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Aspekte der Erzähltextanalyse: Borchert, An diesem Dienstag

Ulla-Episode

 
FAChbereich Deutsch
Center-Map Glossar Literatur Autorinnen und Autoren Wolfgang Borchert Kurzgeschichten ● Nachts schlafen die Ratten doch Die Küchenuhr An diesem Dienstag Text [ Aspekte der Erzähltextanalyse Aspekte der Sinnkonstruktion Texterfassung mit Annotationen (Parallelkonspekt) Inhaltliche Gliederung Inhaltsangabe in zwei Varianten  ▪ Erzähltechnik und Sprache Ulla-EpisodeInterpretation ] Bausteine Die KirschenDas Brot Die drei dunklen Könige Lesebuchgeschichten Mein bleicher Bruder ▪  Die Katze war im Schnee erfrorenDer Kaffee ist undefinierbar Die lange lange Straße lang Die Mauer Das Gewitter  Die traurigen Geranien Im Schnee, im sauberen Schnee Bleib doch, Giraffe ▪  Gottes Auge Schreibformen
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Bausteine

Die Ulla-Episode

Die Geschichte der Schülerin Ulla im Rahmen der ▪ Kurzgeschichte ▪ »An diesem Dienstag« von ▪ Wolfgang Borchert rahmt das übrige Geschehen der Geschichte ein. Zwei einzelne Episoden aus dem Leben von Ulla bilden die Gesamteinheit der Ulla-Episode.


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Ohne dass der Text darüber klar Auskunft gibt, was aber wohl zum vorausgesetzten allgemeinen Weltwissen gehört, beginnt das, was an diesem Dienstag, an einem x-beliebigen Dienstag während des sogenannten "Russlandfeldzuges" der deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg passiert, morgens in einer Schule irgendwo im Deutschen Reich.

Schreibunterricht ist angesagt: Es soll das Schreiben von Großbuchstaben von 42 Mädchen in einer Schulklasse "der Lehrerin" geübt werden, die aus der Wahrnehmungsperspektive Ullas, einer der Schülerinnen, nur von ihrer dicken Brille charakterisiert wird. Ulla, der einzigen Schülerin, die namentlich erwähnt und in der ganzen Geschichte einen, und nur einen Vornamen hat,  kommen die Augen, die hinter den dicken Gläsern wohl nur verschwommen zu sehen sind, grotesker Weise "leise" vor, erweisen sich aber schnell als Argusaugen1, die den Fehler, den Ulla beim Abschreiben von Übungsätzen von der Tafel macht, sofort ausmachen und dafür sorgen, dass Ullas Fehler im "Notenbuch" festgehalten werden und Ulla eine Strafarbeit aufgebrummt werden kann. Kein Wunder: Ist ihr doch wahrscheinlich nicht entgangen, dass Ulla nicht konzentriert bei der Sache ist und lieber Faxen macht, indem sie mit der Zunge an ihrer Nasenspitze "spielt". "Die Lehrerin" geht dagegen nicht gerade zimperlich vor: Sie stößt die Schülerin und rügt sie mit barschen Worten vor der ganzen Klasse. Sie duldet keinen Widerspruch, als sie Ulla als Strafarbeit für den nächsten Tag aufgibt, den Satz "IM KRIEGE SIND ALLE VÄTER SOLDAT." zehnmal aufzuschreiben. Auch Ulla wagt nicht, etwas dagegen vorzubringen. Doch als sie sich abends, wahrscheinlich zu Hause, daran macht, die Sätze aufzuschreiben, schreibt sie den Ausgangssatz aber wieder nicht korrekt, oder wie die Lehrerin es verlangt hat, "schön sauber" ab. Es ist zwar nur der gezierte, geradezu überkorrekte, wahrscheinlich auch längst veraltete Dativ mit dem E am Ende, den sie beim ansonsten ordnungsgemäßen Schreiben weglässt, doch kann man darin, einen Ausdruck für ihr schon beim Spiel mit der Zunge gezeigtes nonkonformistisches Verhalten sehen: Sie akzeptiert damit die uneingeschränkte Autorität von "der mit der dicken Brille", wie sie die Lehrerin in einem kurzen inneren Monolog abwertet, nicht und fordert sie auf ihre Weise erneut heraus. Nicht zu erwarten, dass das der mit ihrer Brille geradezu bewehrten Lehrerin in der nächsten Stunde nicht auffallen wird.

