Das Bindungsproblem stellt bis heute das wohl größte ungelöste
Problem aller mit den Hirnfunktionen beschäftigten Wissenschaften dar.
Darunter versteht man, stark vereinfacht, die Fähigkeit des
▪ Gehirns,
aus der überwiegend parallelen Verarbeitung sensorischer Daten, ohne
Vorhandensein eines alles koordinierenden Gehirnteiles zu einer
einheitlichen Vorstellung zu gelangen.
Anders ausgedrückt geht es dabei um
die Frage, "wie die Informationen zusammengefasst werden, die in den
neuronalen Prozessen im
▪
Cortex verteilt sind, um
schließlich die Einheit der Wahrnehmung zu erreichen, zum Beispiel das
Sehen eines kohärenten Gegenstandes." (Goldstein
2002, S. 141)
Hinter dem Bindungsproblem, so wird vermutet,
stehen aber letzten Endes mehrere verschiedene Bindungssysteme, die dafür
sorgen, dass die zahlreichen, im Cortex getrennten Signale am Ende zur
Wahrnehmung eines bedeutungshaltigen Gegenstandes oder Ereignisses wird.
Auch der Ansatz der
▪ Merkmalsanalyse,
der für einfache Objekte ganz gut "funktioniert", gerät hier schnell
an seine Grenzen, denn letzten Endes bleibt auch er "mit dem Problem
der Integration konfrontiert." (Müsseler
2017, S.34), da auch sie letzten Endes kaum erklären kann, "wie
(...) das verarbeitende System in einer Szene mit mehreren Objekten
(erkennt), welche Merkmale zu welchen Objekten gehören" (ebd.)
Das lässt sich am folgenden Beispiel (vgl.
ebd.) gut
zeigen: Wenn ein rotes Dreieck und ein grüner Kreis gegeben sind,
dann sind in früheren Verarbeitungsprozessen die Form-Merkmale (Dreieck
und Kreis) und die Farbmerkmale (rot und grün)
unabhängig voneinander identifiziert und extrahiert worden. Nun
müssen sie mit Hilfe eines bestimmten Mechanismus so miteinander in
Verbindung gebracht werden, dass das Farbmerkmal rot dem
Dreieck und nicht dem Kreis zugeordnet wird oder umgekehrt das
Farbmerkmal grün dem Dreieck. Hier müssen also die
"richtigen" Merkmale miteinander verbunden werden.
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Verschiedene Ansätze
zur Lösung des Bindungsproblems
Es gibt inzwischen
eine ganze Reihe von Ansätzen, die das Bindungsproblem (binding
problem) erklären. Drei Antworten auf das Bindungsproblem sollen hier dargestellt werden:
-
Das klassische Konzept der
Einzellenkodierung
-
Das konnektionistische Modell der
Populationscodierung
-
Das Modell der Merkmalsintegration
durch Aufmerksamkeit
-
Die
dreidimensionale Objekterkennung (Geons)
Eine der Antworten, die im Zusammenhang mit dem
Bindungsproblem immer wieder diskutiert wird, ist die Konvergenz der
Neuronen. Dabei kann man sich auf bestimmte neurobiologische Tatsachen
stützen: So werden z. B. im Auge die ankommenden Informationen von über
100 Millionen Rezeptoren aufgenommen, "die aber dann die Signale so
ändern, dass sie möglichst naturgetreu in einer viel kleineren Anzahl von
Ganglienzellen weiter zum Gehirn geschickt werden können." (Gegenfurtner
2005 S.41)
Die auch in den Kognitionswissenschaften vertretene Vorstellung
neuronaler Konvergenz hat dabei u.
a. zu den zwei verschiedenen Konzepten der Einzellen- und der
Populationscodierung geführt.
1. Das klassische Konzept der Einzellenkodierung
Das klassische Konzept sieht am Ende des neuronalen Prozesses
eine Art "Superneuron", das als spezialisiertes
Bindungsneuron alle jene Signale, die
gebunden werden sollen, über konvergierende Nervenbahnen zusammenführt.
