1. Kapitel
In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von
Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein
auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite
hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst
auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen
hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem
Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf.
Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung und Lage genau dem
Seitenflügel entsprechend, lief eine ganz in kleinblättrigem Efeu
stehende, nur an einer Stelle von einer kleinen weißgestrichenen
Eisentür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der Hohen-Cremmener
Schindelturm mit seinem blitzenden, weil neuerdings erst wieder
vergoldeten Wetterhahn aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und
Kirchhofsmauer bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes
Hufeisen, an dessen offener Seite man eines Teiches mit Wassersteg und
angekettetem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren
horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing
- die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend. Zwischen Teich
und Rondell aber und die Schaukel halb versteckend standen ein paar
mächtige alte Platanen.
Auch
die Front des Herrenhauses - eine mit Aloekübeln und ein paar Gartenstühlen
besetzte Rampe - gewährte bei bewölktem Himmel einen angenehmen und zugleich
allerlei Zerstreuung bietenden Aufenthalt; an Tagen aber, wo die Sonne
niederbrannte, wurde die Gartenseite ganz entschieden bevorzugt, besonders
von Frau und Tochter des Hauses, die denn auch heute wieder auf dem im
vollen Schatten liegenden Fliesengange saßen, in ihrem Rücken ein paar
offene, von wildem Wein umrankte Fenster, neben sich eine vorspringende
kleine Treppe, deren vier Steinstufen vom Garten aus in das Hochparterre des
Seitenflügels hinaufführten. Beide, Mutter und Tochter, waren fleißig bei
der Arbeit, die der Herstellung eines aus Einzelquadraten
zusammenzusetzenden Altarteppichs galt; ungezählte Wollsträhnen und
Seidendocken lagen auf einem großen, runden Tisch bunt durcheinander,
dazwischen, noch vom Lunch her, ein paar Dessertteller und eine mit großen
schönen Stachelbeeren gefüllte Majolikaschale. Rasch und sicher ging die
Wollnadel der Damen hin und her, aber während die Mutter kein Auge von der
Arbeit ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte, von Zeit zu
Zeit die Nadel nieder und erhob sich, um unter allerlei kunstgerechten
Beugungen und Streckungen den ganzen Kursus der Heil- und Zimmergymnastik
durchzumachen. Es war ersichtlich, dass sie sich diesen absichtlich ein
wenig ins Komische gezogenen Übungen mit ganz besonderer Liebe hingab, und
wenn sie dann so dastand und, langsam die Arme hebend, die Handflächen hoch
über dem Kopf zusammenlegte, so sah auch wohl die Mama von ihrer Handarbeit
auf, aber immer nur flüchtig und verstohlen, weil sie nicht zeigen wollte,
wie entzückend sie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütterlichen
Stolzes sie voll berechtigt war. Effi trug ein blau und weiß gestreiftes,
halb kittelartiges Leinwandkleid, dem erst ein fest zusammengezogener,
bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals war frei, und über
Schulter und Nacken fiel ein breiter Matrosenkragen. In allem, was sie tat,
paarten sich Übermut und Grazie, während ihre lachenden braunen Augen eine
große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte verrieten.
Man nannte sie die »Kleine«, was sie sich nur gefallen lassen musste, weil
die schöne, schlanke Mama noch um eine Handbreit höher war.
Eben hatte sich
Effi wieder erhoben, um abwechselnd nach links und rechts ihre turnerischen
Drehungen zu machen, als die von ihrer Stickerei gerade wieder aufblickende
Mama ihr zurief: »Effi, eigentlich hättest du doch wohl Kunstreiterin werden
müssen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft. Ich glaube beinah, dass du
so was möchtest.«
»Vielleicht,
Mama. Aber wenn es so wäre, wer wäre schuld? Von wem hab ich es? Doch nur
von dir. Oder meinst du, von Papa? Da musst du nun selber lachen. Und dann,
warum steckst du mich in diesen Hänger, in diesen Jungenkittel? Mitunter
denk ich, ich komme noch wieder in kurze Kleider. Und wenn ich die erst
wiederhabe, dann knicks ich auch wieder wie ein Backfisch, und wenn dann die
Rathenower herüberkommen, setze ich mich auf Oberst Goetzes Schoß und reite
hopp, hopp. Warum auch nicht? Drei Viertel ist er Onkel und nur ein Viertel
Courmacher. Du bist schuld. Warum kriege ich keine Staatskleider? Warum
machst du keine Dame aus mir?«
»Möchtest du's
?«
»Nein.« Und
dabei lief sie auf die Mama zu und umarmte sie stürmisch und küsste sie.
»Nicht so wild,
Effi, nicht so leidenschaftlich. Ich beunruhige mich immer, wenn ich dich so
sehe ... « Und die Mama schien ernstlich willens, in Äußerung ihrer Sorgen
und Ängste fortzufahren. Aber sie kam nicht weit damit, weil in ebendiesem
Augenblick drei junge Mädchen aus der kleinen, in der Kirchhofsmauer
angebrachten Eisentür in den Garten eintraten und einen Kiesweg entlang auf
das Rondell und die Sonnenuhr zuschritten. Alle drei grüßten mit ihren
Sonnenschirmen zu Effi herüber und eilten dann auf Frau von Briest zu, um
dieser die Hand zu küssen. Diese tat rasch ein paar Fragen und lud dann die
Mädchen ein, ihnen oder doch wenigstens Effi auf eine halbe Stunde
Gesellschaft zu leisten. »Ich habe ohnehin noch zu tun, und junges Volk ist
am liebsten unter sich. Gehabt euch wohl.« Und dabei stieg sie die vom
Garten in den Seitenflügel führende Steintreppe hinauf.
Und da war nun
die Jugend wirklich allein.
Zwei
der jungen Mädchen - kleine, rundliche Persönchen, zu deren krausem,
rotblondem Haar ihre Sommersprossen und ihre gute Laune ganz vorzüglich
passten - waren Töchter des auf Hansa, Skandinavien und Fritz Reuter
eingeschworenen Kantors Jahnke, der denn auch, unter Anlehnung an seinen
mecklenburgischen Landsmann und Lieblingsdichter und nach dem Vorbilde von
Mining und Lining, seinen eigenen Zwillingen die Namen Bertha und Hertha
gegeben hatte. Die dritte junge Dame war Hulda Niemeyer, Pastor Niemeyers
einziges Kind; sie war damenhafter als die beiden anderen, dafür aber
langweilig und eingebildet, eine lymphatische Blondine, mit etwas
vorspringenden, blöden Augen, die trotzdem beständig nach was zu suchen
schienen, weshalb denn auch Klitzing von den Husaren gesagt hatte: »Sieht
sie nicht aus, als erwarte sie jeden Augenblick den Engel Gabriel?« Effi
fand, dass der etwas kritische Klitzing nur zu sehr recht habe, vermied es
aber trotzdem, einen Unterschied zwischen den drei Freundinnen zu machen. Am
wenigsten war ihr in diesem Augenblick danach zu Sinn, und während sie die
Arme auf den Tisch stemmte, sagte sie: »Diese langweilige Stickerei. Gott
sei Dank, dass ihr da seid.« »Aber deine Mama haben wir vertrieben«, sagte
Hulda. »Nicht doch. Wie sie euch schon sagte, sie wäre doch gegangen; sie
erwartet nämlich Besuch, einen alten Freund aus ihren Mädchentagen her, von
dem ich euch nachher erzählen muss, eine Liebesgeschichte mit Held und
Heldin und zuletzt mit Entsagung. Ihr werdet Augen machen und euch wundern.
Übrigens habe ich Mamas alten Freund schon drüben in Schwantikow gesehen; er
ist Landrat, gute Figur und sehr männlich. «
»Das ist die
Hauptsache«, sagte Hertha.
»Freilich ist
das die Hauptsache, 'Weiber weiblich, Männer männlich' - das ist, wie ihr
wisst, einer von Papas Lieblingssätzen. Und nun helft mir erst Ordnung
schaffen auf dem Tisch hier, sonst gibt es wieder eine Strafpredigt.«
Im Nu waren die
Docken in den Korb gepackt, und als alle wieder saßen, sagte Hulda: »Nun
aber, Effi, nun ist es Zeit, nun die Liebesgeschichte mit Entsagung. Oder
ist es nicht so schlimm? «
»Eine
Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm. Aber ehe Hertha nicht von den
Stachelbeeren genommen, eher kann ich nicht anfangen - sie lässt ja kein
Auge davon. Übrigens nimm, soviel du willst, wir können ja hinterher neue
pflücken; nur wirf die Schalen weit weg oder noch besser, lege sie hier auf
die Zeitungsbeilage, wir machen dann eine Tüte daraus und schaffen alles
beiseite. Mama kann es nicht leiden, wenn die Schlusen so überall
herumliegen, und sagt immer, man könne dabei ausgleiten und ein Bein
brechen.«
»Glaub ich
nicht«, sagte Hertha, während sie den Stachelbeeren fleißig zusprach.
