwirtschaft war extensiv und wurde mit den meist hölzernen Geräten verrichtet, die man schon seit jeher dafür verwendete. Eiserne Gerätschaften gab es noch vergleichsweise wenige und, wenn überhaupt, waren sie für einen normalen Bauern kaum erschwinglich. In vielen Gebieten Europas gab es auch noch keinen Kartoffelanbau und die letzte Hungersnot erlebte ganz Europa im Jahr 1816/17, der noch eine Typhus- Cholera-Epidemie auf dem Fuß folgte. (vgl. Sieder/Langthaler 2010, S.768)
Zu alledem wurde in vorindustrieller Zeit noch viel weniger Ackerfläche bewirtschaftet. Überall gab es noch Öd- und Brachland, große Moore, Heide und dichte Wälder. In vielen Dörfern gab es noch gemeinsam genutzte Weiden, die noch nicht in Flurstücke für die einzelnen Bauern aufgeteilt waren. Und von Stacheldrahteinfriedungen war weit und breit noch nichts zu sehen. (vgl. Rübberdt 1972, ebd.) Auf dem Lande lebten drei, manchmal sogar vier Generationen unter einem Dach (Mehrgenerationenfamilie, Große Haushaltsfamilie) zusammen. Jeder, der einem solchen Haushalt angehörte, ob zur bäuerlichen Familie gehörig oder, je nach Wohlstand, zum weiteren Gesinde (Knechte, Mägde, Tagelöhner), musste nach Kräften anpacken und so zum Lebensunterhalt aller beitragen. Die Kinder der Bauern, mehr als sechs waren eher die Regel als die Ausnahme, konnten mancherorts die ein- oder zweiklassigen, nach Konfessionen getrennten Dorfschulen besuchen, die als Elementarschulen im 18. Jahrhundert – und das beileibe nicht in allen Gegenden Deutschlands – allmählich entstanden. (vgl. Wehler 1987, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S.476) ) Oft mussten diese aber vom Staat gegen den Widerstand von Bauern und bäuerlichen Gutsherren durchgesetzt werden, da diese meinten, dass Bauernkinder nichts zu lernen bräuchten und die allerorts verbreitete Kinderarbeit darunter leiden würde. (vgl. Konrad 2007, S.65) Selbst die Bildungsreformen in Preußen Anfang des 19. Jahrhunderts zielten mit ihrem humanistischen Bildungsideal und dem Vorrang der Allgemeinbildung vor beruflicher Bildung vor allem auf die Gymnasien und die Universitäten in den Städten. Auf dem weiten Lande, wo die Mehrheit der Menschen lebte, tat sich im Schulwesen vorerst noch nichts. (vgl. Nipperdey 1983/1987, S.116) Was man in Landschulen den Kindern meist nur während der Wintermonate beibrachte, waren ganz elementare Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen. Vor allem aber sollten die Kinder später einmal ihrer Obrigkeit gegenüber treue Untertanen werden. So war der vordringlichste Auftrag für die meist kaum für ihren Beruf qualifizierten Dorfschullehrer, die Kinder mit Bibel und Katechismus zu einem Weltverständnis zu führen, das an der vermeintlich von Gott so eingerichteten Ordnung keine Zweifel aufkommen lassen sollte. Und auch die Väter, welche die die Geschicke der bäuerlichen Familie patriarchalisch-autoritär bestimmten, sorgten dafür, dass sich die Erziehung der Kinder neben der Erziehung zum rechten Glauben darauf ausrichtete, möglichst früh auf dem Hof mitzuarbeiten. Eine Kindheit, wie wir sie heute als besonders geschützte Lebensphase kennen, gab es nicht. Dementsprechend waren die meisten Menschen - und das beileibe nicht nur auf dem Land - Analphabeten, die weder rechnen, noch schreiben konnten. Was die Religionen lehrten, wurde angenommen und der Platz, an den man sich hingestellt sah, um sein Leben zu leben, wurde als gottgegeben hingenommen.
Die Versorgung der Alten wurde auf den Bauernhöfen durch das sogenannte Altenteil geregelt, mit dem sie sich bestimmte Leistungen von ihrem Nachfolger auf dem Hof ausgedungen hatten. Alte genossen ein hohes Ansehen und man zollte ihnen, als den Personen, welche die Traditionen und die (mündliche) Geschichte überlieferten, Respekt. Aber: Auch auf dem Land zeigten sich erste Tendenzen zur Konzentration auf die Kernfamilie, nicht selten bedingt wegen der Realteilung der Höfe im Erbfall. Damit einher gingen natürlich auch Änderungen im sozialen Gefüge des „Ganzen Hauses“, z. B. die Trennung von Herr und Gesinde bei den größeren Bauern. (vgl. ebd.)
