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Der
Suizid ist ein Thema, das, allen noch immer herrschenden
Vorbehalten zum Trotz, in die Schule gehört. Dies ist, so hat man ermittelt, auch die ganz überwiegende Meinung der
Schülerinnen und Schüler (zwischen 70% und 80%) selbst, wobei weibliche
Schüler offenbar noch ein etwas größeres Interesse an der Aufklärung über
den Suizid haben. (vgl.
Biener 1986, S. 155). Viele
von ihnen kennen, zumal daran nichts Außergewöhnliches ist, Gedanken, die
sich um den Suizid ranken, vielleicht haben sie auch Andeutungen ihrer
Freundinnen und Freunde darüber in der Schule bemerkt oder mitgeteilt
bekommen und unter Umständen haben sie als indirekt Betroffene schon
einmal ein Suizidgeschehen erlebt.
In einer amerikanischen Studie hat man
geschätzt, dass ein einziger Suizid an einer Schule die Wahrscheinlichkeit
dafür, dass andere Schülerinnen und Schüler der gleichen Schule diesem
Beispiel folgen, um 300% erhöht. (vgl.
Poland 1989, S. 122, zit.
in:
Bründel 1993, S. 234) In
den allermeisten Fällen ist, wenn Jugendliche von ihren suizidgefährdeten
Freunden oder Freundinnen unter dem Mantel der Verschwiegenheit in ihre
Suizidtendenzen eingeweiht werden, von einer heillosen Überforderung der
um Rat gefragten jungen Leute auszugehen. (vgl.
Bründel 1993, S. 238)
Die Schule muss, das ist ihre Pflicht, dafür sorgen, dass die auch von ihr
ausgehenden
Anlässe für suizidale Handlungen
möglichst gering gehalten werden. Sie sollte sich dazu angemessene
Lernziele stellen und
geeignete
Präventionsprogramme
durchführen.
Schule und Schülersuizid
Häufig passiert es, dass Betroffene, die einen Suizidversuch
überlebt haben, die Schule für ihre psychologische Ausweglosigkeit an den
Pranger stellen, so wie dies die nachfolgende Äußerung einer
Gymnasialschülerin Mitte der siebziger Jahre zum Ausdruck bringt:
"Ein anderer Punkt meiner Resignation ist die
schreckliche Angst vor der Schule. Warum? Ich weiß es auch nicht,
zermürbend ist die unpersönliche Atmosphäre. Sollte es nicht auch
Aufgabe der Lehrer sein, den Schülern bei ihren Problemen zu helfen?
Aber sie sind nur bestrebt, ihren Lehrstoff einzuhalten und vergessen
ganz, dass dort viele sitzen, die menschliche Anteilnahme bitter nötig
haben und an der Welt verzweifeln." (Bron
1976, S. 440, zit. nach
Bründel 1993, S.69)
Auch wenn man einräumt, dass diese Äußerung mittlerweile schon dreißig
oder mehr Jahre alt ist und Schule von heute sich nicht in jeder Hinsicht
mit der Schule vor dreißig Jahren vergleichen lässt (vgl.
Bründel 1993, S. 71),
bringt die Äußerung aber doch zum Ausdruck, was auch heute immer wieder
für Aufregung sorgt. Auf der Scuhe nach einem Sündenbock wird der
Schule bzw. dem Schulsystem ganz pauschal die Schuld zugewiesen, wenn sich
Betroffene, deren Eltern und Elternvereinigungen ein einfaches
Erklärungsmodell zu eigen machen (vgl.
Pohlmeier 1986, S. 16). Und
doch:
Auch wenn ein direkter Zusammenhang von Schule und Schülersuizid nicht
belegbar ist (vgl.
Colla-Müller
1984, S. 20), wird sich die Schule von heute auf ihrem langen
Weg zur Verwirklichung einer neuen Lernkultur weiterhin in diesem Spannungsfeld
bewegen und sich wohl auch künftig dieser Diskussion stellen müssen.
Die Schule soll, das wird immer wieder gefordert, ihren Beitrag zur
Suizidprophylaxe im Allgemeinen und in eingeschränkterem Maße auch zur
Suizidprävention gefährdeter Schülerinnen und Schüler leisten.
Leider geschieht dies häufig erst dann, wenn konkrete Anlässe vorliegen,
wenn es also zu
Suizidhandlungen oder vollendeten Suiziden von Schülern,
Lehrern oder Angehörigen von Schülern gekommen ist, oder wenn die Presse
mit entsprechenden Berichten, die die Schüler aufrütteln, an die
Öffentlichkeit getreten ist. Häufig stehen Lehrerinnen und Lehrer solchen
Situationen sehr verunsichert gegenüber und erteilen zum Teil
widersprüchliche Ratschläge zu ihrer Bewältigung.
