Die •
Spätfolgen sexueller Gewalt bei Männern äußern sich häufig in schweren
psychischen Störungen, die sich auch psychosomatisch auswirken
können. Solche Störungen können neurotisch oder psychotischer Natur
sein. Als neurotisch gelten psychische
Störungen dann, wenn trotz vorhandenem subjektiven
•
Leidensdruck des
einzelnen "weder Anzeichen einer Gehirnauffälligkeit noch das Auftreten
stark irrationalen Denkens oder die Verletzung gängiger Normen" zu
beobachten sind. (Zimbardo/Gerrig
2004, S.665) Entsprechend dieser Definition wurden neurotische
Störungen als recht verbreitete psychische Probleme angesehen.
Die
Ängste und Schuldgefühle können bei Männern, die als Jungen Opfer
sexueller Gewalt geworden sind, zu erheblichen Störungen des
Selbstwertgefühls führen, die sich bis zu Depressionen entwickeln können
mit ihren Schwankungen zwischen unrealistischer Selbstüberschätzung,
bodenloser Traurigkeit, Leere und Empfindungslosigkeit. (vgl.
Julius 2000).
Die Strategien und
Abwehrmechanismen, die
Jungen und Männer entwickeln, um ihre Missbrauchserfahrungen zu bewältigen
und irgendwie in ihr Selbstkonzept zu integrieren, sind vor allem: (vgl.
Schlingmann 2003)
Als Form der Angstabwehr gehört die Verdrängung zu den automatischen Tätigkeiten des Ichs,
mit denen es sich vor der unkontrollierten Dynamik schützt, die das
Fortbestehen eines Angstzustandes für das Erleben und Handeln einer Person
bedeuten könnte. Mit diesem
Abwehrmechanismus wird die
Erinnerung an das traumatische Erlebnis erschwert und fragmentiert und
verhindert so eine traumatische Angstentwicklung.
Verdrängung geht dabei stets mit einer Art "Sprachzerstörung"
(Lorenzer 1970) einher.
Ganz allgemein gesagt will der Betroffene alles ganz und gar vergessen. Gelingt dies,
dann ist damit zunächst einmal das "Überleben“ garantiert. Wenn man
allerdings später von dem Druck befreit ist, kann man das Geschehene u. U. nicht mehr so
gut verarbeiten. Daher kommt es als Folge der Verdrängung und der weiter
im Unterbewusstsein herrschenden Dynamik zu psychischen bzw.
psychosomatischen Folgeerscheinungen wie unerklärlichen diffusen
Angstzuständen, unverständlichem Verhalten, einem "Dauernd-unter-Strom-Stehen“
oder einem permanenten Alarmzustand wegen des schwelenden Gefühls der
Bedrohung oder wegen zu plötzlich durch Schlüsselreize aktivierten (unbewusster)
Erinnerungen.
Für viele Männer ist die Abspaltung von Emotionen, die im Zusammenhang
mit der Erinnerung an den sexuellen Missbrauch stehen, ein wirksames
Mittel, mit ihren Erfahrungen umzugehen. Damit
bagatellisieren sie im
Allgemeinen das Ganze und
rationalisieren das Geschehene. Solche Männer
haben auch häufig sehr genaue Erinnerungen an die sexuelle Gewalt,
die sie erlebt haben, finden aber zugleich keinen Zugang zu den Gefühlen,
die sie dabei erlebt haben.
Um mit dem erfahrenen sexuellen Missbrauch umgehen zu können, deuten einige Betroffene das Geschehen
auch einfach so um, dass es nicht mehr negativ besetzt erlebt wird.
So
wird die erfahrene sexuelle Gewalt dann als erste Einführung in die Sexualität
gesehen. Im Grunde, so erklären die Betroffenen sogar zum Teil weiter, seien sie
sogar froh darüber, dass diese Einführung durch einen Erwachsenen erfolgt
sei. Das hat nicht selten zur Folge, "dass die betroffenen Männer, obwohl
sie im Nachhinein klar erkennen, dass sie unter Druck gesetzt wurden und
das Altersgefälle ausgenutzt wurde, der Ansicht sind, es sei ein
einvernehmlicher Kontakt gewesen. Diese Umdeutung gibt es sowohl bei
heterosexuellen Männern, die von einer Frau, also gegengeschlechtlich
missbraucht wurden, als auch bei homosexuellen, die Opfer eines Manns
gewesen sind.“ (Schlingmann
2003)
Männer, die als Jungen Opfer sexueller Gewalt geworden sind, wollen
sich oft beweisen, dass sie "normal“ sind. Sie passen sich aus diesem
Grund gesellschaftlichen Erwartungen und Normen weit über Gebühr an. Mit
solcher Überanpassung verschaffen sie sich Ruhe
vor den bedrohlichen Erinnerungen. Häufig stürzen sich solche Männer auch
in die berufliche Arbeit,
zumal dies ohnehin zum gängigen Männerbild passt. Sie
geben den perfekten Sohn bzw. Schwiegersohn, den liebevollen Ehemann und treusorgenden Vater, ehe sie vielleicht irgendwann in eine Krise geraten
und feststellen müssen, dass sie eigentlich nur von unterschwelliger Angst
angetrieben worden sind.
Sind Erniedrigungsgefühl und die Scham darüber besonders ausgeprägt,
kann ein ehemaliges Opfer auch selbst wieder zum Täter werden, um durch
die "Re-inszenierung“ der Missbrauchserfahrung als Täter, Herrschaft und
Kontrolle darüber zurückzugewinnen. Wer wie der Täter fühlt und handelt,
schüttelt damit die Opferrolle ab und befreit sich aus dem erlittenen
Gefühl der Ohnmacht. Mit altbekannten Formeln wie "Was uns
nicht umbringt, macht uns stark.“ scheint sich dieses Verhalten
sogar noch noch vordergründig legitimieren zu lassen (Süsske
2001).
Ähnlich wie die Identifizierung mit dem Aggressor, dem Ansatz der
traditionellen Psychoanalyse, soll die Vorstellung von der Abspaltung
bestimmter Anteile des Selbst und die
Projektion dieser verhassten
Selbstanteile auf ein anderes Opfer erklären, weshalb gerade Opfer auch
Täter werden können. Dieser Zirkel der
Gewalt bzw. diese zyklische
Viktimisierung dreht die Rollen von Täter und Opfer um. Die
betroffene Person spaltet einen bestimmten Teil seines Selbst so ab, dass
ihn diese Erfahrungen im Normalfall nicht mehr bedrohen bzw.
beeinträchtigen. Allerdings sind diese Abspaltungen des Selbst nicht
endgültig verdrängt, sondern können bei zusätzlichen Belastungen quasi
nach außen gekehrt und auf ein Opfer projiziert werden, das dann
misshandelt wird. (Süsske
2001)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.05.2024