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Ein kulturelles Paradox: Mannsein und Opfersein

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Hans-Joachim Lenz (1999/2004) hält die Tatsache, gleichzeitig Mann und Opfer zu sein, für ein kulturelles Paradox. Zur Erklärung daraus resultierender Wahrnehmungsblockaden und der "Koalition des Verschweigens" zwischen Betroffenen, Tätern und Helfern, die die Aufdeckung sexueller Übergriffe auf Jungen kennzeichnen, führt er aus:

"Die gesellschaftliche Normalität der Männergesellschaft bildet den Hintergrund dafür, wie Opfer produziert werden und wie mit Opfern umgegangen wird. Die männliche Form der Weltaneignung beruht auf Herrschaft und Kontrolle und vermittelt sich in einem verhängnisvollen patriarchalen Kulturbegriff. In immer neuen Variationen dreht dieser sich um Unterwerfung, Aneignung, Sich-Erheben über ein Gegebenes oder gewaltsame Veränderung eines Gegebenen (vgl. Meier-Seethaler 1988, S. 507). In dem bestehenden Herrschaftssystem sind die gesellschaftlichen Verhältnisse hierarchisch aufgebaut. Auf der Basis der kapitalistischen Marktwirtschaft funktioniert die "Siegerkultur", deren Spitze die "hegemoniale Männlichkeit" (Connell) repräsentiert. Ideologisch abgesichert herrscht das "Recht des Stärkeren". Ohne moralische Skrupel kann sich der (ökonomisch) Dominantere durchsetzen und sich das nehmen, was er braucht. Daraus ergibt sich eine Hackordnung der Menschen untereinander. Sie richtet sich gegen Kinder, Frauen und untergeordnete Männer, eben so genannte "Schwächere". Diese "Schwächeren" werden zurückgesetzt, würdelos behandelt und ausgegrenzt. Im Prozess der Sozialisation lernen bereits kleine Jungen, sich in dieses Muster vermeintlich "richtiger Männlichkeit" einzupassen. Deren Maxime ist: man muss unten anfangen und sich dann hocharbeiten. Findet die Unterwerfung nicht freiwillig statt, wird sie von Mächtigeren mit Gewalt eingefordert. So werden Unterwerfung unter die elterliche Gewalt und daraus sich ergebende frühkindliche Ohnmachts- und Opfererfahrungen häufig als der Preis gesehen, um später eine Gratifikation zu bekommen, nämlich Herr zu sein. Nach analogem Muster verlaufen Positionskämpfe zwischen Gleichaltrigen im schulischen und außerschulischen Bereich. In diesem Kontext bedeutet Mannsein und die Erfahrung des Opferseins ein kulturelles Paradox. Entweder jemand ist Mann und dann ist er kein Opfer, oder er ist Opfer und dann ist er kein Mann.

Im herkömmlichen Rollenverständnis wird von einem Mann erwartet, dass er aktiv und überlegen ist, mit seinen Problemen allein fertig wird und sich jederzeit und selbstverständlich ohne Hilfe von außen wehren kann. Ruhiges, sanftes oder ängstliches Verhalten eines Jungen wird oftmals abgewertet. Und es wird erwartet, dass er nicht leidet oder zumindest sein Leiden nicht zeigt. Wenn ein Mann Leid erfährt, hat er dies schamhaft zu verbergen. Wie der immer noch gültige Satz "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" besagt, muss ein Mann nach außen seine Verletztheit heldenhaft "wegpacken" können. Entspricht er diesem Bild nicht, wird er als "unmännlich", als "Waschlappen" oder als "Memme" angesehen. Kurzum: Jungen dürfen sich selten empfindsam zeigen oder überhaupt ihre Gefühle von Angst, Trauer, Ohnmacht äußern. Schwäche und Hilflosigkeit passen nicht zum männlichen Selbstbild. "Wir hassen das Opfer in uns. Deswegen dürfen wir nicht nur kein Mitgefühl für das Opfer aufbringen, wir müssen es auch weiter peinigen oder peinigen lassen, um so unser eigenes Opfer-Sein zu bestrafen." (Gruen 1994, S. 46) Durch dominantes und aggressives Auftreten und ein Überidentifizieren mit dem "Männlichkeitsstereotyp" wird das beschädigte Selbstwertgefühl zugedeckt. Das verloren gegangene Gefühl von Kontrolle wird kompensiert. Statt Einfühlungsvermögen wird versucht, der Ohnmacht zu entgehen und Stärke zu demonstrieren. "Schon als Kinder werden wir zu Opfern, irgendwann einmal, ganz früh. Zugleich dürfen wir das nicht zugeben, denn Opfer sein gilt als Beweis, dass wir es als Kind nicht richtig gemacht haben." (Gruen 1994, S. 50) Jungen werden von klein auf festgelegt auf die Rolle des männlichen Eroberers, der Macht und Kontrolle über andere Menschen, vor allem Mädchen und Frauen, aber auch über die eigenen Ängste und Gefühle hat. "Jungen sind keine Opfer! Opfer sind weiblich!" (Enders 1990, S. 248)"

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 23.05.2024

    
    Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie aus dem Text heraus:

    • Welche gesellschaftlichen Strukturen sind nach Ansicht des Autors dafür verantwortlich, dass "Mannsein und die Erfahrung des Opferseins ein kulturelles Paradox" darstellen?

    • Wie funktioniert der Umgang von Männern mit der Vorstellung, selbst Opfer zu sein? Wie mit anderen männlichen Opfern?

  2. Diskutieren Sie die folgenden Ausführungen des Autors auch im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten:

"Im herkömmlichen Rollenverständnis wird von einem Mann erwartet, dass er aktiv und überlegen ist, mit seinen Problemen allein fertig wird und sich jederzeit und selbstverständlich ohne Hilfe von außen wehren kann. Ruhiges, sanftes oder ängstliches Verhalten eines Jungen wird oftmals abgewertet. Und es wird erwartet, dass er nicht leidet oder zumindest sein Leiden nicht zeigt."

 

 
 
 

 
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