In einer Zeit, in der die Sozialversicherung für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit noch in weiter Ferne lag, mussten die bäuerliche Großfamilie und die Dorfgemeinschaft dafür sorgen, dass man nicht unter die Räder geriet. Aus diesem Grunde „hatte auch der geistesschwache Krüppel, der kranke und alte Mensch seinen selbstverständlichen Platz, bis er eines Tages die Augen schloss.“ (Rübberdt 1972, ebd.) Das Leben auf dem Land war geprägt von schwerer körperlicher Arbeit. Im Grunde wurde fast alles, was man zum Leben benötigte auf den Bauernhöfen hergestellt: „Es wurde nicht nur gebacken und geschlachtet, geräuchert und gepökelt, gebuttert und geschneidert, sondern auch getischlert und gezimmert; es wurden Lichter gezogen und wurde Seife gekocht.“ (ebd.) So verstand man sich oft auf ganz verschiedene hauswirtschaftliche, bäuerliche und handwerkliche Tätigkeiten, so dass es jedenfalls keine Monotonie beim Arbeiten gab. Dabei hatte sich an der Art und Weise, wie das geschah, gegenüber früheren Jahrhunderten noch wenig geändert. Man folgte beim Arbeiten einem Rhythmus, der noch vom natürlichen Tages- und Jahresablauf bestimmt war. Die Arbeitszeit richtete sich nach den Aufgaben, welche zu einer bestimmten Tages- oder Jahreszeit zu verrichten waren und Phasen einer hohen Arbeitsbeanspruchung wechselten mit Zeiten der Muße. Ein Leben im Müßiggang war undenkbar und Urlaub noch nicht einmal angedacht. Im Grunde blieb man sein Leben lang da, wo man geboren und aufgewachsen war, und kam demzufolge, ohne damit zu hadern, auch nicht über diesen engen Lebenskreis hinaus. Reisen ist in vorindustrieller Zeit noch ein Privileg der Adeligen und gebildeter und zugleich wohlhabender Bürger. Sie waren die Fernreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts. Die finanziell sehr aufwändige Grandtour oder Kavalierstour, bei der man fremde Länder und Sitten kennenlernen wollte, gehörte schon seit dem 16. Jahrhundert zur Ausbildung junger adeliger Herren, später auch wohlhabender Bürgersöhne. Sie konnte durchaus mehrere Jahre dauern, zumal oft schon allein der dafür vorgesehene Italienaufenthalt ein ganzes Jahr in Anspruch nahm.16 Die Kavalierstour der Reichen und Mächtigen wurde danach zum Vorbild für Künstler und Gelehrte, die es zum Teil in die ganze Welt hinauszog, um Forschungen zu treiben. Wer sonst noch unterwegs war, reiste als Kaufmann, Händler, als Diplomat, Pilger oder Soldat, als Handwerksgeselle, Auswanderer oder Kurier durch die Lande. Und dazu kamen noch die Menschen, die auch schon früher aus der Gesellschaft ausgegrenzt waren, nämlich Vaganten, Hausierer, Gaukler, Bettler, Spielleute oder Zigeuner.17 Dabei war das Reisen angesichts einer nur sehr dürftigen Infrastruktur mehr als nur beschwerlich, sondern dazu auch noch gefährlich. Man reiste auf dem Landweg je nach Stand und Vermögen zu Fuß, ritt auf einem Pferd oder nutzte einen eigenen oder gemieteten Leiter- oder Planwagen, um an sein Reiseziel zu gelangen. Auf den wenigen und meistens sehr schlechten Straßen, die es im Land gab, benötigte man viel Zeit und Geduld, wenn man hinkommen wollte, wo man Besuche oder Geschäfte machen wollte. Wer durch die zahlreichen Kleinstaaten des Deutschen Reiches reisen wollte, konnte dies aber schon, allerdings mit großen regionalen Unterschieden, mit Postkutschen tun, die einen mehr oder weniger regelmäßigen Fahrplanbetrieb anboten. (vgl. Knoll 2006, S.33,35,37) Gelegentlich traf man dabei auf den großen Verbindungsstraßen zwischen Lübeck, Hamburg, Bremen, Münster und Köln auch auf größere Herden, die zur Fleischverwertung in die Städte getrieben wurden. (vgl. Ziesow 1991, S.60) Das Transportwesen war noch völlig unterentwickelt und im Wesentlichen auf die Binnenschifffahrt beschränkt.
