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Die Lernforscherin Elsbeth Stern
äußerte sich in einem Interview in der Wochenzeitung "Die Zeit" im Jahr 2003
über das Verhältnis
von Intelligenz und Vorwissen. Sie warnte darin aus zwei Gründen vor
einer Überschätzung der Intelligenz. Zum einen gehe es darum, dass alle
Menschen etwas lernten und nicht nur die, die besonders günstige
Voraussetzungen dafür mitbrächten. Und zum anderen sei auch wissenschaftlich
belegt, das Leistungsunterschiede in einem bestimmten Bereich immer weniger
von der Intelligenz abhingen, je mehr man das vorhandene Vorwissen in seine
Überlegungen mit einbeziehe. Auf die Frage, wie sich dies in der Schule
zeige, antwortete Stern, dass es sich im Bereich schulischen Lernens ganz
ähnlich verhalte. "Den größten Einfluss auf den Lernfortschritt ", so
betonte sie, "hatte das zu Beginn eines Schuljahres verfügbare Wissen – und
zwar weitgehend unabhängig von der Intelligenz. Eine Fortführung dieser
Studien für das Fach Mathematik ergab, dass die Mathematikleistung in Klasse
11 eng mit der Leistung in der Grundschule zusammenhängt, viel enger als mit
dem Intelligenzquotienten der Elftklässler. Die Ergebnisse sprechen dafür,
dass man sich über einen längeren Zeitraum mit mathematischen Problemen
auseinander setzen muss, wenn man ein guter Mathematiker werden möchte.
Zugespitzt kann man sagen: Wissen schlägt Intelligenz." Und was die Vorteile
der intelligenteren Kinder in der Schule anbelangt, räumte sie ein, dass
diese natürlich leichter lernen, weil eben die Kombination von Wissen und
Intelligenz die wirkungsvollste Voraussetzung sein. Aber zugleich betonte
sie auch, dass dieser Vorteil auch wirklich genutzt werden müsse, denn auch
intelligente Kinder verspielten ihren Vorsprung, wenn sie nicht lernten, und
würden dann von weniger intelligenten Kindern überholt.
Die Frage, ob dieser Vorsprung uneinholbar sei, wurde von Elsbeth Stern
eindeutig verneint. Allerdings betonte sie in diesem Zusammenhang, dass
derjenige, der sich auf seiner Intelligenz ausruhe, abgehängt werde. Denn,
so begründete sie diese Auffassung, Defizite in der Intelligenz ließen sich
durch Vorwissen offensichtlich wettmachen. Umgekehrt sei dies allerdings
nicht der Fall. So kommt sie zum Schluss, Intelligenz komme letzten Endes
nur dem wirklich zugute, der sie in Wissen umgesetzt habe. Auf die Frage, ob
sie damit letzten Endes zur "guten alten Paukschule" zurückkehren wolle,
antwortete die Lernforscherin:
"Nein, ganz im Gegenteil, wir brauchen einen viel moderneren
Unterricht. Und natürlich sind Sozialkompetenz und Lernstrategien wichtig.
Aber die Vorstellung, wonach man derartige Kompetenzen losgelöst vom
Inhaltswissen lernen kann, ist nicht richtig. "
Wenig hält Stern davon, Lernen lernen als eine Art "Trockenübung" zu
veranstalten, denn Lernstrategien fielen stets als Nebenprodukt ab, wenn
Unterricht anregend sei. Denn, daran lässt sie keinen Zweifel: "Die so
genannten Schlüsselqualifikationen sind lernbar, aber nicht lehrbar. Nehmen
Sie das Beispiel der Sozialkompetenz. Die umfasst auch die Fähigkeit, einen
schwierigen Sachverhalt anderen Menschen erklären zu können. So etwas kann
nicht in einer beliebigen Situation trainiert werden. Wenn die Kinder als
Übung zur Sozialkompetenz gemeinsam frühstücken, dann lernen sie dabei
nicht, wie man einem anderen Kind eine Mathematikaufgabe erklärt. Der Inhalt
ist eben nicht egal."
Experimente, z. B. , arbeitsteilig gestalten zu lassen, und zwar von der
Vorbereitung bis zur Auswertung, ist für Stern ein Weg, der als Lösung aus
der Problematik hinausführen könnte, wenn es darum geht Inhalte und
Lernstrategien und Kompetenzen sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Und aus
diesem Grunde spreche sie auch lieber von der "Fähigkeit zur
inhaltsbezogenen Zusammenarbeit" als von Sozialkompetenz, denn schließlich
habe das, worum es dabei gehe, "nichts damit zu tun, wie nett jemand ist
oder wie gut er Partys schmeißen kann."
"Zum Beispiel die Schüler ein Experiment arbeitsteilig gestalten lassen, von
der Vorbereitung bis zur Auswertung. Damit bereite ich sie auf Situationen
vor, mit denen sie im Beruf konfrontiert werden. Ich sage statt
Sozialkompetenz lieber 'Fähigkeit zur inhaltsbezogenen Zusammenarbeit'.
Auf die Aufforderung, dieses genauer zu erläutern, führte die
Lernforscherin aus: "Die Auffassung, dass wir unseren Intellekt am besten an möglichst
komplexen und abstrakten Problemen schulen, unabhängig vom Inhalt. Dahinter
steckt häufig die Annahme, dass eine Aufgabe auf ihre abstrakte Struktur
reduziert wird, welche dann auf neue Probleme übertragen werden kann. Diese
Art von Wissenstransfer – das zeigen zahlreiche Studien – bleibt jedoch in
der Regel aus. Es gibt kein Lernen ohne Inhalt. Wenn man möchte, dass
Schüler verstehen, warum ein Auto fährt, müssen sie physikalische
Gesetzmäßigkeiten verstehen. Wenn ich lernen will, Texte zu lesen und zu
verstehen, dann muss ich eben anspruchsvolle Texte lesen und interpretieren.
Da kann ich nicht irgendwas machen. Latein ist auch ein gutes Beispiel: Dem
Lateinlernen wurde immer ein geheimnisvolles Gehirntraining nachgesagt.
Unsere Studien haben aber ergeben, dass es nicht etwa das logische Denken
fördert. Es fördert das, was es zum Inhalt hat, etwa das genaue Achten auf
grammatische Strukturen. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass
unser Gehirn mit beliebigen geistigen Aktivitäten trainiert werden kann.
ZEIT: Aber das Anhäufen von Wissen kann doch nicht die Alternative sein.
STERN: Mir geht es um intelligentes Wissen, das sich breit und flexibel
einsetzen lässt, nicht einfach nur um Faktenwissen. Die Schüler sollen
Konzepte verstehen, nicht isolierte Informationen sammeln."
(Interviewauszüge aus: "Wissen schlägt Intelligenz“ - Der Geist kann nicht an beliebigen
Themen trainiert werden. Ein Gespräch mit der Lernforscherin Elsbeth Stern,
in: Die Zeit 27(2003), 26.6.2003)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet:
26.12.2016 |
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