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Unfallgaffer

Was hat Facebook mit Unfallgaffern zu tun?

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Themenbereich: Unfallgaffer
Wo viele sind, will keiner helfen (Texterörterung)

Die neuen Kommunikationskulturen im Internet, insbesondere die verschiedenen sozialen Netzwerke wie Facebook oder Social Sharing-Plattformen wie YouTube, verändern nicht nur die Kommunikationsgewohnheiten und -vorlieben der Menschen, mit ihren Wirkungen reichen sie auch tief hinein in gesellschaftliche Entwicklungen, die das Zusammenleben der Menschen unmittelbar betreffen.

Dabei sind sie in der Regel nicht für gesellschaftliche Missstände in ursächlichem Sinne verantwortlich. Die Ursachen dafür liegen meist außerhalb ihres unmittelbaren Bereichs. Und doch können sie solche verstärken, können Schneeballeffekte von ihnen ausgehen. Zugleich ist es nicht die digitale Technik, die zu einer derartigen Verstärkung führt, sondern es sind die Menschen, die von dieser Technik Gebrauch machen und vor allem eben, wie sie dies tun. Und hier stehen auch soziale Netzwerke im Fokus.

Die Frage, weshalb Menschen oft gierig nach Sensationen sind, Unfälle möglichst hautnah, aber ohne Gefahr für sich selbst, erleben wollen und vor allem, warum dies auch auf ganz "normale" Menschen zutrifft, beschäftigt die Öffentlichkeit immer wieder. Dies vor allem dann, wenn Fälle auftreten, wie der über den die ADAC-Motorwelt im Oktober 2011 berichtet, bei dem ein 61-jähriger Mann im August 2011 nach einem Unfall deshalb sterben musste, weil Handyfotografen, statt zu helfen, ein Blitzlichtgewitter veranstalteten. Auch wenn Neugierde und Schaulust alte Phänomene sind, zeigen sich heute eben neue Formen eines aggressiven Voyeurismus, der auch vor Gewalt gegen Einsatzkräfte nicht mehr zurückschreckt, wenn er nicht so ohne weiteres befriedigt werden kann, wie bayerische Notärzte festgestellt haben.1 "Egal wie, die Leute wollen nah am Leid sein, um zu sehen, was sie sonst nur im Fernsehen geboten bekommen. Bei mir standen sie schon mit dem Fuß im Notfallkoffer", berichtet Professor Dr. Peter Sefrin, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Notärzte in Bayern (agbn) in der ADAC-Motorwelt. Darin kommt auch der ADAC Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino in einem Interview zu Wort. Für ihn ist es nur ein schmaler Grat, der gesunde Neugier von Schaulust trennt. Selbst wenn sich Menschen dadurch selbst in Gefahr brächten, folgten sie einer "Art Sendungsbewusstsein [...] um anderen zu berichten." Wer an einem Unfallort gaffe, genieße dort schlicht "den Thrill des Augenblicks, vor Ort zu sein und die anschließende Anerkennung von anderen." Auf die Frage, ob soziale Netzwerke wie Facebook dazu beitrügen, "dass manche Menschen eher Grenzen überschreiten, um Fotos ins Internet stellen zu können?" meint er: "Das Internet ist sicher ein treibende Kraft. Wer Zeuge eines außergewöhnlichen Ereignisses ist, kann hohe Klickzahlen erreichen. Er fühlt sich als Dokumentator."

