In der Entwicklung von Anstand und Schamhaftigkeit spielt die ▪
Kleidung eine besondere Rolle. Sie hat ihre eigene Geschichte und ist
natürlich nicht immer nur mit dem Thema Scham verbunden, ganz im
Gegenteil. Trotzdem handelt sie "vom Bedürfnis nach Schutz, vom
Gefühl der Scham und vom Wunsch, sich zu schmücken." (Filser
2021, S.32)
Wann
der Mensch in der Menschheitsgeschichte begonnen hat, sich etwas
anzuziehen, und aus welchen Gründen er das tat, lässt sich nur
archäologisch rekonstruieren. Aus diesem Grunde lässt sich auch
nicht mit allerletzter Gewissheit sagen, wann dies erstmals
geschehen ist. Naheliegend scheint zu sein, dass es wohl als Folge
davon passiert sein muss, dass die Urmenschen, das konnte man mit
Genanalysen herausfinden, ihr Fell vor etwa drei bis 1,2 Millionen
Jahren verloren haben, und damit Kälte, Wind und Wetter stärker
ausgesetzt waren. Wann sie allerdings genau mit der Herstellung von
Kleidung begannen, lässt sich weitaus schwieriger rekonstruieren.
So
viel sei hier gesagt: Offenbar war es die Kleiderlaus, die sich aus
der viel älteren Kopflaus entwickelte, die den Forschern dafür
wichtige Indizien zur Datierung gaben. Ihre Identifizierung, sie war
nämlich im Gegensatz zur Kopflaus in der Lage, ihre Eier an Stoff zu
befestigen, sowie eine Reihe anderer Funde (z. B. Knochenwerkzeuge)
lassen annehmen, dass schon vor 170.000 bis 120.000 Jahren erste
Kleidungsstücke aus Fell oder Tierhaut gefertigt und getragen worden
sind. Wie sie genau aussahen, kann man aber nicht sagen.
Da
bisher aus dieser Zeit keine Nähwerkzeuge entdeckt werden konnten,
ist davon auszugehen, dass die Kleidung nicht aus verschiedenen
Stücken in eine Passform verarbeitet wurden. Auch wenn sie
vermutlich "eher schlicht, ein grober Schutz gegen Wind und Regen
vielleicht" war, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass
Kleidung auch in dieser frühen Zeit schon eine schmückende Funktion
gehabt haben könnte
(ebd.,
S.33). Sie konnte schließlich, ihre jeweiligen Träger*innen
hervorheben und Aufmerksamkeit erregen.
Ob die
ersten Kleidungsstücke neben einer solchen sozialen Funktion auch
oder vorwiegend aus Gründen der Scham gefertigt und getragen wurden,
ist auch nicht auszuschließen, denn tatsächlich könnten die etwas
später erstmals geschneiderten Teile "zunächst nur lose den
Schambereich bedeckt haben, als »Lendenschurz,
wie ihn viele indigene Völker später kannten."
(ebd.,
S.33) Der ersten Nadeln, mit denen man solche Kleidungsstücke hätte
fertigen können, stammen aus Südafrika vor 70.000 Jahren, weitere
Funde gibt es in Sibirien und China, die aus der Zeit vor 45.000
Jahren stammen und Nadeln, die man auf die Zeit vor 20.000 Jahren
datiert, sind schon außer dem Zusammennähen von Kleidungsstücken
auch dazu zu gebrauchen, Stickereien und Ornamente zu gestalten, mit
denen sich auch ästhetische Vorstellungen umsetzen ließen.
Für
den Archäologen »Francesco
d'Errico (geb. 1957) ist das besonders wichtig, denn mit
Kleidung verwandelten die Menschen ihren Körper in ein Symbol und
könnten sie quasi als eine Kommunikationstechnologie einsetzen, um
anderen Mitgliedern einer Gruppe oder benachbarten Gruppen
Botschaften zum Beispiel über ihren sozialen Status, Familienstand
oder ihre ethnische
Zugehörigkeit senden. Im weiteren Verlauf wurde Kleidung auch schon
in der Steinzeit immer weiter individualisiert.
Aus
der Vielzahl der mit der Zeit gewonnenen Materialien und
Fertigungsweisen könnte es schon in der Steinzeit Modetrends gegeben
haben, die später in Vergessenheit geraten sind, aber stets, wie
unsere heutige Mode auch dazu da waren, soziale Signale zu senden.