Diese
Einzellenkodierung
bedeutet, auf die
▪ visuelle Wahrnehmung angewendet, dass auf der
höchsten Verarbeitungsstufe sogar komplexe Objekte wie z. B. die Birke im
Garten, der Computerbildschirn, das Glas Wein vor einem oder auch die
eigene Großmutter in einzelnen Neuronen kodiert sein müssten. Aber:
"Solche »Großmutterzellen«, wie sie
im Jargon der Hirnforscher genannt werden" und die ihr zugrunde liegende
"Einzelldoktrin" ist heute allerdings überwunden.
Die Bedeutung, die dieser neurobiologische Ansatz über längere Zeit
gewonnen hat, war nicht zuletzt der von den Kognitionswissenschaften
bevorzugten "Computer-Metapher"
mit serieller Informationsverarbeitung geschuldet. Sie stellt das
klassische kognitionswissenschaftliche Paradigma dar, das nach
Engel/König (1998, S. 156)
von der Annahme ausgeht, "dass kognitive Prozesse als algorithmische
Rechenoperationen verstanden werden können, die formalisierten Regeln folgen
und mit
propositional organisiertem Wissen
über die Welt arbeiten." Doch diese und andere Grundannahmen des
klassischen Konzepts erwiesen sich als falsch.
-
Die
Informationsverarbeitung im visuellen System verläuft nämlich
nicht in Form serieller
Abarbeitung bestimmter Verrechnungsschritte. Die an der
Verarbeitung visueller Informationen beteiligten über 30 Hirnareale sind
eben nicht mehr seriell angeordnet. "Die primäre Sehrinde verteilt ihre
Verarbeitungsergebnisse parallel an eine
Vielzahl miteinander vernetzter Hirnregionen, Jedes dieser Areale
bearbeitet jeweils nur einen Teilaspekt der in der
▪ primären Sehrinde vorverarbeiteten visuellen Signale. Einige
Areale befassen sich vorwiegend mit der Analyse von
Bewegungsinformationen, andere mit der Farbe oder mit figürlichen
Aspekten von Objekten, und wieder andere berechnen die Entfernung von
Objekten zueinander und zum Betrachter." (Singer
1997, S. 39f., Hervorh. d. Verf.)
-
Wenn
objekt-repräsentierende Neuronen motorische Reaktionen steuern sollten,
müssten Myriaden von Nervenzellen in motorischen Arealen und die von
ihnen kontrollierten Muskelzellen gleichzeitig in koordinierter Weise
aktiviert werden. Die Aktivität einzelner Bindungsneurone müsste auf
viele Millionen anderer Nervenzellen in jeweils neuer, kontextabhängiger
Weise rückverteilt werden, damit eine spezifische motorische Aktion
erfolgen kann." (Singer
1997, S.47)
-
Die behaupteten "Großmutterzellen" konnten im Gehirn nicht gefunden
werden und "repräsentationale Zustände im Gehirn (sehen) ganz anders
(aus), als es von der 'Einzellendoktrin' postuliert wurde." (Engel/König
1998, S. 164)
-
Da Gehirne keine zentrale Recheneinheit besitzen, die als
Konvergenzzentrum fungieren könnte, und weder Rechenregeln noch
Algorithmen verkörpern, hat die Computer-Metapher mit ihrer Orientierung
an rein hierarchischen Verarbeitungsstrukturen ausgedient, auch wenn
sie, wie der ganze klassische Ansatz, eine intuitive Plausibilität
aufweist, die ihm gelegentlich wieder zur Wiederauferstehung verhilft.
2. Das konnektionistische Modell der Populationscodierung
Das zweite Konzept, das einen Paradigmenwechsel beinhaltet, ist das
Konzept der Selbstorganisation in neuronalen Netzen, das von Wolf Singer
und seinen Mitarbeitern entwickelt worden ist. Es stützt sich dabei auch
auf neurologische Befunde, nach denen davon auszugehen ist, dass die
neuronalen Merkmalsdetektoren im Cortex in unterschiedlichen
Regionen räumlich verteilt sind und lokalisierbar sind. (vgl.