 Die Frage "Was hat Facebook mit dem Unfallgaffen zu tun?" lässt sich dabei nicht mit ein paar an die Wand geworfenen Pinselstrichen verdeutlichen, auch wenn man auf der Suche nach einem Schuldigen eben auch gerne einfache Antworten heranzuziehen wünscht. Es gibt Zusammenhänge, wie auch eingangs betont, aber Wirkungszusammenhänge solcherart sind eben sehr komplex. Nichts anderes lehrt die immer wieder notwendige öffentliche Diskussion um den Zusammenhang von Gewalt und Medien, die häufig in zu einfache "Rezepte" mündet. Dennoch, von der Hand zu weisen lässt sich eben nicht, dass sich die von sozialen Netzwerken u. ä. geförderte Neigung, gesehen zu werden, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Wenn dazu noch der  für manche schon Suchtcharakter annehmende Drang kommt, in sozialen Netzwerken und File Sharing-Plattformen Aufmerksamkeit in Form von Klickraten oder "Freundeslisten" zu erlangen, dann wird damit einem vorhandenen aggressiven Voyeurismus mehr als nur Vorschub geleistet. Vielleicht fördert er diesen auch erst so recht ans Tageslicht.
Wer heutzutage in Google den Suchbegriff "Unfallvideo" eingibt, bekommt gleich eine Unzahl von (Handy-)Videos in der Trefferliste ausgewiesen, von denen manche lustig, viele aber kaum zu ertragen sind. Dass die Klickrangliste nicht von Bagatellunfällen angeführt wird, versteht sich. Es muss schon ein "krasser" Crash sein, am besten einer mit einem Mehrfachüberschlag und einer Menge brennender Karossen. Bastian Roet, Verkehrssoziologe des Automobilclubs von Deutschland (AvD) hat 2008 noch eher die Rezipienten solcher Crash-Videos im Blick, wenn er über die Motive des "Gaffens" von Crash-Videos im Internet vermutet, dass " manche neugierige Menschen diese Lust am Zuschauen befriedigen - ohne sich bei jemandem dafür rechtfertigen zu müssen." (rp-online, 23.9.2008) Auch wenn es gewöhnlich ein "krasser" Crash "in echt" sein muss, um die  Aufmerksamkeit von Videogaffern zu erlangen, können aber auch gestellte Szenen dafür herhalten.

Wie kompliziert sich die Wirkungsdiskussion indessen gestaltet, wird klar, wenn man berücksichtigt, dass die Polizei in vielen Ländern der Welt schockierende Unfallvideos zur Verkehrserziehung einsetzt. Einer großen Öffentlichkeit, insbesondere im Internet, ist dies durch den so genannten COW-Trailer bekannt geworden. Die Vierminuten-Vorschau des von der Polizei in der englischen Grafschaft Gwent produzierten halbstündigen Films zählte lange Zeit zu den beliebtesten Videos bei YouTube und gehört noch heute dazu. Gut gespielt und wirklich gut gemacht mit gekonnten Effekten wird darin gezeigt, "wie eine Alltagssituation im Straßenverkehr abkippt zu einer Katastrophe, die vier Menschen das Leben kostet. Schuld daran ist die Titelfigur COW - die Kuh, die dumm genug ist, am Steuer zu sitzen und SMS zu tippen: Cassie COWan heißt das nette Mädchen im Film, das fahrlässig zur Täterin wird und dessen Name hier symbolträchtig und plakativ zum Stigma für SMS-Tipper am Steuer verkürzt wird." (Frank Patalong, in: Spiegel-Online, 4.9.2009) "Der wirksamste Werbespot aller Zeiten", wie  der amerikanische TV-Moderator und ehemalige Werbeagenturinhaber Donny Deutsch in einem Interview zum Thema erklärte, will hingegen keine Sensationslust befriedigen. Seine Schockwirkung beruht eben nicht zuletzt darauf, dass er, mit Special Effects aus dem Actionfilm versetzt, wie Patalong betont, "seine Zuschauer in die Täterperspektive versetzt" und dadurch "das ganze Leid unmittelbar fühlbar macht." Nichts für schwache Gemüter ist er dennoch. In den USA hat YouTube den Film mit einem Jugendschutzfilter versehen, der verhindern soll, dass ihn Personen unter 18 Jahren sehen können. In Deutschland ist er frei verfügbar. Wenngleich die Intentionen der Macher nicht anzuzweifeln sind, bleiben solche doch. Denn wie solche Filme auf den einzelnen wirken, insbesondere wenn sie in völlig anderen als den verkehrserzieherischen Kontexten und Settings rezipiert werden, ist nämlich eine gänzlich andere Frage. Im Netz kursierend entwickeln sie ein Eigenleben, gewinnt die Rezeption ihre eigene Dynamik.
Franz Schibalski, Verkehrspsychologe des ADAC, ist sich indessen nicht sicher, ob Extrem-Crash-Videos, wie sie von der Polizei benutzt werden, um Jugendliche wachzurütteln, wirklich die gewünschten Effekte haben. (vgl. ebd.) Und auch  Ute Hammer, Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR) in Bonn, ist sich keineswegs sicher, ob das Anschauen der Videos negative oder positive Auswirkungen auf das Verhalten im Verkehr hat. (vgl. rp-online, 23.9.2008) Aber während noch eine ganze Reihe von Experten Zweifel hegt, ist sich »Bernhard Schlag, Professor am »Verkehrspsychologischen Institut der TU Dresden, seiner Sache offenbar ganz sicher: "Solche konfrontativen Stilmittel erregen Aufmerksamkeit und brennen sich in die Köpfe ein", erklärt er und verweist darauf, dass sich die wenigsten von selbst mit Unfällen, schweren Verletzungen oder gar dem eigenen Tod auseinandersetzen würden. (vgl. sz-online, 5.9.2008) "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte", zitiert denn auch im Jahr 2008 der damalige nordrhein-westfälische Innenminister Ingo Wolf (FDP) einen bekannten Spruch, um zu begründen, weshalb schockierende Bilder wie die von einem Kopf, der gegen eine Windschutzscheibe prallt, weil der junge Fahrer nicht angegurtet war, oder das von "vor Schmerzen schreienden Menschen in einem Autowrack - Resultat eines gefährlichen Überholmanövers" inzwischen zum Schulungsmaterial von Fahrschulen gehören. Helmut Simon, leitender Polizeidirektor im Polizeipräsidium Köln, betont jedenfalls, dass die Polizei mit solchen Videos, die vor Diskotheken, bei Verkehrskontrollen oder in Berufsschulen gezeigt würden, positive Erfahrungen gemacht habe. Die Jugendlichen zeigten sich meist betroffen "und das, obwohl sie von uns wissen, dass die Szenen gestellt sind." (vgl. sz-online, 5.9.2008) Und natürlich gibt es auch welche, die zeigen sich, wie in vielen anderen Fällen, in denen gutgemeinte pädagogische Konzepte scheitern, "aufklärungsresistent".