Was als stupide Schreibübung daherzukommen scheint, hat es indessen in sich. Drei in Lettern an die Tafel geschriebene kurze Hauptsätze, die auf den ersten Blick willkürlich nebeneinander geworfen zu sein und ohne inneren Zusammenhang dazustehen scheinen. Bei genauerem Hinsehen jedoch dient diese Schreibübung der Indoktrination der Schülerinnen mit der nationalsozialistischen Ideologie.

  • Mit dem angeblich bedürfnislosen preußischen "Soldatenkönig", »Friedrich II. (1712-1786),  dem Großen,  der in seiner Zeit als Herrscher 23 Jahre lang Krieg geführt hat und statt aus einem feinem Glas aus einem Blechbecher trinkt, wird ein für die Nazis zum völkisch-rassistischen Vorbild erkorener und wegen seiner vermeintlichen Tugend, Tapferkeit und Vaterlandsliebe gerühmter König in dem Beispielsatz herangezogen, dessen Zitate als "Wochensprüche der NSDAP" in den Klassenzimmern hingen ("Es gibt keine Lorbeeren für die Faulen"). In verschiedenen Lehrbüchern tauchte er als "überragender nordischer Führer" tauchte auf, als "Erhalter der Wehrmacht" bejubelte ihn das Lesebuch "Volk und Führer" für die vierte Klasse und nach der Schule klebte man Zigarettenbildchen ins Album und das so genannte Winterhilfswerk verteilte eiserne Abzeichen mit dem Konterfei des Königs. (vgl. Der Alte Fritz und die Nazis, Main Post, 19. Januar 2012)
    "Und dann Friedrich als Krieger! »Er stand immer an vorderster Front«, sagt Eduard Stenger, »drei Pferde wurden ihm unter dem Leib weggeschossen.« Das Image des furchtlosen deutschen Frontkämpfers kam der Nazipropaganda entgegen. »Friedrich war ein Hasardeur«, erklärt Stenger, »und er hatte immer wieder unwahrscheinliches Glück.« Im Bunker, in dem der »Führer« seine letzten Tage verbrachte, hing ein Porträt von Friedrich II. Hitler selbst zog – angesichts der Niederlage – bis zuletzt Hoffnung aus der Lebensgeschichte des Preußenkönigs." (ebd.)

  • Der Nimbus der »dicken Berta, einer besonders starken Kanone mit hoher Durchschlagskraft, die im Ersten Weltkrieg, allerdings nicht vor Paris, zum Einsatz kam, wurde von den Nazis ebenso als militärtechnologische Wunderwaffe ihrer Zeit und damit deutscher militärischer Fähigkeiten gefeiert. Und ist sie, wie im Beispielsatz gar auf die Hauptstadt des benachbarten "Erzfeindes" ausgerichtet, um so besser. Das Gesicht des Krieges wird dabei hinter dem geradezu humorvoll bezeichneten Kriegsgerät dabei nicht sichtbar.

  • Geradezu perfide nach heutigem Ermessen ist die "Gehirnwäsche", der die abschreibenden Schulkinder mit dem dritten Satz "IM KRIEGE SIND ALLE VÄTER SOLDAT." unterzogen werden. Sie werden geradezu gegen Väter in Stellung gebracht , die aus irgendeinem Grund nicht Soldaten sind und zugleich darauf eingeschworen, dass ihre Abwesenheit nicht nur nötig, sondern vollkommen normal ist. Dabei macht der Verstoß des Satzes gegen die Regeln der grammatischen Kongruenz im Numerus bei der prädikativen Nominalphrase (Korrekterweise müsste es am Ende SOLDATEN heißen) durchaus Sinn. Hinter dem Singular, der sonst als eine Art Nicht-Kongruenz nur bei Bezeichnungen von Körperteilen oder Gegenständen zulässig ist, weil das genannte Element pro Bezugperson nur einmal vorhanden ist (vgl. DUDEN. Die Grammatik, 7. völlig neu erarb. u. erw. Aufl.2005, S.1004) (z. B. Alle Anwesenden hoben den Kopf. Viele haben bei den Kämpfen ihr Leben verloren.), verbirgt sich nichts anderes als die suggestive Reduzierung der entpersönlichten Individualität des Einzelnen auf das abstrakte Prinzip des Soldatseins.