Die Geschichte der Kleidung und der Mode ist über Jahrzehntausende
hinweg betrachtet sicher keine Geschichte, die sich einfach so
linear erzählen lässt. Sie kann aber durchaus zeigen, wie "ein
gemeinsamer Geist die Menschen an vielen Orten der Erde quer durch
die Zeiten verbunden" hat: "mit der eigenen Kleidung auch etwas
über sich zu erzählen."
(ebd.,
Hervorh. d. Verf.)
Auch ein ganz einfacher »Lendenschurz
kann etwas über seinen Träger erzählen. So konnte er zum Verbergen
der Geschlechtsteile dienen und dazu, "die sexuellen Signale der
genitalen Zurschaustellung quasi »abzuschalten«. (Eunson
1990, S.147)
Eine solche Zurschaustellung "war kein Problem, als unsere Vorläufer noch auf allen Vieren liefen und
die Weibchen nur eine bestimmte Zeit des Jahres empfängnisbereit oder »in
Hitze« waren. Aber als der
Mensch sich aufrichtete und die
Empfängnisbereitschaft sich auf das ganze Jahr ausdehnte, wurde es
notwendig – wenn Zivilisationen errichtet werden sollten -, das Interesse
des Menschen auf weniger genussreiche, aber wirtschaftlich und kulturell
handfestere Aktivitäten zu lenken. Deshalb waren Kleider ein Mittel, die
Zurückhaltung zu erhöhen." (ebd.)
Ein Lendenschurz kann aber auch Zugehörigkeit zu einer
Gesellschafts-, Berufs- oder Altersgruppe signalisieren.
Dass Scham und Anstand darüber hinaus kulturell völlig verschieden
gesehen wird, verwundert nicht. Während es in unserem Kulturkreis
ungeschriebenes Gesetz ist, seine Genitalien bedeckt zu halten - zumindest
müssen sie verborgen scheinen -, wird in anderen Kulturen stärker auf die
Verhüllung des Gesichts, des Mundes oder der Schenkel Wert gelegt.
Historisch gesehen sind die Vorstellungen von Scham und Anstand immer
einem Wandel unterworfen gewesen und nicht ohne innere Widersprüche
geblieben.
In
der Mode, vornehmlich der Frauenmode, wurden weibliche Reize stets dazu
eingesetzt, auf das männliche Geschlecht anziehend zu wirken.
Dazu
wurden bestimmte Teile des weiblichen Körpers entweder enthüllt oder
verhüllt. War deren Wirkung "ausgereizt", machte man sich auf die Suche
nach anderen derartigen Reizen, die man aber nicht immer mit der
Entblößung, sondern auch mit der Verhüllung bestimmter Körperpartien zu
erreichen suchte.
So kam es mal dazu, dass der weibliche Nacken, die Schulterpartien oder
auch die Brüste der Frau mehr oder weniger entblößt oder sonstwie betont
wurden. Die Scham- und Peinlichkeitsschwellen passten sich solchen
Entwicklungen im Allgemeinen an, wenngleich nicht alles, was Mode wurde,
auch den Zuspruch aller fand.
Eine immer wieder wichtige Modetendenz war es, den weiblichen Schoss,
die Taille, Hüften und Lenden, sowie den weiblichen Hintern zu betonen.
Eigentlich
kam jeder einzelne dieser weiblichen Reize im Laufe der Zeiten immer
wieder an die Reihe, und das hat sich auch bis heute wenig geändert. Dabei
veränderte sich nicht immer nur einfach die Mode, sondern diese änderte
sich auch insgesamt durch gesellschaftliche Prozesse, die Entwicklung
sexueller Normen und der Sexualmoral im Allgemeinen.
So war
etwa Ende des 18. Jahrhunderts bis weit ins 19. Jahrhundert hinein der
Cul* der erotische Konzentrationspunkt der angesagten Frauenmode in
bürgerlichen Kreisen.
Der Cul,
der auch als "Pariser Hintern" bekannt war, stellte mit
Polstern den rundlichen und Hintern der Frau besonders stark heraus. Als
er 1890 der Cul
wieder aus der Mode kam, ging es wieder um die weiblichen Schultern.
Allerdings
wurden die Schultern dann nicht entblößt, sondern wurden mit der
Erfindung der »Puffärmel
verhüllt.