Müsseler 2017,
S.35)
Das
konnektionistische
Wahrnehmungsparadigma betont die dynamischen Netzwerkeigenschaften
sensorischer Systeme. Grundsätzlich beruht es auf der Annahme, "dass sich
Neurone, deren Antworten gebunden werden sollen, auf dynamische Weise zu
funktionell kohärenten Ensembles gruppieren." (Singer
1997, S.46) Im Kern bedeutet dies, dass eine bestimmte Zelle zu
verschiedenen Zeitpunkten zu unterschiedlichen Ensembles (Populationen,
Assemblies) gehören kann, die dann jeweils eine distinktive Information
repräsentieren. Diese Populationscodes sorgen dafür, dass "auf diese Weise
mit einer begrenzten Zahl von Nervenzellen nahezu beliebig viele Merkmale
repräsentiert werden." (ebd.,
S.50) Und auch die Repräsentation neuer Informationen lässt sich so vergleichsweise einfach bewerkstelligen, da dafür ja nur die
Kombination erregter Nervenzellen verändert werden muss. Der "Neubau" von
Verbindungen ist daher nicht nötig. (vgl.
ebd.)
Die Entstehung eines perzeptuellen Ganzen ist nach diesem Ansatz auf die
Synchronizität der Reizantworten zurückzuführen, "die an unterschiedlichen
Stellen der Hirnrinde auftreten, jedoch vom selben Gegenstand
hervorgerufen werden." (Goldstein
2002, S. 137)
Der konnektionistische Ansatz lässt sich nach
Engel/König (1998, S.
164ff.) an fünf
konzeptionellen Bestandteilen aufzeigen:
-
Er geht von
parallelen und
verteilten Verarbeitungsstufen in einem komplexen Netzwerk aus,
"in dem es mehrere parallele Ein- und Ausgänge gibt und jedes Areal mit
seinen Nachbarn über reziproke Verbindungen gekoppelt ist." Der Ausschnitt aus einem schematischem Diagramm, das die an der
Verarbeitung visueller Signale beteiligten Areale des Cortex
dargestellt, zeigt, dass alle Systeme der Wahrnehmung miteinander
verflochten sind und keine Konvergenzzentren existieren. (vgl.
Singer
1997, S.40f.)
-
Er betont, die
Selbstorganisation und
Plastizität des Gehirns, dessen neuronale Verbindungen in der
Hirnrinde nicht genetisch festgelegt sind, sondern ist im Wesentlichen
"durch aktivitätsabhängige plastische Prozesse bedingt", die auch
Lernvorgänge und bemerkenswerte Gedächtnisleistungen im höheren
Erwachsenenalter möglich machen. (vgl. auch
Gerald Hüther 2001, S.
24: "Ein zeitlebens lernfähiges Gehirn ist auch lebenslänglich
veränderbar.")
-
Er lehnt die funktionelle
Bedeutung einzelner Neurone ab. Stattdessen legt er Gewicht auf die
Tatsache, "dass die mittlere Feuerrate eines sensorischen Neurons nicht
nur von der Reizung im Bereich des rezeptiven Felds abhängt", sondern
auch von globalen
Aspekten der Reizkonfiguration oder auch vom
Verhaltenskontext, z. B. bei
▪
Aufmerksamkeitsleistungen beeinflusst wird.
-
Für ihn sind
Assemblies
(Populationen) die grundlegenden funktionellen Einheiten, die als
die kohärent aktiven Zellverbände im Cortex agieren und bestimmte
Neuronen dynamisch einbinden.
-
Er rückt die Dynamik
kognitiver Systeme bei der neuronalen Verarbeitung ins Blickfeld und
betont, "dass deren Funktionsprinzipien prinzipiell nur dann
verständlich werden können, wenn man ihre zeitliche Entwicklung
betrachtet."
Gegen das konnektionistische Paradigma mit seiner Vorstellung der
Populationscodierung, wird vor
allem angeführt, dass bislang völlig ungeklärt sei, "wie »Code« im Cortex
ausgelesen und verarbeitet werden kann." ((Goldstein
2002, S. 138)
3. Das Modell der Merkmalsintegration durch Aufmerksamkeit
Auf
eine ganz andere Weise löst »Anne
Treisman (1935-2018) das Bindungsproblem. In ihrer »Merkmalsintegrationstheorie
übernimmt die
▪ (visuelle) Aufmerksamkeit
die erforderliche Bindung zwischen den verschiedenen neuronalen Antworten.
