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Baustein: Welche Stellung haben Kinder, Eltern
und Staat im elterlichen Sorgerecht?
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Textauswahl: Inhaltsangabe diskontinuierlicher Sachtext
Wenn das Jugendamt den Eltern ihr Kind "wegnimmt"
Die
Jugendämter spielen bei der Ausübung des
Wächteramts (GG Art.6, Abs. 2)) durch den Staat bei der
elterlichen Sorge eine zentrale Rolle. Sie beraten und unterstützen Eltern
bei der Erziehung ihrer Kinder, schreiten aber auch ein, wenn Eltern ihr
Recht und ihre Pflicht, für die eigenen Kinder zu sorgen, missbrauchen,
kurzum: wenn das Wohl des Kindes ernsthaft gefährdet ist.
Insofern üben die
Jugendämter im Rahmen des staatlichen Wächteramts auch eine Kontrolle über die Eltern aus. Sieht es das Kindeswohl ernsthaft gefährdet,
kann es Kinder aus seiner Familie nehmen und bei Pflegeltern oder in einem
Heim unterbringen. Dieser Vorgang, Inobhutnahme
genannt, ist ein äußerst schwerwiegender Eingriff in die Rechte der Eltern
und in seinen Auswirkungen auf die betroffenen Kinder nicht immer klar
abzuschätzen. So notwendig in den meisten Fällen auch die Trennung der
Kinder von den Eltern sein mag, der Anstieg der Inobhutnahmen binnen
einer Zehnjahresfrist von ehemals 25.000 auf inzwischen 50.000 Obhutskinder
pro Jahr gibt inzwischen nicht nur Fachleuten zu denken. (vgl. In fremden
Händen [Sechs Leidensgeschichten], Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 50 v.
11.12.2015)
Die Inobhutnahme ist als vorläufige Aufnahme und Unterbringung eines Kindes
oder Jugendlichen in einer Notsituation durch das Jugendamt angelegt und
stellt eine Entscheidung in einem Verwaltungsakt dar, für den das jeweilige
Jugendamt zuständig ist. (§
42 SGB VIII)
Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und
Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I
S. 1163)
§ 42 Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen
(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder
einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn
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1. das Kind
oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
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eine
dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des
Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und
a) die
Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder
b) eine
familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig
eingeholt werden kann oder
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ein
ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher
unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder
Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland
aufhalten.
Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen
Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten
Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig
unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nummer 2 auch ein Kind oder
einen Jugendlichen von einer anderen Person wegzunehmen.
(2) Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme die Situation,
die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem
Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und
Unterstützung aufzuzeigen. Dem Kind oder dem Jugendlichen ist
unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines Vertrauens
zu benachrichtigen. Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme
für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen und
dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe
sicherzustellen; § 39 Absatz 4 Satz 2 gilt entsprechend. Das
Jugendamt ist während der Inobhutnahme berechtigt, alle
Rechtshandlungen vorzunehmen, die zum Wohl des Kindes oder
Jugendlichen notwendig sind; der mutmaßliche Wille der
Personensorge- oder der Erziehungsberechtigten ist dabei
angemessen zu berücksichtigen.
(2) ... |
Wer kommt unter die Fittiche des Jugendamts?
Nach Mitteilung des Statistischen Bundesamts haben die Jugendämter im
Jahr 2014 48.059 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Meistens, so die Daten für 2013, waren nach Angaben der Ämter überforderte
Eltern oder Elternteile (40% aller 2013 in Obhut Genommenen) dafür
verantwortlich. Im gleichen Jahr hat die Zahl der Minderjährigen, die
aufgrund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland in Obhut genommen
wurden stark zugenommen. Aktuelle Zahlen angesichts der Flüchtlingskrise
2015 liegen z. Zt. aus dem Statistischen Bundesamt noch nicht vor.