»Ich auch
nicht«, bestätigte Effi. »Denkt doch mal nach, ich falle jeden Tag
wenigstens zwei-, dreimal, und noch ist mir nichts gebrochen. Was ein
richtiges Bein ist, das bricht nicht so leicht, meines gewiss nicht und
deines auch nicht, Hertha. Was meinst du, Hulda?«
»Man soll sein
Schicksal nicht versuchen; Hochmut kommt vor dem Fall.«
»Immer
Gouvernante; du bist doch die geborene alte Jungfer.«
»Und hoffe mich
doch noch zu verheiraten. Und vielleicht eher als du.«
»Meinetwegen.
Denkst du, dass ich darauf warte? Das fehlte noch. Übrigens, ich kriege
schon einen und vielleicht bald. Da ist mir nicht bange. Neulich erst hat
mir der kleine Ventivegni von drüben gesagt: 'Fräulein Effi, was gilt die
Wette, wir sind hier noch in diesem Jahre zu Polterabend und Hochzeit.'«
»Und was
sagtest du da?«
»'Wohl
möglich', sagte ich, 'wohl möglich; Hulda ist die Älteste und kann sich
jeden Tag verheiraten.' Aber er wollte davon nichts wissen und sagte: 'Nein,
bei einer anderen jungen Dame, die geradeso brünett ist, wie Fräulein Hulda
blond ist.' Und dabei sah er mich ganz ernsthaft an... Aber ich komme vom
Hundertsten aufs Tausendste und vergesse die Geschichte.«
»Ja, du brichst
immer wieder ab; am Ende willst du nicht.« »Oh, ich will schon, aber
freilich, ich breche immer wieder ab, weil es alles ein bisschen sonderbar
ist, ja beinah romantisch.«
»Aber du
sagtest doch, er sei Landrat.«
»Allerdings,
Landrat. Und er heißt Geert von Innstetten, Baron von Innstetten.«
Alle drei
lachten.
»Warum
lacht ihr?« sagte Effi pikiert. »Was soll das heißen?«
»Ach, Effi, wir
wollen dich ja nicht beleidigen und auch den Baron nicht. Innstetten,
sagtest du? Und Geert? So heißt doch hier kein Mensch. Freilich, die
adeligen Namen haben oft so was Komisches.«
»Ja, meine
Liebe, das haben sie. Dafür sind es eben Adelige. Die dürfen sich das
gönnen, und je weiter zurück, ich meine der Zeit nach, desto mehr dürfen sie
sich's gönnen. Aber davon versteht ihr nichts, was ihr mir nicht übel nehmen
dürft. Wir bleiben doch gute Freunde. Geert von Innstetten also und Baron.
Er ist geradeso alt wie Mama, auf den Tag.«
»Und wie alt
ist denn eigentlich deine Mama?« »Achtunddreißig.«
»Ein schönes
Alter.«
»Ist es auch,
namentlich wenn man noch so aussieht wie die Mama. Sie ist doch eigentlich
eine schöne Frau, findet ihr nicht auch? Und wie sie alles so weg hat, immer
so sicher und dabei so fein und nie unpassend wie Papa. Wenn ich ein junger
Leutnant wäre, so würd ich mich in die Mama verlieben.«
»Aber Effi, wie
kannst du nur so was sagen«, sagte Hulda. »Das ist ja gegen das vierte
Gebot.«
»Unsinn. Wie
kann das gegen das vierte Gebot sein? Ich glaube, Mama würde sich freuen,
wenn sie wüsste, dass ich so was gesagt habe.«
»Kann schon
sein«, unterbrach hierauf Hertha. »Aber nun endlich die Geschichte.«
»Nun, gib dich
zufrieden, ich fange schon an ... Also Baron Innstetten! Als er noch keine
zwanzig war, stand er drüben bei den Rathenowern und verkehrte viel auf den
Gütern hier herum, und am liebsten war er in Schwantikow drüben bei meinem
Großvater Belling. Natürlich war es nicht des Großvaters wegen, dass er so
oft drüben war, und wenn die Mama davon erzählt, so kann jeder leicht sehen,
um wen es eigentlich war. Und ich glaube, es war auch gegenseitig.« »Und wie
kam es nachher?«
»Nun, es kam,
wie's kommen musste, wie's immer kommt. Er war ja noch viel zu jung, und als
mein Papa sich einfand, der schon Ritterschaftsrat war und Hohen-Cremmen
hatte, da war kein langes Besinnen mehr, und sie nahm ihn und wurde Frau von
Briest ... Und das andere, was sonst noch kam, nun, das wisst ihr ... das
andere bin ich.«
»Ja, das andere
bist du, Effi«, sagte Bertha. »Gott sei Dank; wir hätten dich nicht, wenn es
anders gekommen wäre. Und nun sage, was tat Innstetten, was wurde aus ihm?
Das Leben hat er sich nicht genommen, sonst könntet ihr ihn heute nicht
erwarten. «
»Nein, das
Leben hat er sich nicht genommen. Aber ein bisschen war es doch so was.«
»Hat er einen
Versuch gemacht?«
»Auch das
nicht. Aber er mochte doch nicht länger hier in der Nähe bleiben, und das
ganze Soldatenleben überhaupt muss ihm damals wie verleidet gewesen sein. Es
war ja auch Friedenszeit. Kurz und gut, er nahm den Abschied und fing an,
Juristerei zu studieren, wie Papa sagt, mit einem 'wahren Biereifer'; nur
als der Siebziger Krieg kam, trat er wieder ein, aber bei den Perlebergern
statt bei seinem alten Regiment, und hat auch das Kreuz. Natürlich, denn er
ist sehr schneidig. Und gleich nach dem Kriege saß er wieder bei seinen
Akten, und es heißt, Bismarck halte große Stücke von ihm und auch der
Kaiser, und so kam es denn, dass er Landrat wurde, Landrat im Kessiner
Kreise.«
»Was ist
Kessin? Ich kenne hier kein Kessin.«
»Nein, hier in
unserer Gegend liegt es nicht; es liegt eine hübsche Strecke von hier fort
in Pommern, in Hinterpommern sogar, was aber nichts sagen will, weil es ein
Badeort ist (alles da herum ist Badeort), und die Ferienreise, die Baron
Innstetten jetzt macht, ist eigentlich eine Vetternreise oder doch etwas
Ähnliches. Er will hier alte Freundschaft und Verwandtschaft wiedersehen.«
»Hat er denn
hier Verwandte?«
»Ja und nein,
wie man's nehmen will. Innstettens gibt es hier nicht, gibt es, glaub ich,
überhaupt nicht mehr. Aber er hat hier entfernte Vettern von der Mutter
Seite her, und vor allem hat er wohl Schwantikow und das Bellingsche Haus
wiedersehen wollen, an das ihn so viele Erinnerungen knüpfen. Da war er denn
vorgestern drüben, und heute will er hier in Hohen-Cremmen sein.«
»Und
was sagt dein Vater dazu?«
»Gar nichts.
Der ist nicht so. Und dann kennt er ja doch die Mama. Er neckt sie bloß.«
In diesem
Augenblick schlug es Mittag, und ehe es noch ausgeschlagen, erschien Wilke,
das alte Briestsche Haus- und Familienfaktotum, um an Fräulein Effi zu
bestellen: Die gnädige Frau ließe bitten, dass das gnädige Fräulein zu
rechter Zeit auch Toilette mache; gleich nach eins würde der Herr Baron wohl
vorfahren. Und während Wilke dies noch vermeldete, begann er auch schon auf
dem Arbeitstisch der Damen abzuräumen und griff dabei zunächst nach dem
Zeitungsblatt, auf dem die Stachelbeerschalen lagen.
»Nein, Wilke,
nicht so; das mit den Schlusen, das ist unsere Sache... Hertha, du musst nun
die Tüte machen und einen Stein hineintun, dass alles besser versinken kann.
Und dann wollen wir in einem langen Trauerzug aufbrechen und die Tüte auf
offener See begraben.«
Wilke
schmunzelte. Is doch ein Daus, unser Fräulein, so etwa gingen seine
Gedanken. Effi aber, während sie die Tüte mitten auf die rasch
zusammengeraffte Tischdecke legte, sagte: »Nun fassen wir alle vier an,
jeder an einem Zipfel, und singen was Trauriges.«
»Ja, das sagst
du wohl, Effi. Aber was sollen wir denn singen?«
»Irgendwas; es
ist ganz gleich, es muss nur einen Reim auf 'u' haben; 'u' ist immer
Trauervokal. Also singen wir:
Flut, Flut,
Mach alles wieder gut ... «
Und während
Effi diese Litanei feierlich anstimmte, setzten sich alle vier auf den Steg
hin in Bewegung, stiegen in das dort angekettelte Boot und ließen von diesem
aus die mit einem Kiesel beschwerte Tüte langsam in den Teich niedergleiten.
