Vielerorts zitiert
worden ist, was der berühmte mexikanische Filmregisseur »Luis
Buñuel (1900-1982) über das ▪
Gedächtnis gesagt hat: "Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis
zu verlieren, und sei's nur stückchenweise, um sich darüber klar zu
werden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne
Gedächtnis wäre kein Leben ... Unser Gedächtnis ist unser
Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne
Gedächtnis sind wird nichts ..." (Buñuel
1985, S.2, zit. n.
Wentura/Frings 2013, S.101)
Welche Vorstellungen
wir uns dabei über das Denken und unser Wissen machen, bestimmt
dabei natürlich auch unsere Vorstellungen darüber, wie unser
Gedächtnis funktionieren könnte. Unsere Alltagsvorstellungen über
das Gedächtnis korrespondieren also stets auch mit denen, die wir ▪
über das Denken im Allgemeinen
haben.
Die Welt, wie wir
sie mit ihren Ereignissen und Objekten wahrnehmen, ist, so sagen wir
gewöhnlich, in unserem
Kopf. Was um uns herum geschieht, was wir tun und was wir erleben,
ist in unserem Gedächtnis auf verschiedene Art und Weise vorhanden
und wird mit unterschiedlichen Gedächtnisspuren in unserem
Gedächtnis repräsentiert.
Alles, was wir über die Welt wissen und in
Erfahrung gebracht haben, und alles, was wirzu tun gelernt haben
und sei es noch so unscheinbar, ist Teil unseres Gedächtnisses.
Woher sollten wir sonst wissen, dass es einen Zusammenhang zwischen
Blitz und Donner gibt, wenn wir zum Zeitpunkt des Donners schon
wieder vergessen hätten, dass es es kurz zuvor geblitzt hat? Nur
weil wir ein Gedächtnis haben, können wir etwas vorhersagen.
Dabei
besteht unser Gedächtnis aus weit mehr als den Informationen, die
wir sprachlich wiedergeben können. Was damit gemeint ist, wird
schnell klar, wenn wir uns ein Beispiel verdeutlichen: Wer nach
einer langjährigen Unterbrechung entscheidet, wieder Snowboard zu
fahren, macht vielleicht, mehr als ihm/ihr lieb ist, die Erfahrung,
dass er/sie vieles beim Handling mit dem Board "verlernt", d. h.
vergessen hat. Die "Automatismen", so könnte man vereinfacht sagen,
für dieses zielgerichtete Handeln stehen einem einfach nicht mehr so
zur Verfügung, wie man das, ohne vorher je darüber nachzudenken,
gewohnt gewesen ist. Auch, wenn wir über solche
"Automatismen" bzw. prozeduralen Routinen nachdenken, können wir oft
kaum erinnern und verbalisieren, was wir dabei tatsächlich tun.
Hans
Joachim Markowitsch hat dafür in seinem YouTube-Video
Systeme des Langzeitgedächtnisses (1:52/7:37) ein
prägnantes Beispiel dargestellt: Auf die Frage "Was tun Sie als
erstes, wenn sie beim Autofahren vom 2. in den 3. Gang schalten?"
antworten wir nämlich, wenn wir uns diesen Vorgang vorstellen und
aus dem Gedächtnis abrufen, in der Regel mit "Kupplung drücken".
Dass wir aber vorher, den rechten Fuß erst einmal vom Gaspedal
nehmen müssen, wird im Allgemeinen nicht erinnert.
Wer sein Gedächtnis
aufgrund einer Amnesie verliert, muss sich die Welt immer wieder neu
erschafften und befindet sich damit in einer äußerst schwierigen
Lage, wie ▪
bestimmte Beispiele von Menschen verdeutlichen, die dies
erleiden. Ohne unser Gedächtnis wissen wir auch nicht, wer wir sind.
Unser Gedächtnis ist
keine Festplatte und unser Augen keine Kamera
Wir kommen mit dem, was in der Welt um uns und in unserer
inneren Welt vor sich geht, über eine sind eine Vielzahl von
Reize
in Berührung, die auf uns
einwirken. Die Erfahrungen, die wir mit ihnen machen, können wir
aber nicht in ihrer Totalität und in ihren unendlich vielen Einzelheiten im
"Kopf behalten".