Der Bundesfachverband
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) schätzt, "dass in diesem Jahr
bereits über 30.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland
gekommen sind und damit schon mehr als doppelt soviele wie im Jahr
2014.Damit dürften sich mehr als 45.000 unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge in Deutschland befinden, von denen die meisten einen Anspruch
auf Leistungen der Jugendhilfe haben. Hinzu kommen weitere 6.500 junge
Volljährige, die gegenwärtig Leistungen der Jugendhilfe erhalten." (PM
des BumF e.V. vom 20.11.2015)" Stimmen diese Zahlen, und davon wird man
wohl auszugehen haben, dann hat sich die Anzahl der Minderjährigen, die
zwischen 2013 und 2015 unbegleitet aus dem Ausland nach Deutschland gekommen
sind, um nahezu das Achtfache
erhöht, was angesichts des Flüchtlingsstromes in dieser Zeit nicht
verwundert. Dass die Minderjährigen, die unbegleitet nach Deutschland
kommen, nur vorgeschickt würden, um ihre Familien nachzuholen, ist dagegen
eine Behauptung, die der Wirklichkeit nicht standhält. Denn wie der BumF
feststellt, wird der Familiennachzug von Eltern zu ihren unbegleiteten
minderjährigen Kindern heute sehr restriktiv ausgelegt, ein Massenphänomen,
wie man immer wieder glauben machen wolle, sei dies überhaupt nicht. Nur ein
kleiner Teil der ca. 45.000 betroffenen Kinder und Jugendlichen hätten eine
realistische Chance, ihre Eltern nachzuholen. (vgl.
PM des BumF v. 24.11.2015)
Die Gründe für die Inobhutnahme von Flüchtlingskindern sind untrennbar mit
ihrem Flüchtlingsschicksal verbunden. Sie werden daher wegen dringender
Gefahr in Obhut genommen.
Wenn
Kinder und Jugendliche in Obhut genommen werden und von ihren Eltern durch
das Jugendamt getrennt werden, geht dies entweder auf die Minderjährigen
selbst zurück, die das Jugendamt bitten, sie aus ihren Familien
herauszuholen. Weitaus häufiger ist aber, dass
Dritte der Polizei, Betreuern, Lehrern etc. solche Fälle melden und diese
von diesen ggf. weitergeleitet werden. Es gibt auch spezielle Anlaufstellen
(Kinder- und Jugendnotdienste), die von etlichen Jugendämtern eingerichtet
worden sind, an die sich Betroffene wenden können.
Angesichts der stark steigenden Zahl von Inobhutnahmen, die nicht mit der
aktuellen Flüchtlingskrise in Zusammenhang gebracht werden können, streiten
sich die Experten über die Ursachen dafür. Manche, wie der
Erziehungswissenschaftler Reinhard Wiesner von der Freien Universität Berlin
meinen, dass heute einfach, auch von der Bevölkerung, genauer hingesehen
werde und es dadurch einfach zu mehr Meldungen von Problemfällen komme (T-online,
24.02.15)
Jugendämter geraten mit ihrer Praxis bei der
Inobhutnahme in die Kritik
Dabei steht der Vorwurf im Raum, dass die Jugendämter mit zu wenig und vor
allem auch mit nicht ausreichend qualifiziertem Personal versorgt sind, um
solche Entscheidungen ohne vorige richterliche Überprüfung und Anordnung zu
treffen.
So werden aus Sicht der Kritiker wohl immer wieder Inobhutnahmen
verfügt, die das Kindeswohl nicht sorgfältig genug überprüfen. Denn dabei
muss ja nicht nur überprüft werden, ob das Kindeswohl in der Familie
aktuell gefährdet ist, sondern auch eine negative Prognose dafür gestellt
werden, dass die Eltern diese Gefährdung in absehbarer Zukunft abstellen können.
Und was noch gravierender ist: Werden Kinder auf Anordnung des
Jugendamtes von ihren Eltern getrennt, müssen die betroffenen Eltern dagegen
Einspruch erheben, sonst findet gar keine richterliche Kontrolle dieser
Anordnung statt. Und die, weiß Hans-Christian Prestien, ein ehemaliger
Familienrichter, täten dies oft nicht, weil sie ohne keine Chance sähen.