Der "Schülerselbstmord" in der Suizidforschung und seine Folgen
Die Suizidforschung hat sich lange Zeit mit dem Phänomen des so
genannten Schülerselbstmords
beschäftigt. Der Begriff ist u. a. deshalb sehr umstritten, weil er einen
ursächlichen Zusammenhang zwischen Schule und Suizid suggeriert und
präjudiziert, der in dieser Form unhaltbar ist (vgl.
Bründel 1993, S.69).
Auch wenn ein direkter Zusammenhang von Schule und Schülersuizid nicht
belegbar ist (vgl.
Colla-Müller
1984, S. 20), kann und sollte die Schule den Suizid zum Thema machen.
Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Rede vom "Schülerselbstmord", mit dem
sich die Suizidforschung lange Jahre beschäftigt hat, in der
Öffentlichkeit immer wieder falschen Interpretationen und unberechtigten
pauschalen Schuldzuweisungen gegenüber der Schule Vorschub leistet.
Die Suizidforschung hat schon Anfang des vorigen Jahrhunderts ihr
Augenmerk auf die so genannten "Schülerselbstmorde" gelenkt. Der Begriff
wird erstmals im Jahre 1908 zum Buchtitel erhoben und das gleich für die
Veröffentlichungen aus zwei konträren Lagern, von denen Gurlitt zum
Ankläger und Budde zum Verteidiger der Schule wurde.
-
Budde (1908) verteidigte die
Schule und führte die Häufigkeit von Suiziden unter Schülerinnen und
Schülern auf erbliche Belastungen, die häusliche Erziehung und die
Lebensweise zurück.
-
Gurlitt (1908) glaubte
indessen nicht an die individuellen Gründe, sondern machte das
Schulsystem mit seinem "Komisston" und "Kasernengeist" verantwortlich
und vervwies desweiteren auf die in der Schule herrschende - nun modern
ausgedrückt - Stofffülle und den allgemeinen Notendruck.
Sogar der Begründer der modernen
Psychologie
Sigmund Freud (1856-1939)
hat neben anderen führenden Vertretern seiner Zunft zu diesem Thema
Stellung bezogen und dabei die Pauschalverurteilung der Schule kritisiert,
auch wenn er sie mit ihrem Notensystem, dem Leistungsdruck und der
Versetzungsproblematik nicht gänzlich von einer gewissen Mitverantwortung
freisprechen wollte.
Die Diskussion über die Bedeutung der Schule für Suizide von
Schülerinnen und Schülern hält seitdem bis in die Gegenwart an. Allerdings
wird dabei zwischen den tiefer liegenden Ursachen und den Auslösern
suizidaler Handlungen bei Schülerinnen und Schülern unterschieden, wenn
Dusolt (1980) in schlechten
Zensuren und Zeugnissen, Nichtversetzung, Schulwechsel, Tadel durch die
Lehrer und andere Disziplinarmaßnahmen angstauslösende Anlässe sieht, die
sich bis in die Familie auswirken. (vgl.
Bründel 1993, S.69f.).
Insgesamt gesehen dürfte der
Zusammenhang von Schule und suizidalen
Handlungen von Schülern so sein, wie es
Heidrun Bründel (1993, S.
71f.) zusammenfasst:
"Schule [...] wird immer eine potentielle Belastung für Schüler/innen
darstellen. Für den einzelnen ergeben sich im Verlauf der Schulzeit eine
Fülle von möglichen Versagens-, Misserfolgserlebnissen und
Überforderungssituationen. Dieser Gesichtspunkt der Belastungen darf auf
keinen Fall unterschätzt werden. [...] Schule, dies ist eine
schulpsychologische Erfahrung, bringt, bedingt durch Leistungsdruck und
Leistungsanforderungen und auch durch elterliche Erwartungen, in fast alle
Familien Spannungen und Missstimmungen und führt dadurch bei vielen
Jugendlichen zu Gefühlen der Niedergeschlagenheit und Depressivität.
Schule verursacht zwar nicht das Suizidgeschehen, trägt aber doch in nicht
unerheblichem Maße zu Belastungsgefühlen der Schüler/innen bei."
Schule ist daher grundsätzlich, das sollte klar sein, als "Kofaktor" (Biener)
suizidalen Verhaltens anzusehen, indem sie "systemimmanent zusätzliche
Belastungen schafft, die neben den familiären und persönlichen dazu führen
können, dass Jugendliche ein Gefühl der totalen Überforderung, des
Überdrusses und der Sinnlosigkeit ihres Tuns erfahren. (ebd.,
S.21)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
01.08.2017
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