»Hertha, nun
ist deine Schuld versenkt«, sagte Effi, »wobei mir übrigens einfällt, so vom
Boot aus sollen früher auch arme, unglückliche Frauen versenkt worden sein,
natürlich wegen Untreue.«
»Aber doch
nicht hier.«
»Nein, nicht
hier«, lachte Effi, »hier kommt so was nicht vor. Aber in Konstantinopel,
und du musst ja, wie mir eben einfällt, auch davon wissen, so gut wie ich,
du bist ja mit dabei gewesen, als uns Kandidat Holzapfel in der
Geographiestunde davon erzählte.«
»Ja«, sagte
Hulda, »der erzählte immer so was. Aber so was vergisst man doch wieder.«
»Ich nicht. Ich
behalte so was.«
Zweites Kapitel
Sie
sprachen noch eine Weile so weiter, wobei sie sich ihrer
gemeinschaftlichen Schulstunden und einer ganzen Reihe Holzapfelscher
Unpassendheiten mit Empörung und Behagen erinnerten. Ja, man konnte sich
nicht genug tun damit, bis Hulda mit einem Male sagte: »Nun aber ist es
höchste Zeit, Effi; du siehst ja aus, ja, wie sag ich nur, du siehst ja
aus, wie wenn du vom Kirschenpflücken kämst, alles zerknittert und
zerknautscht; das Leinenzeug macht immer so viele Falten, und der große
weiße Klappkragen ... ja, wahrhaftig, jetzt hab ich es, du siehst aus
wie ein Schiffsjunge.«
»Midshipman,
wenn ich bitten darf. Etwas muß ich doch von meinem Adel haben.
Übrigens, Midshipman oder Schiffsjunge, Papa hat mir erst neulich wieder
einen Mastbaum versprochen, hier dicht neben der Schaukel, mit Rahen und
einer Strickleiter. Wahrhaftig, das sollte mir gefallen, und den Wimpel
oben selbst anzumachen, das ließ' ich mir nicht nehmen. Und du, Hulda,
du kämst dann von der anderen Seite her herauf, und oben in der Luft
wollten wir hurra rufen und uns einen Kuß geben. Alle Wetter, das sollte
schmecken.«
'Alle
Wetter . . .', wie das nun wieder klingt ... Du sprichst wirklich wie
ein Midshipman. Ich werde mich aber hüten, dir nachzuklettern, ich bin
nicht so waghalsig. Jahnke hat ganz recht, wenn er immer sagt, du
hättest zuviel von dem Bellingschen in dir, von deiner Mama her. Ich bin
bloß ein Pastorskind.«
»Ach,
geh mir. Stille Wasser sind tief. Weißt du noch, wie du damals, als
Vetter Briest als Kadett hier war, aber doch schon groß genug, wie du
damals auf dem Scheunendach entlangrutschtest. Und warum? Nun, ich will
es nicht verraten. Aber kommt, wir wollen uns schaukeln, auf jeder Seite
zwei; reißen wird es ja wohl nicht, oder wenn ihr nicht Lust habt, denn
ihr macht wieder lange Gesichter, dann wollen wir Anschlag spielen. Eine
Viertelstunde hab ich noch. Ich mag noch nicht hineingehen, und alles
bloß, um einem Landrat guten Tag zu sagen, noch dazu einem Landrat aus
Hinterpommern. Altlich ist er auch, er könnte ja beinah mein Vater sein,
und wenn er wirklich in einer Seestadt wohnt, Kessin soll ja so was
sein, nun, da muß ich ihm in diesem Matrosenkostüm eigentlich am besten
gefallen und muß ihm beinah wie eine große Aufmerksamkeit vorkommen.
Fürsten, wenn sie wen empfangen, soviel weiß ich von meinem Papa her,
legen auch immer die Uniform aus der Gegend des anderen an. Also nun
nicht ängstlich ... rasch, rasch, ich fliege aus, und neben der Bank
hier ist frei.«
Hulda
wollte noch ein paar Einschränkungen machen, aber Effi war schon den
nächsten Kiesweg hinauf, links hin, rechts hin, bis sie mit einem Male
verschwunden war.
»Effi,
das gilt nicht; wo bist du? Wir spielen nicht Versteck, wir spielen
Anschlag«, und unter diesen und ähnlichen Vorwürfen eilten die
Freundinnen ihr nach, weit über das Rondell und die beiden seitwärts
stehenden Platanen hinaus, bis die Verschwundene mit einem Male aus
ihrem Versteck hervorbrach und mühelos, weil sie schon im Rücken ihrer
Verfolger war, mit »eins, zwei, drei« den Freiplatz neben der Bank
erreichte.
»Wo
warst du?«
»Hinter
den Rhabarberstauden; die haben so große Blätter, noch größer als ein
Feigenblatt ...«
»Pfui
...«
»Nein,
pfui für euch, weil ihr verspielt habt. Hulda, mit ihren großen Augen,
sah wieder nichts, immer ungeschickt.« Und dabei flog Effi von neuem
über das Rondell hin, auf den Teich zu, vielleicht weil sie vorhatte,
sich erst hinter einer dort aufwachsenden dichten Haselnußhecke zu
verstecken, um dann, von dieser aus, mit einem weiten Umweg um Kirchhof
und Fronthaus, wieder bis an den Seitenflügel und seinen Freiplatz zu
kommen. Alles war gut berechnet; aber freilich, ehe sie noch halb um den
Teich herum war, hörte sie schon vom Hause her ihren Namen rufen und
sah, während sie sich umwandte, die Mama, die, von der Steintreppe her,
mit ihrem Taschentuch winkte. Noch einen Augenblick, und Effi stand vor
ihr.
»Nun
bist du doch noch in deinem Kittel, und der Besuch ist da. Nie hältst du
Zeit.«
»Ich
halte schon Zeit, aber der Besuch hat nicht Zeit gehalten. Es ist noch
nicht eins; noch lange nicht«, und sich nach den Zwillingen hin
umwendend (Hulda war noch weiter zurück), rief sie diesen zu: »Spielt
nur weiter; ich bin gleich wieder da.«
Schon
im nächsten Augenblick trat Effi mit der Mama in den großen Gartensaal,
der fast den ganzen Raum des Seitenflügels füllte.
»Mama,
du darfst mich nicht schelten. Es ist wirklich erst halb. Warum kommt er
so früh? Kavaliere kommen nicht zu spät, aber noch weniger zu früh.«
Frau
von Briest war in sichtlicher Verlegenheit; Effi aber schmiegte sich
liebkosend an sie und sagte: »Verzeih, ich will mich nun eilen; du
weißt, ich kann auch rasch sein, und in fünf Minuten ist Aschenputtel in
eine Prinzessin verwandelt. So lange kann er warten oder mit dem Papa
plaudern.«
Und der
Mama zunickend, wollte sie leichten Fußes eine kleine eiserne Stiege
hinauf, die aus dem Saal in den Oberstock hinaufführte. Frau von Briest
aber, die unter Umständen auch unkonventionell sein konnte, hielt
plötzlich die schon forteilende Effi zurück, warf einen Blick auf das
jugendlich reizende Geschöpf, das, noch erhitzt von der Aufregung des
Spiels, wie ein Bild frischesten Lebens vor ihr stand, und sagte beinahe
vertraulich: »Es ist am Ende das beste, du bleibst, wie du bist. Ja,
bleibe so. Du siehst gerade sehr gut aus. Und wenn es auch nicht wäre,
du siehst so unvorbereitet aus, so gar nicht zurechtgemacht, und darauf
kommt es in diesem Augenblick an. Ich muß dir nämlich sagen, meine süße
Effi ...«, und sie nahm ihres Kindes beide Hände, »... ich muß dir
nämlich sagen ...«
»Aber
Mama, was hast du nur? Mir wird ja ganz angst und bange. «
»...
Ich muß dir nämlich sagen, Effi, daß Baron Innstetten eben um deine Hand
angehalten hat.«
»Um
meine Hand angehalten? Und im Ernst?«
»Es ist
keine Sache, um einen Scherz daraus zu machen. Du hast ihn vorgestern
gesehen, und ich glaube, er hat dir auch gut gefallen. Er ist freilich
älter als du, was alles in allem ein Glück ist, dazu ein Mann von
Charakter, von Stellung und guten Sitten, und wenn du nicht nein sagst,
was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit
zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama
weit überholen.«
Effi
schwieg und suchte nach einer Antwort. Aber ehe sie diese finden konnte,
hörte sie schon des Vaters Stimme von dem angrenzenden, noch im
Fronthause gelegenen Hinterzimmer her, und gleich danach überschritt
Ritterschaftsrat von Briest, ein wohlkonservierter Fünfziger von
ausgesprochener Bonhomie, die Gartensalonschwelle – mit ihm Baron
Innstetten, schlank, brünett und von militärischer Haltung.
Effi,
als sie seiner ansichtig wurde, kam in ein nervöses Zittern; aber nicht
auf lange, denn im selben Augenblick fast, wo sich Innstetten unter
freundlicher Verneigung ihr näherte, wurden an dem mittleren der weit
offenstehenden und von wildem Wein halb überwachsenen Fenster die
rotblonden Köpfe der Zwillinge sichtbar, und Hertha, die Ausgelassenste,
rief in den Saal hinein: »Effi, komm.«
Dann
duckte sie sich, und beide Schwestern sprangen von der Banklehne, darauf
sie gestanden, wieder in den Garten hinab, und man hörte nur noch ihr
leises Kichern und Lachen.