Wenn eine Inobhutnahme einmal erfolgt ist, dann fällt es den zuständigen Ämtern
offenbar besonders schwer, die von den obersten Gerichten geforderte Maxime,
nämlich vor allem die Rückführung von Kindern in ihre Familien anzustreben,
auch in die Tat umzusetzen. Und nach Ansicht des Sozialpädagogen Klaus-Uwe
Kirchhoff, der als Verfahrensbeistand tätig ist, geht das Verhalten der
Behörden nicht selten darüber hinaus. Er habe den Eindruck, dass in manchen
Sorgerechtsverfahren, vor allem wenn die Inobhutnahme schon erfolgt ist, ein
Dutzend Experten vor Gericht aufträten, die nichts anderes wollten als zu
zeigen, wie schlecht die jeweiligen Eltern für ihr Kind seien. "Das
Jugendamt wie das Gericht haben dann ja ein großes Interesse", so erklärt
er, wirklich etwas zu finden, was sie den Eltern vorwerfen können. Sonst
hätten sie ein Kind zu Unrecht aus der Familie genommen und quasi eine
Menschenrechtsverletzung begangen." Angesichts solcher Praktiken wundert es
nicht, wenn der Psychologieprofessor und Gutachter, Uwe Jopt, die Frage
aufwirft, wer denn das Kind vor seinen Beschützern schütze. (vgl. In
fremden Händen, a .a. O.)
Die Jugendämter halten dagegen
Die betroffenen Behörden wehren sich. So erklärt z. B. Chrisitian Hübsch, der
Leiter des Jugendamts der Stadt Bayreuth, bevor die Mitarbeiter die Kinder
von der Familie trennten, würden erst einmal andere Hilfen in Erwägung
gezogen wie zum Beispiel eine sozialpädagogische Familienhilfe, ein
vorübergehender Erziehungsbeistand oder eine zeitweilige Unterbringung bei
Verwandten. (T-online,
24.02.15) Zudem, so die staatlichen "Wächter", würden viele Kinder und
Jugendliche ja auch nicht dauerhaft von ihren Eltern getrennt, sondern nur
zeitweise. Ihnen würde mit einer solchen Maßnahme oft eine Auszeit gewährt,
während Familientherapeuten mit den (überforderten) Eltern arbeiteten. (vgl.
ebd.)
Was tun?
So schwer es ist, als Laie hier den Überblick und Durchblick zu behalten und
die Arbeit von Jugendamtsmitarbeitern zu beurteilen, die vorgebrachte Kritik
verlangt auch Konsequenzen. Erforderlich scheint eine bessere Kontrolle der
Kontrolleure im Jugendamt, damit sie unter zum Teil sicher schweren
Rahmenbedingungen ihren "Job" gut machen und das Kindeswohl, für das allein
sie einzustehen haben, nicht aus den Augen verlieren können. Ob die
Familiengerichte dies mit ihrem derzeitigen Personalbestand aber schaffen
können, ist eher zweifelhaft.
Vielleicht sollte der Staat, wie die Familienrechtsanwältin und frühere
SPD-Justizsenatorin Lore Peschelt-Gutzeit fordert, seine Akteure in den
Jugendämtern wieder etwas zurückpfeifen, denn niemand wolle nach den
Erfahrungen des Nationalsozialismus einen staatlichen Erzieher oder
Jugendhilfe als graue Eminenz. Und sie fährt fort: "Ein Kind hat ein Recht
auf seine Eltern - aber eben nicht auf die besten Eltern. Eltern sind immer
auch Schicksal." (vgl. In fremden Händen, a. a. O.) Und Letzteres gilt, soviel
sei angemerkt, auch für unbegleitete Flüchtlingskinder.
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Baustein: Welche Stellung haben Kinder, Eltern
und Staat im elterlichen Sorgerecht?
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Textauswahl: Inhaltsangabe diskontinuierlicher Sachtext
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
02.02.2023
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