Aber neben der geografischen war auch die soziale Mobilität sehr eingeschränkt. So wie man in aller Regel sein Leben in seinem Geburtsort lebte, so lebte man es auch, mehr oder weniger klaglos, in der sozialen Stellung und dem sozialen Umfeld, in das man hineingeboren worden war. Ein gesellschaftlicher Aufstieg aufgrund von Leistung war so gut wie ausgeschlossen. Dafür sorgte auch die Familie selbst, denn im Allgemeinen lernte der Sohn den Beruf des Vaters. Die gesellschaftliche Hierarchie wurde als gottgewollt und gottgegeben hingenommen und die soziale Stellung der adeligen, großbürgerlichen oder religiösen Machteliten, von vereinzelten kleineren oder größeren (Hunger-)Revolten in Mangelkrisen abgesehen, im Grunde nicht in Frage gestellt. Auf dem Lande stellte das Dorf den „Brennpunkt bäuerlicher Existenz“ (Wehler 1987, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S.159) dar. Hier gab es keine Privatsphäre, wie wir sie heute kennen, denn nach außen hin ist die Bauernfamilie offen und dem Blick der Nachbarn und des Pfarrers ausgesetzt, und in ein Gefüge gegenseitiger sozialer Kontrolle eingepasst. (vgl. Nipperdey 1983/1987, S.116)
Mit seinen engen nachbarschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen – isoliert lebende Einzelhöfe waren eher die Ausnahme – und trotz seiner vielfältigen Beziehungen zum adeligen Grund- und Gutsbesitzer bildete es wie „durch unsichtbare Wände“ von diesem getrennt eine eigene Lebenssphäre mit ihrer eigenen sozialen Ungleichheit. (vgl. Wehler 1987, ebd. S.159) So zog sich auch durch das Dorf „die dreifache Scheidelinie zwischen den Bauern, den unterbäuerlichen Kleinbesitzern und den landlosen Arbeitskräften“ (ebd.), die auch auf dem Land in einer Vielfalt konventioneller und nichtkonventioneller nichtehelicher Lebensformen lebten, wie man sie sonst nur der Gegenwart zuschreibt. (vgl. Schneider 1995) Trotzdem war die Ehe in Stadt und Land „eine fraglose Selbstverständlichkeit des Lebens“ und blieb auch für die Frauen und Männer, die ungewollt oder wegen herrschender Heiratsverbote unverheiratet blieben, ein starker Bezugspunkt der Lebensplanung. Dabei ging es aber kaum um romantische Liebe oder individuelle Zuneigung der möglichen Ehepartner, sondern bei der Auswahl der Partner, die seit dem späteren 18. Jahrhundert nicht mehr nur von den Eltern vorgenommen wurde, standen „praktische Tüchtigkeit, Besitz, Versorgung“ und „Miteinander-Auskommen-Können“ ganz oben. (vgl. Nipperdey 1983/1987, S.116) (vgl. auch: →Das Liebes- und Lebenskonzept der bürgerlichen Ehe) Und selbst die Bauern, die um 1800 herum sich in der Minderheit gegenüber der Mehrheit von Landlosen und Landarmen befanden (vgl. Wehler 1987, ebd. S.335), „unterschieden sich sowohl voneinander als auch in ihrem Verhältnis zur adeligen und staatlichen Obrigkeit durch Größe und Qualität ihres Landbesitzes, die Natur ihrer Besitzrechte und die Eigenart ihrer persönlichen Rechtsstellung.“(ebd. S.159) So war das soziale Leben auf dem Land eben keine Idylle und die dörfliche Gemeinschaft als Ganzes zeigte aufgrund der wachsenden sozialen Differenzierung erste Risse.“ (ebd. S.335) Und doch scheint am Vorabend der industriellen Revolution trotz mancher innerdörflicher Spannungen noch ein „Zugehörigkeitsgefühl“ zur dörflichen Gemeinschaft als Ganzes geherrscht zu haben, das „die Trennlinien der sozialen Schichtung (überspannte).“  (vgl. Nipperdey 1983/1987, S.175)
Natürlich gab es neben den Dörfern auch viele Städte, von denen die meisten aber nur Kleinstädte mit weniger als 2.000 Einwohnern waren. (vgl.Henning, 1973, S.31) 
Die mit der Industrialisierung verbundene Verstädterung (Urbanisierung) steckte noch in den Anfängen. Und auch in Europa gab außer London, Paris, und weit dahinter Berlin und Wien, noch kaum Großstädte. Und auch wenn sich städtisches Leben und das städtische Sozialgefüge von dem auf dem Land unterschieden: „Wie bei der bäuerlichen Bevölkerung waren auch bei Handwerkern und Kaufleuten Privathaushalt und Betrieb nicht getrennt, sondern unter einem Dach. Bürger und Bauern lebten in demütiger Bescheidenheit. Reich waren nur ein Teil des grundbesitzenden hohen Adels und einige Handelsherren.“ (Rübberdt 1972, ebd.)

 

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 24.12.2015

 
     
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