Drittes Kapitel
Noch an
demselben Tage hatte sich Baron Innstetten mit Effi Briest verlobt. Der
joviale Brautvater, der sich nicht leicht in seiner Feierlichkeitsrolle
zurechtfand, hatte bei dem Verlobungsmahl, das folgte, das junge Paar
leben lassen, was auf Frau von Briest, die dabei der nun um kaum
achtzehn Jahre zurückliegenden Zeit gedenken mochte, nicht ohne
herzbeweglichen Eindruck geblieben war. Aber nicht auf lange; sie hatte
es nicht sein können, nun war es statt ihrer die Tochter – alles in
allem ebensogut oder vielleicht noch besser. Denn mit Briest ließ sich
leben, trotzdem er ein wenig prosaisch war und dann und wann einen
kleinen frivolen Zug hatte. Gegen Ende der Tafel, das Eis wurde schon
herumgereicht, nahm der alte Ritterschaftsrat noch einmal das Wort, um
in einer zweiten Ansprache das allgemeine Familien-Du zu proponieren. Er
umarmte dabei Innstetten und gab ihm einen Kuß auf die linke Backe.
Hiermit war aber die Sache für ihn noch nicht abgeschlossen, vielmehr
fuhr er fort, außer dem »Du« zugleich intimere Namen und Titel für den
Hausverkehr zu empfehlen, eine Art Gemütlichkeitsrangliste aufzustellen,
natürlich unter Wahrung berechtigter, weil wohlerworbener
Eigentümlichkeiten. Für seine Frau, so hieß es, würde der Fortbestand
von »Mama« (denn es gäbe auch junge Mamas) wohl das beste sein, während
er für seine Person, unter Verzicht auf den Ehrentitel »Papa«, das
einfache Briest entschieden bevorzugen müsse, schon weil es so hübsch
kurz sei. Und was nun die Kinder angehe – bei welchem Wort er sich, Aug
in Auge mit dem nur etwa um ein Dutzend Jahre jüngeren Innstetten, einen
Ruck geben mußte –, nun, so sei Effi eben Effi und Geert Geert. Geert,
wenn er nicht irre, habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen
Stamm, und Effi sei dann also der Efeu, der sich darumzuranken habe. Das
Brautpaar sah sich bei diesen Worten etwas verlegen an. Effi zugleich
mit einem Ausdruck kindlicher Heiterkeit, Frau von Briest aber sagte:
»Briest, sprich, was du willst, und formuliere deine Toaste nach
Gefallen, nur poetische Bilder, wenn ich bitten darf, laß beiseite, das
liegt jenseits deiner Sphäre.« Zurechtweisende Worte, die bei Briest
mehr Zustimmung als Ablehnung gefunden hatten. »Es ist möglich, daß du
recht hast, Luise.«
Gleich
nach Aufhebung der Tafel beurlaubte sich Effi, um einen Besuch drüben
bei Pastors zu machen. Unterwegs sagte sie sich: »Ich glaube, Hulda wird
sich ärgern. Nun bin ich ihr doch zuvorgekommen – sie war immer zu eitel
und eingebildet.« Aber Effi traf es mit ihrer Erwartung nicht ganz;
Hulda, durchaus Haltung bewahrend, benahm sich sehr gut und überließ die
Bezeugung von Unmut und Ärger ihrer Mutter, der Frau Pastorin, die denn
auch sehr sonderbare Bemerkungen machte. »Ja, ja, so geht es. Natürlich.
Wenn's die Mutter nicht sein konnte, muß es die Tochter sein. Das kennt
man. Alte Familien halten immer zusammen, und wo was is, da kommt was
dazu.« Der alte Niemeyer kam in arge Verlegenheit über diese
fortgesetzten Spitzen Redensarten ohne Bildung und Anstand und beklagte
mal wieder, eine Wirtschafterin geheiratet zu haben.
Von
Pastors ging Effi natürlich auch zu Kantor Jahnkes; die Zwillinge hatten
schon nach ihr ausgeschaut und empfingen sie im Vorgarten.
»Nun,
Effi«, sagte Hertha, während alle drei zwischen den rechts und links
blühenden Studentenblumen auf und ab schritten, »nun, Effi, wie ist dir
eigentlich?«
»Wie
mir ist? Oh, ganz gut. Wir nennen uns auch schon du und bei Vornamen. Er
heißt nämlich Geert, was ich euch, wie mir einfällt, auch schon gesagt
habe.«
»Ja,
das hast du. Mir ist aber doch so bange dabei. Ist es denn auch der
Richtige?«
»Gewiß
ist es der Richtige. Das verstehst du nicht, Hertha. Jeder ist der
Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut
aussehen.«
»Gott,
Effi, wie du nur sprichst. Sonst sprachst du doch ganz anders. «
»Ja,
sonst.«
»Und
bist du auch schon ganz glücklich?«
»Wenn
man zwei Stunden verlobt ist, ist man immer ganz glücklich. Wenigstens
denk ich es mir so.«
»Und
ist es dir denn gar nicht, ja, wie sag ich nur, ein bißchen genant ? «
»Ja,
ein bißchen genant ist es mir, aber doch nicht sehr. Und ich denke, ich
werde darüber wegkommen.«
Nach
diesem im Pfarr- und Kantorhause gemachten Besuche, der keine halbe
Stunde gedauert hatte, war Effi wieder nach drüben zurückgekehrt, wo man
auf der Gartenveranda eben den Kaffee nehmen wollte. Schwiegervater und
Schwiegersohn gingen auf dem Kieswege zwischen den zwei Platanen auf und
ab. Briest sprach von dem Schwierigen einer landrätlichen Stellung; sie
sei ihm verschiedentlich angetragen worden, aber er habe jedesmal
gedankt. »So nach meinem eigenen Willen schalten und walten zu können
ist mir immer das liebste gewesen, jedenfalls lieber – Pardon,
Innstetten –, als so die Blicke beständig nach oben richten zu müssen.
Man hat dann bloß immer Sinn und Merk für hohe und höchste Vorgesetzte.
Das ist nichts für mich. Hier leb ich so freiweg und freue mich über
jedes grüne Blatt und über den wilden Wein, der da drüben in die Fenster
wächst.«
Er
sprach noch mehr dergleichen, allerhand Antibeamtliches, und
entschuldigte sich von Zeit zu Zeit mit einem kurzen, verschiedentlich
wiederkehrenden »Pardon, Innstetten«. Dieser nickte mechanisch
zustimmend, war aber eigentlich wenig bei der Sache, sah vielmehr wie
gebannt immer aufs neue nach dem drüben am Fenster rankenden wilden Wein
hinüber, von dem Briest eben gesprochen, und während er dem nachhing,
war es ihm, als säh' er wieder die rotblonden Mädchenköpfe zwischen den
Weinranken und höre dabei den übermütigen Zuruf: »Effi, komm.«
Er
glaubte nicht an Zeichen und ähnliches, im Gegenteil, wies alles
Abergläubische weit zurück. Aber er konnte trotzdem von den zwei Worten
nicht los, und während Briest immer weiterperorierte, war es ihm
beständig, als wäre der kleine Hergang doch mehr als ein bloßer Zufall
gewesen.
Innstetten, der nur einen kurzen Urlaub genommen, war schon am folgenden
Tag wieder abgereist, nachdem er versprochen, jeden Tag schreiben zu
wollen. »Ja, das mußt du«, hatte Effi gesagt, ein Wort, das ihr von
Herzen kam, da sie seit Jahren nichts Schöneres kannte als
beispielsweise den Empfang vieler Geburtstagsbriefe. Jeder mußte ihr zu
diesem Tag schreiben. In den Brief eingestreute Wendungen, etwa wie
»Gertrud und Klara senden Dir mit mir ihre herzlichsten Glückwünsche«,
waren verpönt; Gertrud und Klara, wenn sie Freundinnen sein wollten,
hatten dafür zu Sorgen, daß ein Brief mit selbständiger Marke daläge,
womöglich – denn ihr Geburtstag fiel noch in die Reisezeit mit einer
fremden, aus der Schweiz oder Karlsbad.
