Ein
»erweiterter Suizid oder
Mitnahmesuizid liegt
dann vor, wenn andere Personen ohne deren Bereitschaft und Einverständnis in den Verlauf der suizidalen Handlungen
miteinbezogen werden.
Das unterscheidet den erweiterten Suizid
grundsätzlich von den auf dem gemeinsamen Todeswunsch beruhenden und nach
gemeinsamer Planung durchgeführten
Sonderformen des Suizids
wie Doppelsuizid, Familiensuizid oder bestimmten Formen des
kollektiven Massensuizids. Ein erweiterter Suizid liegt auch dann nicht
vor, wenn dem Suizid oder Suizidversuch ein Mord (§
211 StGB) vorangeht. Denn in einem solchen Fall ist die primäre
Absicht die Tötung eines oder mehrerer anderer Menschen, während das Motiv
für die Selbsttötung Angst vor Strafe oder das Bestreben ist, sich selbst
zu bestrafen. (vgl.
Bien 1984, S.31)
Auch wenn beim Mitnahmesuizid wohl häufig
altruistische bzw. pseudoaltruistische
Motive vorhanden sind, die in der Vorstellung gipfeln, "liebste
oder nächststehende Menschen vor einer vermeintlich unentrinnbaren
unglücklichen Zukunft bewahren zu müssen" (Lange
1964,
S.88), besitzt deren Existenz zwar
ethisch-moralisches Gewicht, ist aber dennoch kein strafrechtlich
maßgebendes Kriterium um von einem erweiterten Suizid auszugehen. (vgl.
Bien 1984, S.31)
Doch ungeachtet der strafrechtlichen Würdigung ist aber so, dass z. B. schwer depressive Menschen in
ihrer krankheitsbedingten Hoffnungslosigkeit ihre oft noch
minderjährigen Kinder "erlösen" wollen. Und dabei passiert es nicht
gerade selten, dass die ahnungs- und wehrlosen Opfer getötet werden, den
Täter aber dann die Kraft und der Mut verlässt, sich selbst den Tod zu
geben. (vgl.
Faust 2005)
Forensisch-psychiatrisch ergibt sich daraus, "dass ein depressiver
Kranker, wenn er in der Depression einen erweiterten Suizid unternommen
hat, als zurechnungsunfähig zu beurteilen ist, und zwar auch dann, wenn
aus im einzelnen nicht übersehbaren Gründen der Depressive selbst am Leben
bleibt." (Lange
1964, S. 12)
Auch wenn sich die Erweiterung des Suizids im
Allgemeinen auf liebste und nächstverpflichtete Mitmenschen bezieht, kann
sie aber "auch mit diesen oder an Stelle dieser den geliebten oder
verpflichteten Lebensraum einbeziehen (Brandstiftung mit Suizidversuch.)"
(ebd.,
S.89) Ob man die ausschließliche
Mitnahmetendenz des
eigenen Lebensraumes unter den Begriff des erweiterten Suizids
fassen sollte, ist indes umstritten. (vgl.
Bien 1984, S.32)
Die
statistische Datenbasis für die Analyse des erweiterten Suizids ist wohl
bis heute nicht besonders groß. Aber aus den Forschungsergebnissen geht
unter anderem doch zumindest hervor,
-
dass die meisten Täter
oder Täterinnen vorher keine besonders herausragende Auffälligkeit
gezeigt haben,
-
dass Männer häufiger einen
erweiterten Suizid vollenden als Frauen
-
dass Frauen meist
ausschließlich eigene Kinder in ihre
suizidale Handlungen
einbeziehen
-
dass die Mehrzahl der Täter
in der Zeit vor den suizidalen Handlungen eine wachsende Isolierung
aller sozialen Beziehungen erfahren haben (vgl.
Bien 1984, S.36)
Auch die »Amokläufe
von »Erfurt
(2002), »Emsdetten
(2006) oder »Winnenden
(2009) können als eine Form des erweiterten Suizids aufgefasst
werden, bei denen es, so die Diplom-Psychologin Esther
Köhler
(2008, S.140) um "das Gehen mit einem Knall, an den sich die
Welt, in der man gescheitert ist, erinnern soll", geht. (vgl.
Ego-Shooter)
Seit Friedrich dem Großen (1751) sind Suizide und Suizidversuche im
Deutschen Strafrecht ohne Konsequenzen. Wenn ein Suizid in einer
Erweiterungsform allerdings misslingt, ermittelt der Staatsanwalt wegen
eines Tötungsdelikts und erhebt Anklage. Der versuchte erweiterte Suizid, bei dem die
abschließende Selbsttötungshandlung fehlschlägt, ist also im Gegensatz zum
reinen Suizid nicht straffrei hinsichtlich der Tötung der übrigen
Personen. Meistens handelt es sich dabei nach
§ 212 StGB um Totschlag, welcher mit einer
Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren, in schweren Fällen mit
lebenslänglicher Freiheitsstrafe geahndet wird, oder um einen Fall
minder schweren Totschlags (§ 213 StGB),
der mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren
bestraft wird. Wenn der überlebende Täter vor und während
seiner suizidalen Handlungen unter einer psychotischen Störung mit einer
schwer wiegenden Beeinträchtigung seines Realitätssinns und dem daraus
erwachsenden Schwierigkeiten des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens gelitten
hat, ist von der Schuldunfähigkeit des Täters auszugehen. Allerdings gibt
es auch dabei keinen Automatismus, der bei einer bestimmten klinischen
Diagnose unmittelbar zur Exkulpation des Täters führt. Ein entsprechendes
psychiatrisches Gutachten muss nämlich möglichst genau beurteilen, wie
schwer und wie tiefgreifend die angenommene Störung gewesen ist. "Schwer
muss dabei die seelische Abartigkeit sein, eine tiefgreifende
Bewusstseinsstörung muss vorliegen bzw. die Verminderung der Fähigkeit zu
einsichtsgemäßem Handeln erheblich eingeschränkt sein, wenn die
Voraussetzungen zur Annahme der Schuldunfähigkeit angenommen werden soll."