Könnten wir die Welt um uns herum quasi 1:1 in
unserem ▪
Gehirn abbilden, käme
unser Gehirn
schnell an seine Kapazitätsgrenzen. Mit einem einfachen Klick einer
Kamera oder einer unbeschriebenen
Festplatte unbegrenzter Kapazität, auf der mit
einem einfachen Mausklick die äußere Welt, die wir erlebt haben oder
erleben, abgelegt werden kann, hat das Ganze jedenfalls nicht viel zu
tun. Unser Gedächtnis hält kein 1:1-Abbild der Wirklichkeit
parat.
Trotzdem: Gerade diese
Vorstellungen über "die Welt in unserem Kopf"
prägen die Vorstellungen, die wir uns im Alltag über das Denken
machen. Im Allgemeinen kommen wir mit solchen Alltagstheorien auch ganz
gut zurecht. Das ist auch nicht verwunderlich. Schließlich hat die Menschheit in ihrer wechselvollen Geschichte
schon vor dem naturwissenschaftlichen Zeitalter, lange bevor
Hirnforschung und empirische Kognitionspsychologie in aller Munde war,
ihr individuelles, gesellschaftliches und kulturelles Handeln von dem
leiten lassen, was sie über die Welt "gedacht" hat.
Individuelle
Gedächtnisgeschichten und unsere Lernerfahrungen prägen unsere
Alltagvorstellungen
Dass uns, was in
unserem "Kopf" vorgeht, kann uns aber schon manchmal in
Erstaunen versetzen wenn uns
unser Gedächtnis wieder einmal ein Schnippchen schlägt. Aber auch dann,
wenn Menschen das Gedächtnis einzelner Menschen viel mehr leisten
kann als das unsere (man spricht hier auch von ▪
Inselbegabungen)
haben, fasziniert uns. Unser Gedächtnis und unsere eigenen
Erfahrungen mit ihm können mit dem der "Inselbegabten" in keiner
Weise mithalten, faszinieren uns aber sehr, ohne dass wir uns
erklären können, wie die "Gedächtniskünstler" das eigentlich
"machen".
Dass uns unser
Gedächtnis manchmal im Stich lässt, ist aber nicht außergewöhnlich
und die Tatsache, dass wir uns oft nicht erklären können, warum dies
so ist, auch nicht. Meistens haben wir z. B. keine Erklärung
dafür, warum wir den
Namen einer bestimmten Person, die wir
schon lange kennen, immer wieder vergessen. Das kann in einer bestimmten
sozialen Situation sehr unangenehm sein, hat im Allgemeinen aber wohl
keine großen Auswirkungen auf unser Handeln. Hätte sich indessen ein
früher »Homo sapiens
nicht daran erinnern können, dass ein »Säbelzahntiger
ein sehr gefährliches Tier gewesen ist, dann hätte er das wohl mit dem
Leben bezahlen müssen.
Gewöhnlich hat jeder*, soweit er/sie sich daran erinnern kann, seine
eigenen "Gedächtnisgeschichten" oder
weiß von irgendwelchen Gedächtniskapriolen,
wie wir manchmal sagen, zu berichten, weil sie auch Teil unseres
autobiographischen Gedächtnisses geworden sind.
Die Welt in unserem
Kopf
Wahrnehmung, Denken und Gedächtnis liegen in unseren Alltagstheorien
sehr nahe beieinander, weil sich das, was sich dabei vollzieht, so
sehr wir uns auch anstrengen, nicht selbst an uns beobachten können.
So sprechen wir eben
metaphorisch
von der "Welt in unserem Kopf".
Mit dieser Metapher können wir damit
im Allgemeinen zurechtkommen, wenn wir zwischen der
Wahrnehmung und der Verarbeitung der Reize, die wir empfangen, kaum einen
Unterschied machen. Und auch die oben erwähnten Kamera-
und die Festplatten–Metaphern
liegen auf dieser Linie, weil Analogien zwischen Kamera und Auge bei
der visuellen Wahrnehmung nahe liegend scheinen und die Analogien mit
dem Computer deshalb so häufig verwendet werden, weil sie einem
einfach "ins Auge springen", wie man redensartlich sagt.