Innstetten, wie versprochen, schrieb wirklich jeden Tag; was aber den
Empfang seiner Briefe ganz besonders angenehm machte, war der Umstand,
daß er allwöchentlich nur einmal einen ganz kleinen Antwortbrief
erwartete. Den erhielt er dann auch, voll reizend nichtigen und ihn
jedesmal entzückenden Inhalts. Was es von ernsteren Dingen zu besprechen
gab, das verhandelte Frau von Briest mit ihrem Schwiegersohn:
Festsetzungen wegen der Hochzeit, Ausstattungs- und
Wirtschaftseinrichtungsfragen. Innstetten, schon an die drei Jahre im
Amt, war in seinem Kessiner Hause nicht glänzend, aber doch sehr
standesgemäß eingerichtet, und es empfahl sich, in der Korrespondenz mit
ihm ein Bild von allem, was da war, zu gewinnen, um nichts Unnützes
anzuschaffen. Schließlich, als Frau von Briest über all diese Dinge
genugsam unterrichtet war, wurde seitens Mutter und Tochter eine Reise
nach Berlin beschlossen, um, wie Briest sich ausdrückte, den »Trousseau«
für Prinzessin Effi zusammenzukaufen. Effi freute sich sehr auf den
Aufenthalt in Berlin, um so mehr, als der Vater darein gewilligt hatte,
im Hotel du Nord Wohnung zu nehmen. Was es koste, könne ja von der
Ausstattung abgezogen werden; Innstetten habe ohnehin alles. Effi ganz
im Gegensatz zu der solche »Mesquinerien« ein für allemal sich
verbittenden Mama – hatte dem Vater, ohne jede Sorge darum, ob er's
scherz- oder ernsthaft gemeint hatte, freudig zugestimmt und
beschäftigte sich in ihren Gedanken viel, viel mehr mit dem Eindruck,
den sie beide, Mutter und Tochter, bei ihrem Erscheinen an der Table
d'hôte machen würden, als mit Spinn und Mencke, Goschenhofer und
ähnlichen Firmen, die vorläufig notiert worden waren. Und diesen ihren
heiteren Phantasien entsprach denn auch ihre Haltung, als die große
Berliner Woche nun wirklich da war. Vetter Briest vom Alexanderregiment,
ein ungemein ausgelassener junger Leutnant, der die »Fliegenden Blätter«
hielt und über die besten Witze Buch führte, stellte sich den Damen für
jede dienstfreie Stunde zur Verfügung, und so saßen sie denn mit ihm bei
Kranzler am Eckfenster oder zu statthafter Zeit auch wohl im Café Bauer
und fuhren nachmittags in den Zoologischen Garten, um da die Giraffen zu
sehen, von denen Vetter Briest, der übrigens Dagobert hieß, mit Vorliebe
behauptete, sie sähen aus wie adlige alte Jungfern. Jeder Tag verlief
programmäßig, und am dritten oder vierten Tag gingen sie, wie
vorgeschrieben, in die Nationalgalerie, weil Vetter Dagobert seiner
Cousine die »Insel der Seligen« zeigen wollte. Fräulein Cousine stehe
zwar auf dem Punkte, sich zu verheiraten, es sei aber doch vielleicht
gut, die »Insel der Seligen« schon vorher kennengelernt zu haben. Die
Tante gab ihm einen Schlag mit dem Fächer, begleitete diesen Schlag aber
mit einem so gnädigen Blick, daß er keine Veranlassung hatte, den Ton zu
ändern. Es waren himmlische Tage für alle drei, nicht zum wenigsten für
den Vetter, der so wundervoll zu chaperonnieren und kleine Differenzen
immer rasch auszugleichen verstand. An solchen Meinungsverschiedenheiten
zwischen Mutter und Tochter war nun, wie das so geht, all die Zeit über
kein Mangel, aber sie traten glücklicherweise nie bei den zu machenden
Einkäufen hervor. Ob man von einer Sache sechs oder drei Dutzend
erstand, Effi war mit allem gleichmäßig einverstanden, und wenn dann auf
dem Heimweg von dem Preis der eben eingekauften Gegenstände gesprochen
wurde, so verwechselte sie regelmäßig die Zahlen. Frau von Briest, sonst
so kritisch, auch ihrem eigenen geliebten Kinde gegenüber, nahm dies
anscheinend mangelnde Interesse nicht nur von der leichten Seite,
sondern erkannte sogar einen Vorzug darin. Alle diese Dinge, so sagte
sie sich, bedeuten Effi nicht viel. Effi ist anspruchslos; sie lebt in
ihren Vorstellungen und Träumen, und wenn die Prinzessin Friedrich Karl
vorüberfährt und sie von ihrem Wagen aus freundlich grüßt, so gilt ihr
das mehr als eine ganze Truhe voll Weißzeug.
Das
alles war auch richtig, aber doch nur halb. An dem Besitze mehr oder
weniger alltäglicher Dinge lag Effi nicht viel, aber wenn sie mit der
Mama die Linden hinauf- und hinunterging und nach Musterung der
schönsten Schaufenster in den Demuthschen Laden eintrat, um für die
gleich nach der Hochzeit geplante italienische Reise allerlei Einkäufe
zu machen, so zeigte sich ihr wahrer Charakter. Nur das Eleganteste
gefiel ihr, und wenn sie das Beste nicht haben konnte, so verzichtete
sie auf das Zweitbeste, weil ihr dies Zweite nun nichts mehr bedeutete.
Ja, sie konnte verzichten, darin hatte die Mama recht, und in diesem
Verzichtenkönnen lag etwas von Anspruchslosigkeit; wenn es aber
ausnahmsweise mal wirklich etwas zu besitzen galt, so mußte dies immer
was ganz Apartes sein. Und darin war sie anspruchsvoll.
Viertes Kapitel
Vetter
Dagobert war am Bahnhof, als die Damen ihre Rückreise nach Hohen-Cremmen
antraten. Es waren glückliche Tage gewesen, vor allem auch darin, daß
man nicht unter unbequemer und beinahe unstandesgemäßer Verwandtschaft
gelitten hatte. »Für Tante Therese«, so hatte Effi gleich nach der
Ankunft gesagt, »müssen wir diesmal inkognito bleiben. Es geht nicht,
daß sie hier ins Hotel kommt. Entweder Hotel du Nord oder Tante Therese;
beides zusammen paßt nicht.« Die Mama hatte sich schließlich
einverstanden damit erklärt, ja, dem Liebling zur Besiegelung des
Einverständnisses einen Kuß auf die Stirn gegeben.
Mit
Vetter Dagobert war das natürlich etwas ganz anderes gewesen, der hatte
nicht bloß den Gardepli, der hatte vor allem auch mit Hilfe jener
eigentümlich guten Laune, wie sie bei den Alexanderoffizieren beinahe
traditionell geworden, sowohl Mutter wie Tochter von Anfang an anzuregen
und aufzuheitern gewußt, und diese gute Stimmung dauerte bis zuletzt.
»Dagobert«, so hieß es noch beim Abschied, »du kommst also zu meinem
Polterabend, und natürlich mit Cortège. Denn nach den Aufführungen (aber
kommt mir nicht mit Dienstmann oder Mausefallenhändler) ist Ball. Und du
mußt bedenken, mein erster großer Ball ist vielleicht auch mein letzter.
Unter sechs Kameraden – natürlich beste Tänzer – wird gar nicht
angenommen. Und mit dem Frühzug könnt ihr wieder zurück.« Der Vetter
versprach alles, und so trennte man sich.
Gegen
Mittag trafen beide Damen an ihrer havelländischen Bahnstation ein,
mitten im Luch, und fuhren in einer halben Stunde nach Hohen-Cremmen
hinüber. Briest war sehr froh, Frau und Tochter wieder zu Hause zu
haben, und stellte Fragen über Fragen, deren Beantwortung er meist nicht
abwartete. Statt dessen erging er sich in Mitteilung dessen, was er
inzwischen erlebt. »Ihr habt mir da vorhin von der Nationalgalerie
gesprochen und von der 'Insel der Seligen' – nun, wir haben hier,
während ihr fort wart, auch so was gehabt: unser Inspektor Pink und die
Gärtnersfrau. Natürlich habe ich Pink entlassen müssen, übrigens ungern.
Es ist sehr fatal, daß solche Geschichten fast immer in die Erntezeit
fallen. Und Pink war sonst ein ungewöhnlich tüchtiger Mann, hier leider
am unrechten Fleck. Aber lassen wir das; Wilke wird schon unruhig.«
Bei
Tische hörte Briest besser zu; das gute Einvernehmen mit dem Vetter, von
dem ihm viel erzählt wurde, hatte seinen Beifall, weniger das Verhalten
gegen Tante Therese. Man sah aber deutlich, daß er inmitten seiner
Mißbilligung sich eigentlich darüber freute; denn ein kleiner
Schabernack entsprach ganz seinem Geschmack, und Tante Therese war
wirklich eine lächerliche Figur. Er hob sein Glas und stieß mit Frau und
Tochter an. Auch als nach Tisch einzelne der hübschesten Einkäufe von
ihm ausgepackt und seiner Beurteilung unterbreitet wurden, verriet er
viel Interesse, das selbst noch anhielt oder wenigstens nicht ganz
hinstarb, als er die Rechnung überflog. »Etwas teuer, oder sagen wir
lieber sehr teuer; indessen es tut nichts. Es hat alles so viel Schick,
ich möchte sagen so viel Animierendes, daß ich deutlich fühle, wenn du
mir solchen Koffer und solche Reisedecke zu Weihnachten schenkst, so
sind wir zu Ostern auch in Rom und machen nach achtzehn Jahren unsere
Hochzeitsreise. Was meinst du, Luise? Wollen wir nachexerzieren? Spät
kommt ihr, doch ihr kommt.«
Frau
von Briest machte eine Handbewegung, wie wenn sie sagen wollte:
»Unverbesserlich«, und überließ ihn im übrigen seiner eigenen
Beschämung, die aber nicht groß war.