(Bien
1984, S.37) Kommt es also "wegen einer krankhaften seelischen
Störung" zur Tat muss im Einzelfall und mit psychiatrischen Gutachten
geklärt werden, ob es dem Täter aus diesen Gründen unmöglich gewesen ist,
"das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln." (§
20 StGB) Auch wenn an dieser Stelle der aktuelle Stand der strafrechtlichen
Bewertung des erweiterten Suizids nicht referiert werden kann und soll,
sind doch Überlegungen von Interesse, die in der fachwissenschaftlichen
Debatte um den Suizid eine Rolle spielen oder gespielt haben. So gehen
Witter/Luthe (1966) einen
"Schuld ausschließenden oder ganz erheblich Schuld mindernden
Ausnahmezustand beim erweiterten Suizid", wenn die folgenden
Voraussetzungen erfüllt sind:
-
Die Gesamtsituation
muss so beschaffen sein, dass die Ernsthaftigkeit der
Selbsttötungsabsicht offenkundig ist.
-
Die
Selbsttötungshandlung darf nur durch nicht vorhersagbare Ereignisse
nicht zum (letalen) Ziel gekommen sein.
-
Das Ziel, dem
eigenen Leben ein Ende zu setzen, muss eindeutig im Vordergrund stehen.
-
Die Tötung eines
oder mehrerer anderer darf nur als Mitnahme erfolgt sein, die durch die
Einbeziehung des "Mitgenommenen" in den eigenen Verzweiflungsbereich des
Täters nachvollziehbar ist.
-
Der Mitgenommene
darf zu einer eigenen verständigen Entscheidung über sein Weiterleben in
der gegebenen Situation nicht fähig sein. Die Tötung von Ehe- bzw.
Intimpartnern oder älterer Kinder ist daher strafrechtlich nicht
entschuldbar. (vgl.
Bien 1984, S.38
Ähnlich sieht dies auch
Lange
1964: "Wenn der psychiatrische Sachverständige vor die Frage gestellt ist,
ob ein Fall von Mord oder Totschlag mit nachfolgendem Suizidversuch des
Täters ein misslungener erweiterter Suizid war oder nicht, dann muss die
Differenzierung davon ausgehen, dass der erweiterte Suizid des
depressiv-psychotischen Menschen die folgenden, eben nur aus der
depressiven Dynamik ableitbaren Kriterien aufweist: Erkennbar ist primär
der Wille der Aufgabe des eigenen Lebens, nicht etwa nur die Bereitschaft,
den letzten persönlichen Einsatz in die Tat einzubeziehen, nämlich nach
vollzogener Tat dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Liegen Affekte der
Verstimmung und Verzweiflung in Ursachen und Motiven, die zu Mord oder
Totschlag geführt haben, dann muss immer exakt danach geforscht werden, ob
das dem erweiterten Suizid eigene unegozentrische, altruistische bzw.
pseudoaltruistische Grundmotiv handlungsbestimmend war." (Lange
1964, S. 89)
Doppelsuizid
Doppelsuizide unterscheiden sich vom erweiterten Suizid oder
Mitnahmesuizid dadurch, dass bei jenem eine zweite oder weitere Personen
in die Suizidhandlung einbezogen werden, "die im Eigenentschluss oder
mindest in mehr oder weniger suggestiv herbeigeführter Bereitschaft aus
dem Leben zu gehen gewillt sind." (Lange
1964, S.12) Doppelsuizide misslingen selten. Sie sind
gewöhnlich sehr genau geplant und die suizidalen Handlungen folgen einem
beiderseitigen Todeswunsch. Führt der Doppelsuizidversuch jedoch nicht bei
beiden Betroffenen zum Tode, weil diejenige Person, die die andere getötet
hat, glücklicherweise/unglücklicherweise überlebt, muss sich die
Strafjustiz mit dem Fall befassen. Sie muss versuchen zu ermitteln, ob es
sich um eine zu strafbare Totschlagshandlung
§ 212 StGB), u. U. sogar
Mordhandlung (§
211 StGB) handelt, oder ob der Überlebende während der Tat
"wegen einer krankhaften seelischen Störung" so schuldunfähig , gewesen
ist, dass es ihm nicht möglich war, "das Unrecht der Tat einzusehen oder
nach dieser Einsicht zu handeln." (§ 20 StGB) Unter Umständen muss dabei
auch berücksichtigt werden, ob es sich um "Tötung auf Verlangen" (§
216 StGB) gehandelt hat.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
06.04.2024
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