Es macht wenig Sinn, alles in einen Topf zu werfen. Die Produzenten von Crash-Videos "in echt", die sich als Gaffer am Unfallort hervortun, und ihre diffuse Fangemeinde im Internet sind nicht nur von den Intentionen her etwas anderes als die "Schockwerbung" in der Verkehrserziehung. Es handelt sich im Kern um ein anders geartetes soziales Problem. Und genau das ist es, was auch die sozialen Netzwerke im Internet wieder ins Spiel bringt. Fördern sie durch die Art, wie man gemeinhin auf sich bzw. sein digitales Abbild aufmerksam machen kann, nicht auch die Tendenz, sich mit allem Möglichen wichtig zu machen? Wo man früher nicht einmal einen Fotoapparat, geschweige denn ein Handy oder ein Smartphone zur Hand hatte, wenn man einmal unfreiwillig Zeuge eines schrecklichen Unfallereignisses geworden ist, ist jeder heute damit ausgestattet. Und mit ein, zwei Klicks steht das Ganze im Internet, auf YouTube oder Facebook oder Google+. Und nicht allein das: Mit Facebook oder anderen sozialen Netzwerken wird die Nachricht, die zeigt, dass man aktiv war und ist und der Welt oder seinen "Freunden" etwas mitzuteilen hat, schnell in der digitalen Welt verbreitet oder auch einfach "hinausgetwittert." Je sensationeller, desto besser, desto mehr Klicks, desto mehr "Freunde" - so funktioniert die heimliche oder offen gepflegte Komplizenschaft von Gafferproduzenten und Gafferrezipienten auch bei den im Netz kursierenden Unfallvideos. Und in das neue Timeline-Profil von Facebook passt es alle mal, wenn man sich als "Unfallreporter" profilieren kann. Die Frage ist dabei angesichts der Millionen von Facebook-Usern nicht mehr, ob das eine Menge Nachahmer findet, sondern nur noch wie viele - und: ob wir dies als Gesellschaft wollen.