Ende
August war da, der Hochzeitstag (3. Oktober) rückte näher, und sowohl im
Herrenhause wie in der Pfarre und Schule war man unausgesetzt bei den
Vorbereitungen zum Polterabend. Jahnke, getreu seiner
Fritz-Reuter-Passion, hatte sich's als etwas besonders »Sinniges«
ausgedacht, Bertha und Hertha als Lining und Mining auftreten zu lassen,
natürlich plattdeutsch, während Hulda das Käthchen von Heilbronn in der
Holunderbaumszene darstellen sollte, Leutnant Engelbrecht von den
Husaren als Wetter vom Strahl. Niemeyer, der sich den Vater der Idee
nennen durfte, hatte keinen Augenblick gesäumt, auch die versäumte
Nutzanwendung auf Innstetten und Effi hinzuzudichten. Er selbst war mit
seiner Arbeit zufrieden und hörte, gleich nach der Leseprobe, von allen
Beteiligten viel Freundliches darüber, freilich mit Ausnahme seines
Patronatsherrn und alten Freundes Briest, der, als er die Mischung von
Kleist und Niemeyer mit angehört hatte, lebhaft protestierte, wenn auch
keineswegs aus literarischen Gründen. »Hoher Herr und immer wieder Hoher
Herr – was soll das? Das leitet in die Irre, das verschiebt alles.
Innstetten, unbestritten, ist ein famoses Menschenexemplar, Mann von
Charakter und Schneid, aber die Briests – verzeih den Berolinismus,
Luise-, die Briests sind schließlich auch nicht von schlechten Eltern.
Wir sind doch nun mal eine historische Familie, laß mich hinzufügen Gott
sei Dank, und die Innstettens sind es nicht; die Innstettens sind bloß
alt, meinetwegen Uradel, aber was heißt Uradel? Ich will nicht, daß eine
Briest oder doch mindestens eine Polterabendfigur, in der jeder das
Widerspiel unserer Effi erkennen muß – ich will nicht, daß eine Briest
mittelbar oder unmittelbar in einem fort von 'Hoher Herr' spricht. Da
müßte denn doch Innstetten wenigstens ein verkappter Hohenzoller sein,
es gibt ja dergleichen. Das ist er aber nicht, und so kann ich nur
wiederholen, es verschiebt die Situation.«
Und
wirklich, Briest hielt mit besonderer Zähigkeit eine ganze Zeitlang an
dieser Anschauung fest. Erst nach der zweiten Probe, wo das »Käthchen«,
schon halb im Kostüm, ein sehr eng anliegendes Sammetmieder trug, ließ
er sich – der es auch sonst nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ
– zu der Bemerkung hinreißen, das Käthchen liege sehr gut da, welche
Wendung einer Waffenstreckung ziemlich gleichkam oder doch zu solcher
hinüberleitete. Daß alle diese Dinge vor Effi geheimgehalten wurden,
braucht nicht erst gesagt zu werden. Bei mehr Neugier auf seiten dieser
letzteren wäre das nun freilich ganz unmöglich gewesen, aber Effi hatte
so wenig Verlangen, in die Vorbereitungen und geplanten Überraschungen
einzudringen, daß sie der Mama mit allem Nachdruck erklärte, sie könne
es abwarten, und Wenn diese dann zweifelte, so schloß Effi mit der
wiederholten Versicherung: Es wäre wirklich so, die Mama könne es
glauben. Und warum auch nicht? Es sei ja doch alles nur
Theateraufführung und hübscher und poetischer als »Aschenbrödel«, das
sie noch am letzten Abend in Berlin gesehen hätte, hübscher und
poetischer könne es ja doch nicht Sein. Da hätte sie wirklich selber
mitspielen mögen, wenn auch nur, um dem lächerlichen Pensionslehrer
einen Kreidestrich auf den Rücken zu machen. »Und wie reizend im letzten
Akt 'Aschenbrödels Erwachen als Prinzessin' oder wenigstens als Gräfin;
wirklich, es war ganz wie ein Märchen.« In dieser Weise sprach sie oft,
war meist ausgelassener als vordem und ärgerte sich bloß über das
beständige Tuscheln und Geheimtun der Freundinnen. »Ich wollte, sie
hätten sich weniger wichtig und wären mehr für mich da. Nachher bleiben
sie doch bloß stecken, und ich muß mich um sie ängstigen und mich
schämen, daß es meine Freundinnen sind.« So gingen Effis Spottreden, und
es war ganz unverkennbar, daß sie sich um Polterabend und Hochzeit nicht
allzusehr kümmerte. Frau von Briest hatte so ihre Gedanken darüber, aber
zu Sorgen kam es nicht, weil sich Effi, was doch ein gutes Zeichen war,
ziemlich viel mit ihrer Zukunft beschäftigte und sich, phantasiereich
wie sie war, viertelstundenlang in Schilderungen ihres Kessiner Lebens
erging, Schilderungen, in denen sich nebenher und sehr zur Erheiterung
der Mama eine merkwürdige Vorstellung von Hinterpommern aussprach oder
vielleicht auch, mit kluger Berechnung, aussprechen sollte. Sie gefiel
sich nämlich darin, Kessin als einen halbsibirischen Ort aufzufassen, wo
Eis und Schnee nie recht aufhörten.
»Heute
hat Goschenhofer das letzte geschickt«, sagte Frau von Briest, als sie
wie gewöhnlich in Front des Seitenflügels mit Effi am Arbeitstisch saß,
auf dem die Leinen- und Wäschevorräte beständig wuchsen, während der
Zeitungen, die bloß Platz wegnahmen, immer weniger wurden. »Ich hoffe,
du hast nun alles, Effi. Wenn du aber noch kleine Wünsche hegst, so mußt
du sie jetzt aussprechen, womöglich in dieser Stunde noch. Papa hat den
Raps vorteilhaft verkauft und ist ungewöhnlich guter Laune.«
»Ungewöhnlich? Er ist immer in guter Laune.«
»In
ungewöhnlich guter Laune«, wiederholte die Mama. »Und sie muß genutzt
werden. Sprich also. Mehrmals, als wir noch in Berlin waren, war es mir,
als ob du doch nach dem einen oder anderen noch ein ganz besonderes
Verlangen gehabt hättest.«
»Ja,
liebe Mama, was soll ich da sagen. Eigentlich habe ich ja alles, was man
braucht, ich meine, was man hier braucht. Aber da mir's nun mal bestimmt
ist, so hoch nördlich zu kommen ... ich bemerke, daß ich nichts dagegen
habe, im Gegenteil, ich freue mich darauf, auf die Nordlichter und auf
den helleren Glanz der Sterne ... da mir's nun mal so bestimmt ist, so
hätte ich wohl gern einen Pelz gehabt.«
»Aber
Effi, Kind, das ist doch alles bloß leere Torheit. Du kommst ja nicht
nach Petersburg oder nach Archangel.«
»Nein;
aber ich bin doch auf dem Wege dahin...«
»Gewiß,
Kind. Auf dem Wege dahin bist du; aber was heißt das? Wenn du von hier
nach Nauen fährst, bist du auch auf dem Wege nach Rußland. Im übrigen,
wenn du's wünschst, so sollst du einen Pelz haben. Nur das laß mich im
voraus sagen, ich rate dir davon ab. Ein Pelz ist für ältere Personen,
selbst deine alte Mama ist noch zu jung dafür, und wenn du mit deinen
siebzehn Jahren in Nerz oder Marder auftrittst, so glauben die Kessiner,
es sei eine Maskerade.«
Das war
am 2. September, daß sie so sprachen, ein Gespräch, das sich wohl
fortgesetzt hätte, wenn nicht gerade Sedantag gewesen wäre. So aber
wurden sie durch Trommel- und Pfeifenklang unterbrochen, und Effi, die
schon vorher von dem beabsichtigten Aufzuge gehört, aber es wieder
vergessen hatte, stürzte mit einem Male von dem gemeinschaftlichen
Arbeitstisch fort und an Rondell und Teich vorüber auf einen kleinen, an
die Kirchhofsmauer angebauten Balkon zu, zu dem sechs Stufen, nicht viel
breiter als Leitersprossen, hinaufführten. Im Nu war sie oben, und
richtig, da kam auch schon die ganze Schuljugend heran, Jahnke
gravitätisch am rechten Flügel, während ein kleiner Tambourmajor, weit
voran, an der Spitze des Zuges marschierte, mit einem Gesichtsausdruck,
als ob ihm obläge, die Schlacht bei Sedan noch einmal zu schlagen. Effi
winkte mit dem Taschentuch, und der Begrüßte versäumte nicht, mit seinem
blanken Kugelstock zu salutieren.