Dann
wurden die weiblichen Kleider wieder tiefer ausgeschnitten und ließen in
ihrem Dekolleté wieder den Ansatz der Brüste ahnen und tiefe Schulterausschnitte
gaben den Blick auf die Oberarme frei. Schließlich entdeckte man eines Tages in der
jüngeren Vergangenheit den Reiz weiblichen Beines. Dabei ging es
nicht mehr um das Bein, das aus lang verhüllenden Röcken
wie beim »Cancan mit
seinen Beinwürfen und Spagatsprüngen emporschnellt, bei denen Mann den
Tänzerinnen unter den Rock schauen konnte, sondern darum wirklich "Bein
zu zeigen" und zwar offen zur Schau gestellt von oben bis unten.
Bei
den Männern war die Zurschaustellung (Exhibition**) und Betonung
bestimmter Geschlechtsmerkmale und Körperteile besonders im
Mittelalter üblich.
So ist
bekannt, dass sich der Erzbischof Adalbert von Reims im Jahre 927 gegen die schamlose Kleidung des Klerus
ereiferte. Die Priester , schimpfte er, trügen Hosen, die eine Weite von sechs Fuß hätten und
doch wegen der Durchsichtigkeit des Stoffes nicht einmal die Schamteile
den Blicken entzogen.
Nicht weniger »schamlos« war
kam die gegen Ende des 14.
Jahrhunderts getragene enge »bruche«
daher. Sie machte das natürliche Spiel der
Muskeln vom Gesäß bis auf die Füße sichtbar und
stellte die Geschlechtsteile besonders heraus. Noch extremer wurde dies
bei den um die Mitte des 15. Jahrhunderts in Mode gekommenen »Hosenlätze
(braguettes) oder »Schamkapseln,
in deren Form »die Männer das, was sie damit bedecken sollten, recht
nachahmten« (Joh. Scherr)."
Sprichwörtlich ist die Prüderie
im "krankhaft prüden" (ebd.,
S.48)
»viktorianischen
Zeitalter des 19. Jahrhunderts, in dem der bürgerlichen Prüderie, ein als obszön geltendes Wort wie 'Glied'
genügen konnte, um "Ohnmachtsanfälle im
Salon" (Eunson
1990, S.147) hervorzurufen.
Sie verstieg sich sogar dahin, dass "die
geschweiften Beine eines Flügels manchmal verhüllt wurden, damit
ihre wollüstigen Kurven nicht die tieferen Gefühle verliebter Paare
erregen konnten" (ebd.).
All das hinderte aber auch in dieser Zeit nicht daran, "die
weibliche Kleidung einer Sanduhr gleich so zu gestalten, dass Brüste
und Hintern mit Korsetts und
Turnüren (in der
Damenmode lange übliches Gesäßpolster) besonders auffällig ins Auge
fielen." (ebd.)
Dass sich im viktorianischen Zeitalter am Ende im Bewusstsein der Bürger "seine Würde an der
Länge seiner Badekleidung misst" (Bologne
2001, S.46) misst, hat schon die Karikaturisten des 19. Jahrhunderts
beschäftigt.
Es gilt eben auch hier: Irgendwie scheint es in
allen Epochen der Geschichte "ein gewisses Gleichgewicht zwischen
exzessiver Freizügigkeit und exzessiver Prüderie" (Bologne
2001, S.2) gegeben zu haben.
WORTERKLÄRUNGEN
* Cul: auch Cul de Paris, frz: Pariser
Hintern; Modesilhouette ebenso wie eine Rockstütze; Ende des 18.
Jahrhunderts werden Paniers durch Hüftpolster ersetzt; modische Gewänder
jener Zeit - besonders die Polonaise und Anglaise - zeichnen sich neben
sehr hohen Frisuren ein stark betontes Hinterteil aus, das als "Pariser
Hintern" bekannt und durch entsprechende Polster unterstützt wurde; in den
frühen 1870ern und 1880 kehrt der Cul de Paris kehrte unter dem gleichen
Namen bzw. als Tournüre wieder.
** Exhibition: hier Zurschaustellung
(Quelle u. a.: Bilderlexikon der Erotik : Universallexikon der Sittengeschichte
und Sexualwissenschaft / Institut für Sexualforschung., Wien, 1928-1932,
CD- ROM-Ausgabe: Berlin : Directmedia, 1999, (= Digitale Bibliothek
; 19). S. 3214f. )
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Vorrücken
der Scham- und Peinlichkeitsschwellen
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Die Entwicklung sozial konstruierter Scham
in der frühen Neuzeit und im Barock
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.10.2021