Dabei durchläuft
die Objektwahrnehmung eines dreidimensionalen Objekts in fünf
Stufen:
-
Auf der Stufe der
»präattentiven
Verarbeitung werden Reizmuster im Zuge eines parallelen
Verarbeitungsprozesses werden in ihre elementaren Bestandteile
zerlegt und damit identifziert. Auf den nachfolgenden Stufen
werden diese Informationen dann seriell verarbeitet.
-
Auf der zweiten
Stufe, der »attentiven
Verarbeitung, werden die Elementarteilchen mit Hilfe
gerichteter Aufmerksamkeit werden zu einem Ganzen. d. h. zu
einem zusammenhängenden (kohärenten) Objekt zusammengefügt.
Allerdings kann es auch vorkommen, dass die elementaren Merkmale
falsch miteinander verknüpft werden, wenn sich ddie
Aufmerksamkeit nicht auf den bestimmten Ort, wo sich das Objekt
befindet, richtet (»illusorische
Konjunktion bzw. illusorische Verbindung).
-
Auf der dritten
Stufe wird das gesamten dreidimensionale Objekt wahrgenommen.
-
Auf der vierten
Stufe kommt es zum Abgleich mit dem vorhandenen Wissen, d. h.
zum Vergleich des wahrgenommenen 3-D-Objekts mit gespeicherten
Repräsentationen.
-
Kommt es bei
diesem Abgleich zu Übereinstimmung mit den gespeicherten
Repräsentationen kommt es zur Objekterkennung.
4. Die dreidimensionale Objekterkennung (Geone)
Während andere
Theorien zur Objektwahrnehmung sich vor allem an zweidimensionale
Objekte halten und diese analysieren, gibt es auch eine ▪
Theorie zur
Erkennung dreidimensionaler Objekte, die »Irving
Biederman (*1939) (1987)
entwickelt hat. Sie betrachtet dabei die Objektidentifikation als
ein von der Betrachtungsperspektive, z. B. ob das Objekt in schräger
oder gerader Ausrichtung wahrgenommen wird, unabhängigen Prozess.
Das bedeutet, dass unser Wahrnehmungssystem eine vom Blickwinkel
unabhängige Objektrepräsentation aus den gegebenen Reizbedingungen
ableitet.
Dabei entwickelte
Biederman die von »David
Marr (1945- 1980) (1987)
konzipierte konstruktivistische ▪ Theorie weiter, mit der dieser
zeigen konnte, dass die Objektwahrnehmung einen mehrstufigen
Verarbeitungsprozess durchläuft, die mit dem zweidimensionalen
Abbild des jeweiligen Objekts auf der Netzhaut (Retinaabbild)
beginnt und am Ende zur Identifikation des dreidimensionalen
Objektes führt.
Um die Frage zu klären, wie wir Objekte weitgehend
perspektivenunabhängig erkennen und auch unbekannte Objekte
wahrnehmen und repräsentieren können, schlägt
Biederman
(1987) vor, von einer "Art Alphabet zur Beschreibung von
Objekten" (Wentura/Frings
2013, S.67) auszugehen. Dabei seien Objekte in dieser
Alphabet-Metapher "wie Wörter, die aus Buchstaben zusammengesetzt
sind. Die Buchstaben sind die sogenannten
geometric icons, oder kurz
geons." (ebd.)
In der neueren Forschung versucht man angesichts der Tatsache,
dass auch diese Theorien nicht alles erklären können, einen
Mittelweg zu gehen. So werden angesichts der Debatte, die um die
Perspektivenabhängigkeit oder Perspektivenunabhängigkeit der
Objekterkennung geführt wird, mehr und mehr sogenannte hybride
Modelle ins Spiel gebracht, "die sowohl perspektivenunabhängige
Prozesse als auch perspektivenabhängige, auf einzelnen
zweidimensionalen Sichten basierende Objekterkennung postulieren." (ebd.,
S.73) Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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