Eine
Woche später saßen Mutter und Tochter wieder am alten Fleck, auch wieder
mit ihrer Arbeit beschäftigt. Es war ein wunderschöner Tag; der in einem
zierlichen Beet um die Sonnenuhr herum stehende Heliotrop blühte noch,
und die leise Brise, die ging, trug den Duft davon zu ihnen herüber.
»Ach,
wie wohl ich mich fühle«, sagte Effi, »so wohl und so glücklich; ich
kann mir den Himmel nicht schöner denken. Und am Ende, wer weiß, ob sie
im Himmel so wundervollen Heliotrop haben.«
»Aber
Effi, so darfst du nicht sprechen; das hast du von deinem Vater, dem
nichts heilig ist und der neulich sogar sagte, Niemeyer sähe aus wie
Lot. Unerhört. Und was soll es nur heißen? Erstlich weiß er nicht, wie
Lot ausgesehen hat, und zweitens ist es eine grenzenlose
Rücksichtslosigkeit gegen Hulda. Ein Glück, daß Niemeyer nur die einzige
Tochter hat, dadurch fällt es eigentlich in sich zusammen. In einem
freilich hat er nur zu recht gehabt, in all und jedem, was er über 'Lots
Frau', unsere gute Frau Pastorin, sagte, die uns denn auch wirklich
wieder mit ihrer Torheit und Anmaßung den ganzen Sedantag ruinierte.
Wobei mir übrigens einfällt, daß wir, als Jahnke mit der Schule
vorbeikam, in unserem Gespräch unterbrochen wurden – wenigstens kann ich
mir nicht denken, daß der Pelz, von dem du damals sprachst, dein
einziger Wunsch gewesen sein sollte. Laß mich also wissen, Schatz, was
du noch weiter auf dem Herzen hast.«
Nichts,
Mama. «
»Wirklich nichts?«
»Nein,
wirklich nichts; ganz im Ernst ... Wenn es aber doch am Ende was sein
sollte ...«
»Nun
...«
»... so
müßte es ein japanischer Bettschirm sein, schwarz und goldene Vögel
darauf, alle mit einem langen Kranichschnabel ... Und dann vielleicht
noch eine Ampel für unser Schlafzimmer, mit rotem Schein.«
Frau
von Briest schwieg.
»Nun
siehst du, Mama, du schweigst und siehst aus, als ob ich etwas besonders
Unpassendes gesagt hätte.«
»Nein,
Effi, nichts Unpassendes. Und vor deiner Mutter nun schon gewiß nicht.
Denn ich kenne dich ja. Du bist eine phantastische kleine Person, malst
dir mit Vorliebe Zukunftsbilder aus, und je farbenreicher sie sind,
desto schöner und begehrlicher erscheinen sie dir. Ich sah das so recht,
als wir die Reisesachen kauften. Und nun denkst du dir's ganz
wundervoll, einen Bettschirm mit allerhand fabelhaftem Getier zu haben,
alles im Halblicht einer roten Ampel. Es kommt dir vor wie ein Märchen,
und du möchtest eine Prinzessin sein.«
Effi
nahm die Hand der Mama und küßte sie. »Ja, Mama, so bin ich.«
»Ja, so
bist du. Ich weiß es wohl. Aber meine liebe Effi, wir müssen vorsichtig
im Leben sein, und zumal wir Frauen. Und wenn du nun nach Kessin kommst,
einem kleinen Ort, wo nachts kaum eine Laterne brennt, so lacht man über
dergleichen. Und wenn man bloß lachte. Die, die dir ungewogen sind, und
solche gibt es immer, sprechen von schlechter Erziehung, und manche
sagen auch wohl noch Schlimmeres.«
»Also
nichts Japanisches und auch keine Ampel. Aber ich bekenne dir, ich hatte
es mir so schön und poetisch gedacht, alles in einem roten Schimmer zu
sehen.«
Frau
von Briest war bewegt. Sie stand auf und küßte Effi. »Du bist ein Kind.
Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist
anders, und oft ist es gut, daß es statt Licht und Schimmer ein Dunkel
gibt.«
Effi
schien antworten zu wollen, aber in diesem Augenblick kam Wilke und
brachte Briefe. Der eine war aus Kessin von Innstetten. »Ach, von
Geert«, sagte Effi, und während sie den Brief beiseite steckte, fuhr sie
in ruhigem Ton fort:
»Aber
das wirst du doch gestatten, daß ich den Flügel schräg in die Stube
stelle. Daran liegt mir mehr als an einem Kamin, den mir Geert
versprochen hat. Und das Bild von dir, das stell ich dann auf eine
Staffelei; ganz ohne dich kann ich nicht sein. Ach, wie werd ich mich
nach euch sehnen, vielleicht auf der Reise schon und dann in Kessin ganz
gewiß. Es soll ja keine Garnison haben, nicht einmal einen Stabsarzt,
und ein Glück, daß es wenigstens ein Badeort ist. Vetter Briest, und
daran will ich mich aufrichten, dessen Mutter und Schwester immer nach
Warnemünde gehen – nun, ich sehe doch wirklich nicht ein, warum der die
lieben Verwandten nicht auch einmal nach Kessin hin dirigieren sollte.
Dirigieren, das klingt ohnehin so nach Generalstab, worauf er, glaub
ich, ambiert. Und dann kommt er natürlich mit und wohnt bei uns.
Übrigens haben die Kessiner, wie mir neulich erst wer erzählt hat, ein
ziemlich großes Dampfschiff, das zweimal die Woche nach Schweden
hinüberfährt. Und auf dem Schiff ist dann Ball (sie haben da natürlich
auch Musik), und er tanzt sehr gut ...«
»Wer?«
»Nun,
Dagobert.«
»Ich
dachte, du meintest Innstetten. Aber jedenfalls ist es an der Zeit,
endlich zu wissen, was er schreibt ... Du hast ja den Brief noch in der
Tasche.«
»Richtig. Den hätt ich fast vergessen.« Und sie öffnete den Brief und
überflog ihn.
»Nun,
Effi, kein Wort? Du strahlst nicht und lachst nicht einmal, und er
schreibt doch immer so heiter und unterhaltlich und gar nicht väterlich
weise.«
»Das
würde ich mir auch verbitten. Er hat sein Alter, und ich habe meine
Jugend. Und ich würde ihm mit den Fingern drohen und ihm sagen: 'Geert,
überlege, was besser ist.'«
Und
dann würde er dir antworten: 'Was du hast, Effi, das ist das Bessere.'
Denn er ist nicht nur ein Mann der feinsten Formen, er ist auch gerecht
und verständig und weiß recht gut, was Jugend bedeutet. Er sagt sich das
immer und stimmt sich auf das Jugendliche hin, und wenn er in der Ehe so
bleibt, so werdet ihr eine Musterehe führen.«
»Ja,
das glaube ich auch, Mama. Aber kannst du dir vorstellen, und ich schäme
mich fast, es zu sagen, ich bin nicht so sehr für das, was man eine
Musterehe nennt.«
»Das
sieht dir ähnlich. Und nun sage mir, wofür bist du denn eigentlich?«
»Ich
bin... nun, ich bin für gleich und gleich und natürlich auch für
Zärtlichkeit und Liebe. Und wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein
können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist (was
ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes
Haus, ein ganz vornehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd kommt, auf
Elchwild oder Auerhahn, oder wo der alte Kaiser vorfährt und für jede
Dame, auch für die jungen, ein gnädiges Wort hat. Und wenn wir dann in
Berlin sind, dann bin ich für Hofball und Galaoper, immer dicht neben
der großen Mittelloge.«
»Sagst
du das so bloß aus Übermut und Laune?«
»Nein,
Mama, das ist mein völliger Ernst. Liebe kommt zuerst, aber gleich
hinterher kommt Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung – ja,
Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß.
Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.«
»Wie
bist du da nur mit uns fertig geworden?«
»Ach,
Mama, wie du nur so was sagen kannst. Freilich, wenn im Winter die liebe
Verwandtschaft vorgefahren kommt und sechs Stunden bleibt oder wohl auch
noch länger, und Tante Gundel und Tante Olga mich mustern und mich
naseweis finden – und Tante Gundel hat es mir auch mal gesagt –, ja, da
macht sich's mitunter nicht sehr hübsch, das muß ich zugeben. Aber sonst
bin ich hier immer glücklich gewesen, so glücklich. .
Und
während sie das sagte, warf sie sich heftig weinend vor der Mama auf die
Knie und küßte ihre beiden Hände.