Sie erscheinen uns dann einfach ohne weitere Hinterfragung plausibel genug, um
das, was wir über Denk- und Gedächtnisprozesse im Alltag wissen
müssen, zu erklären. Wenn wir etwas mehr über das Gedächtnis
wissen wollen, hängt dies vor allem mit der Sicht auf das Lernen zusammen,
das sich in manchen Bereichen unserer Gesellschaft entwickelt hat.
Allerorten werden Gedächtnisfähigkeiten unter dem Blickwinkel der Effizienzsteigerung und der
Selbstoptimierung zu einer
Ware gemacht hat, die ganzen Berufsgruppen von Gedächtniscoaches
mit Kursen zur Mnemotechnik eine Existenzgrundlage bietet.
Generell prägen
unsere
Lernerfahrungen in ganz entscheidender Weise unsere
Vorstellungen über das Gedächtnis. Warum will uns das eine einfach
nicht in den Kopf hinein, während anderes scheinbar problemlos
gelernt und erinnert werden kann? Jede/r hat da so seine Antwort,
die auf den im Leben gemachten Erfahrungen beruhen und macht sich
auf sein Lernen auch seinen eigenen Reim.
Ein
paar wenige,
vereinfachte Hinweise über die Grenzen derartiger Alltagstheorien, die
verdeutlichen sollen, wie wir mit dem umgehen, was auf uns aus
unserer Umwelt einwirkt. In der
▪
Wahrnehmungspsychologie
spricht man hier von ▪
Reizen.
Jeder, der uns über unsere
verschiedenen • Wahrnehmungssysteme (▪
Sinne) ▪ zugänglichen
Reize
ist für sich einzigartig und
unterscheidet sich mehr oder weniger von anderen Reizen. So klingt z. B.
jede Stimme
anders und jeder nimmt sie in gewisser Weise auch anders wahr,
selbst wenn die physiologischen Prozesse, die dabei ablaufen, die
gleichen sind.
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Unsere verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten verarbeiten die
▪ Reize
aus unserer Umwelt, man spricht auf dieser Stufe von
distalen
Reizen, mit bestimmten Rezeptoren, die auf bestimmte
physikalische oder chemische Eigenschaften der Objekte reagieren. Was
uns, die wir ja nur im Kopf haben, was am Ende dabei herauskommt,
überhaupt nicht bewusst zugänglich ist, müssen wir uns also auf
andere Weise erklären.
Unsere Sinne "zerlegen" (extrahieren)
nämlich mit ihren jeweiligen Rezeptoren, was uns nach seiner
kognitiven Verarbeitung im Kopf als ein einheitliches Ganzes mental
repräsentiert wird. Einen Baum, den unser Auge wahrnimmt, ist
zunächst auf dieser Stufe der •
visuellen Wahrnehmung
wohl nur eine Gestalt, die aus Linien, Geraden und Farben besteht.
Ein Lied, das gesungen wird, wird mit der dafür vorgesehenen
▪
Sinnesmodalität in
Lautstärke, Tonhöhe, Frequenz usw. "zerlegt".
Dann werden diese "Einzelheiten" des Reizes zum Teil
schon in einer frühen Phase der Verarbeitung in einer bestimmten Art und
Weise wieder zusammengesetzt. Schließlich werden sie in unserem kognitiven System so
weiterverarbeitet, dass wir am Ende eine mentale, d. h. symbolische
Repräsentation dessen aufbauen, was um uns oder auch in uns vorgeht.
Die
Gedächtnisspur, die ein bestimmter ▪
Reiz also in unserem Gehirn
hinterlässt, ist also ein komplexer Vorgang, bei dem der eingehende
distale
Reiz aus der Menge aller anderen Reize um uns herum ausgewählt wird. Als
proximaler
Reiz durchläuft er dann mehrere neuronale Verarbeitungsstufen.
In einem
weiteren psychologischen Prozess gelangt man am Ende zur Wahrnehmung (Identifikation, Einordnung
bzw. Kategorisierung) der Objekte und zu ihrem Erkennen.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
26.07.2024
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