Bei alledem geraten nicht nur die Opfer von Unfallvideos aus dem Blick.
Aber solange das Unfallopfer nicht erkannt werden kann, so das Amtsgericht Kerpen in einem »Urteil vom 25.10.2010 ist gegen eine Veröffentlichung im Internet rechtlich nichts einzuwenden. Selbst wenn man das Nummernschild eines Fahrzeuges erkennen könne, seien damit die Persönlichkeitsrechte des Verunglückten nicht beschädigt, denn damit sei ja nicht gesagt, wer tatsächlich gefahren sei. In der Urteilsbegründung in dem Verfahren, bei dem ein Verunglückter Schadenersatz und Schmerzensgeld erstreiten wollte, führen die Richter dazu weiter aus:
"Zwar hat der Kläger seine Einwilligung in die Veröffentlichung der Bilder unstreitig nicht erteilt. Gleichwohl fehlt es an einer den Tatbestand der genannten Normen ausfüllenden Verletzungshandlung. Insoweit muss nämlich ein Bildnis des Klägers vorliegen. Unter Bildnis wird dabei die erkennbare Wiedergabe des äußeren Erscheinungsbildes einer Person verstanden [...]. Diese Voraussetzung sieht das Gericht vorliegend nicht als erfüllt an. [...]
Für den vorliegenden Fall geht das Gericht (noch) davon aus, dass die Erkennbarkeit der Person des Klägers sich nicht in einem Rahmen bewegt, der dessen Einwilligung in die Veröffentlichung der Bilder notwendig macht. Der Kläger selbst ist auf dem beanstandeten Video in seiner Person nicht zu erkennen. Das Video zeigt weder das Gesicht des Klägers noch sonstige markante Umstände, aus denen sich nach Auffassung des Gerichts Rückschlüsse über seine Person ziehen lassen könnten. Das Filmmaterial zeigt zwar, wie eine Person auf einer Trage in einen Krankenwagen geladen wird; Einzelheiten dieser Person sind jedoch nicht zu bemerken. [...].
Das Gericht trägt auch dem Umstand Rechnung, dass der Kläger nach seinem Vortrag in der nicht näher bezeichneten 'Kerpener Quad-Szene' - worum immer es sich dabei handeln mag - auf den Unfall angesprochen worden sei. Das Gericht vertritt hierzu die Auffassung, dass dies nicht ausreichend ist, um die Erkennbarkeit im Sinne der oben genannten Vorschriften zu bejahen. Maßgebend stellt das Gericht dabei darauf ab, dass es in vielen Fällen einer Berichterstattung praktisch unvermeidlich ist, dass ein ganz kleiner Personenkreis aufgrund der Zusammenstellung der berichteten Daten Rückschlüsse ziehen kann. [...]"

Gewiss gibt es hier vieles abzuwägen, aber eine Hilfe für die Opfer ist es nicht, eher eine Ermutigung für die Handygaffer.

Sensationsgier ist keine Erfindung des Web 2.0 und auch die von der digitalen Technik geschaffenen Möglichkeiten zur Kommunikation sind nicht verantwortlich dafür, wie eine Gesellschaft von ihnen Gebrauch macht. Aber wie wir unser soziales Miteinander gestalten, wie wir mit einander umgehen und welchen Werten wir dabei folgen, das ist auch Sache derer, die im Web unablässig an neuen Kommunikationskulturen basteln. Dafür tragen sie als deren wichtigsten Agenten Verantwortung. Werden oder können sie ihr nicht gerecht werden, dann muss die Politik einschreiten. Denn auch in diesem Fall ist eine Gesellschaft, sind wir alle der weiteren Entwicklung nicht hilflos ausgeliefert. Es ist Sache der Politik, den Rahmen vorzugeben, unsere Sache ist es diesen einzuklagen und auch zu leben. Wo das Schamgefühl verloren geht, bleibt eben auch das Mitgefühl auf der Strecke. Werteerziehung scheint gefragter denn je.

Gert Egle. www.teachsam.de, 7.10.2011

Anmerkungen:

1 Presseerklärung der Arbeitsgemeinschaft der Notärzte in Bayern (18.5.2010)
 www.agbn.de

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Themenbereich: Unfallgaffer
Wo viele sind, will keiner helfen (Texterörterung)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 21.10.2020

     
   
   Arbeitsanregungen:

Erörtern Sie den Text.

  1. Arbeiten Sie aus dem Text heraus, worin nach Ansicht des Verfassers der Zusammenhang zwischen sozialen Netzwerken und dem Unfallgaffern besteht.

  2. Wie grenzt er in diesem Zusammenhang die Schockvideos der Verkehrserzieher von denen der Unfallgaffer ab?

  3. Worin besteht "die heimliche oder offen gepflegte Komplizenschaft von Gafferproduzenten und Gafferrezipienten"?

  4. Setzen Sie sich mit den Aussagen auseinander.

  5. Stellungnahme: "Texting While Driving" ("Cow"-Video). Können solche Videos abschrecken?

 
   
 

 
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