Die Sätze, die an der schwarzen Tafel einer reinen Mädchenklasse mit ihrer weiblichen Lehrperson prangen, stellen eine männliche militarisierte Welt aus, in der Krieg zwar selbstverständlich, die Realität des Krieges aber ebenso wenig ihren Platz hat wie Frauen, die in den Sätzen nicht vorkommen. Unter diesem Blickwinkel scheint es gar nicht so ungewöhnlich, dass die Indoktrination im Falle Ullas offenbar nicht vollständig zu gelingen scheint. Ob man Ulla als die Tochter von Hauptmann Hesse verstehen kann, wie dies in etlichen Interpretationen zum Ausdruck gebracht wird, kann zwar eine gewisse kompositionsbedingte Plausibilität für sich in Anspruch nehmen, die erzählte Geschichte allerdings benötigt  eine solche Zuschreibung nicht, auch wenn sie dadurch verschiedene Handlungen an der Front und in der Heimat miteinander verknüpft. Ulla, das Schulmädchen, das sich, vielleicht nur emotional und intuitiv dem Totalitätsanspruch einer Ideologie und ihres willfährigen Instruments der Lehrerin wenigstens ein Stück weit entzieht, ist die einzige Figur, aus deren Handeln etwas Subversives schimmert. Mehr kann und will es nicht sein, ist das Mädchen doch noch immer nur ein Kind in einer der ersten Klassen der "Volksschule". Dieses Kind hat einen Namen und hebt sich daher aus der Masse heraus. Aus ihrer figuralen Perspektive ist "ihre" ganze Episode gestaltet, die einzige im Übrigen, die überwiegend der Wahrnehmungsperspektive, der Wertungsperspektive und der sprachlichen Perspektive einer Figur zugeordnet werden kann. Dies verdeutlicht die deiktische Verwendung des Personalpronomens  "sie" in dem Satz "übten sie in der Schule" oder das deiktische "die" in "die hatten keinen Rand" oder "die mit ihrer Brille". Und auch der Blick durch das Fenster auf den Schulhof erweist sich als eine Reaktion Ullas auf den Tadel ihrer Lehrerin. Was der Erzähler in den knapp 20, von wenigen Ausnahmen bei den ohne Wiedergabeindices wie Anführungszeichen präsentierten Äußerungen abgesehen, in kurzen Hauptsätzen parataktisch aneinanderreiht, ist auf den Wahrnehmungshorizont Ullas bezogen, die offenbar größeres Interesse daran hat, ihre Lehrerin mit der dicken Brille zu mustern und Faxen zu machen, als im Vollzug der Schreibübung zu gehorchen.

Dass ihr bei der Strafarbeit die "Eselsbrücke", die ihr die Lehrerin genannt hatte ("Krieg wird mit g geschrieben. G wie Grube.") im Sinn bleibt und die Ellipse "G wie Grube" den Schlusssatz der Geschichte darstellt, macht dabei deutlich, dass die Ulla-Episode in einem konstrastierenden Verhältnis zu dem Geschehen steht, das in den anderen Episoden "An diesem Dienstag" erzählt wird. Sie steht natürlich, wie alle anderen ineinander verschachtelten Episoden auch, nicht für sich allein, was schon durch ihre Zweiteiligkeit und rahmende Funktion sichtbar wird.

Das Bild der Grube, einem irgendwo ausgegrabenen Loch im Boden, das im Kontext des Geschehens an der Kriegsfront mit dem Verscharren von Kriegstoten konnotiert wird, nimmt das Motiv des Umgangs mit dem Sterben, dem Tod und den Toten auf, das in der Episode, in der Hauptmann Hesse im Seuchenlazarett unter unwürdigen Bedingungen stirbt und sein Leichnam ("Nummer 4") pietätlos vor seiner Beseitigung in einer Grube einfach irgendwo von der Bahre auf den Boden gekippt wird, besonders eindrücklich gestaltet ist.

1 Argusaugen: Wer etwas mit Argusaugen beobachtet, der lässt nichts unbeobachtet und von daher nichts aus den Augen; geht auf eine Redensart aus der »griechischen Mythologie zurück: Die Göttin »Hera ließ nämlich »Io, die in eine Kuh verwandelte Geliebte ihres Göttergatten »Zeus, von dem Riesen »Argos bewachen, um damit zu verhindern, dass sich Zeus und Io noch weiter nahekommen konnten. Argos (lat. Argus) war dafür mit hundert Augen ausgestattet, von denen jeweils ein Teil schlief, während der Rest wachte. Daher konnte er Io zu jeder Zeit im Auge behalten.

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 16.12.2023

 
 

 
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