»Steh
auf, Effi. Das sind so Stimmungen, die über einen kommen, wenn man so
jung ist wie du und vor der Hochzeit steht und vor dem Ungewissen. Aber
nun lies mir den Brief vor, wenn er nicht was ganz Besonderes enthält
oder vielleicht Geheimnisse.«
»Geheimnisse«, lachte Effi und sprang in plötzlich veränderter Stimmung
wieder auf. »Geheimnisse! Ja, er nimmt immer einen Anlauf, aber das
meiste könnte ich auf dem Schulzenamt anschlagen lassen, da, wo immer
die landrätlichen Verordnungen stehen. Nun, Geert ist ja auch Landrat.«
»Lies,
lies.«
»Liebe
Effi! ... So fängt es nämlich immer an, und manchmal nennt er mich auch
seine 'kleine Eva'.«
»Lies,
lies ... Du sollst ja lesen.«
»Also:
Liebe Effi! Je näher wir unsrem Hochzeitstage kommen, je sparsamer
werden Deine Briefe. Wenn die Post kommt, suche ich immer zuerst nach
Deiner Handschrift, aber wie Du weißt (und ich hab es ja auch nicht
anders gewollt), in der Regel vergeblich. Im Hause sind jetzt die
Handwerker, die die Zimmer, freilich nur wenige, für Dein Kommen
herrichten sollen. Das Beste wird wohl erst geschehen, wenn wir auf der
Reise sind. Tapezierer Madelung, der alles liefert, ist ein Original,
von dem ich Dir mit nächstem erzähle, vor allem aber, wie glücklich ich
bin über Dich, über meine süße kleine Effi. Mir brennt hier der Boden
unter den Füßen, und dabei wird es in unserer guten Stadt immer stiller
und einsamer. Der letzte Badegast ist gestern abgereist; er badete
zuletzt bei neun Grad, und die Badewärter waren immer froh, wenn er
wieder heil heraus war. Denn sie fürchteten einen Schlaganfall, was dann
das Bad in Mißkredit bringt, als ob die Wellen hier schlimmer wären als
woanders. Ich juble, wenn ich denke, daß ich in vier Wochen schon mit
Dir von der Piazzetta aus nach dem Lido fahre oder nach Murano hin, wo
sie Glasperlen machen und schönen Schmuck. Und der schönste sei für
Dich. Viele Grüße den Eltern und den zärtlichsten Kuß Dir von Deinem
Geert.« Effi faltete den Brief wieder zusammen, um ihn in das Kuvert zu
stecken.
»Das
ist ein sehr hübscher Brief«, sagte Frau von Briest, »und daß er in
allem das richtige Maß hält, das ist ein Vorzug mehr.«
»Ja,
das rechte Maß, das hält er.«
»Meine
liebe Effi, laß mich eine Frage tun; wünschtest du, daß der Brief nicht
das richtige Maß hielte, wünschtest du, daß er zärtlicher wäre,
vielleicht überschwenglich zärtlich?«
Nein,
nein, Mama. Wahr und wahrhaftig nicht, das wünsche ich nicht. Da ist es
doch besser so.«
»Da ist
es doch besser so. Wie das nun wieder klingt. Du bist so sonderbar. Und
daß du vorhin weintest. Hast du was auf deinem Herzen? Noch ist es Zeit.
Liebst du Geert nicht?«
Warum
soll ich ihn nicht lieben? Ich liebe Hulda, und ich liebe Bertha, und
ich liebe Hertha. Und ich liebe auch den alten Niemeyer. Und daß ich
euch liebe, davon spreche ich gar nicht erst. Ich liebe alle, die's gut
mit mir meinen und gütig gegen mich sind und mich verwöhnen. Und Geert
wird mich auch wohl verwöhnen. Natürlich auf seine Art. Er will mir ja
schon Schmuck schenken in Venedig. Er hat keine Ahnung davon, daß ich
mir nichts aus Schmuck mache. Ich klettere lieber, und ich schaukle mich
lieber, und am liebsten immer in der Furcht, daß es irgendwo reißen oder
brechen und ich niederstürzen könnte. Den Kopf wird es ja nicht gleich
kosten. «
»Und
liebst du vielleicht auch deinen Vetter Briest?«
Ja,
sehr. Der erheitert mich immer.«
»Und
hättest du Vetter Briest heiraten mögen?«
»Heiraten? Um Gottes willen nicht. Er ist ja noch ein halber Junge.
Geert ist ein Mann, ein schöner Mann, ein Mann, mit dem ich Staat machen
kann und aus dem was wird in der Welt. Wo denkst du hin, Mama.«
»Nun,
das ist recht, Effi, das freut mich. Aber du hast noch was auf der
Seele.«
»Vielleicht.«
»Nun,
sprich.«
»Sieh,
Mama, daß er älter ist als ich, das schadet nichts, das ist vielleicht
recht gut: Er ist ja doch nicht alt und ist gesund und frisch und so
soldatisch und so schneidig. Und ich könnte beinah sagen, ich wäre ganz
und gar für ihn, wenn er nur ... ja, wenn er nur ein bißchen anders
wäre.«
»Wie
denn, Effi?«
»Ja,
wie. Nun, du darfst mich nicht auslachen. Es ist etwas, was ich erst
ganz vor kurzem aufgehorcht habe, drüben im Pastorhause. Wir sprachen da
von Innstetten, und mit einem Male zog der alte Niemeyer seine Stirn in
Falten, aber in Respekts- und Bewunderungsfalten, und sagte: 'Ja, der
Baron! Das ist ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien.'«
»Das
ist er auch, Effi.«
»Gewiß.
Und ich glaube, Niemeyer sagte nachher sogar, er sei auch ein Mann von
Grundsätzen. Und das ist, glaub ich, noch etwas mehr. Ach, und ich...
ich habe keine. Sieh, Mama, da liegt etwas, was mich quält und ängstigt.
Er ist so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig, aber. .. ich
fürchte mich vor ihm.«
Fünftes Kapitel
Die
Hohen-Cremmer Festtage lagen zurück; alles war abgereist, auch das junge
Paar, noch am Abend des Hochzeitstages.
Der
Polterabend hatte jeden zufriedengestellt, besonders die Mitspielenden,
und Hulda war dabei das Entzücken aller jungen Offiziere gewesen, sowohl
der Rathenower Husaren wie der etwas kritischer gestimmten Kameraden vom
Alexanderregiment. Ja, alles war gut und glatt verlaufen, fast über
Erwarten. Nur Bertha und Hertha hatten so heftig geschluchzt, daß
Jahnkes plattdeutsche Verse so gut wie verlorengegangen waren. Aber auch
das hatte wenig geschadet. Einige feine Kenner waren sogar der Meinung
gewesen, das sei das Wahre; Steckenbleiben und Schluchzen und
Unverständlichkeit – in diesem Zeichen (und nun gar, wenn es so hübsche
rotblonde Krausköpfe wären) werde immer am entschiedensten gesiegt.
Eines ganz besonderen Triumphes hatte sich Vetter Briest in seiner
selbstgedichteten Rolle rühmen dürfen. Er war als Demuthscher Kommis
erschienen, der in Erfahrung gebracht, die junge Braut habe vor, gleich
nach der Hochzeit nach Italien zu reisen, weshalb er einen Reisekoffer
abliefern wolle. Dieser Koffer entpuppte sich natürlich als eine
Riesenbonbonniere von Hövel. Bis um drei Uhr war getanzt worden, bei
welcher Gelegenheit der sich mehr und mehr in eine höchste
Champagnerstimmung hineinredende alte Briest allerlei Bemerkungen über
den an manchen Höfen immer noch üblichen Fackeltanz und die merkwürdige
Sitte des Strumpfbandaustanzens gemacht hatte, Bemerkungen, die nicht
abschließen wollten und, sich immer mehr steigernd, am Ende so weit
gingen, daß ihnen durchaus ein Riegel vorgeschoben werden mußte. »Nimm
dich zusammen, Briest«, war ihm in ziemlich ernstem Ton von seiner Frau
zugeflüstert worden; »du stehst hier nicht, um Zweideutigkeiten zu
sagen, sondern um die Honneurs des Hauses zu machen. Wir haben eben eine
Hochzeit und nicht eine Jagdpartie.« Worauf Briest geantwortet, er sähe
darin keinen so großen Unterschied; übrigens sei er glücklich. Auch der
Hochzeitstag selbst war gut verlaufen. Niemeyer hatte vorzüglich
gesprochen, und einer der alten Berliner Herren, der halb und halb zur
Hofgesellschaft gehörte, hatte sich auf dem Rückweg von der Kirche zum
Hochzeitshaus dahin geäußert, es sei doch merkwürdig, wie reich gesät in
einem Staate wie der unsrige die Talente seien. »Ich sehe darin einen
Triumph unserer Schulen und vielleicht mehr noch unserer Philosophie.
Wenn ich bedenke, daß dieser Niemeyer, ein alter Dorfpastor, der anfangs
aussah wie ein Hospitalit ... ja, Freund, sagen Sie selbst, hat er nicht
gesprochen wie ein Hofprediger? Dieser Takt und diese Kunst der
Antithese, ganz wie Kögel, und an Gefühl ihm noch über. Kögel ist zu
kalt. Freilich, ein Mann in seiner Stellung muß kalt sein. Woran
scheitert man denn im Leben überhaupt? Immer nur an der Wärme.« Der noch
unverheiratete, aber wohl eben deshalb zum vierten Male in einem
»Verhältnis« stehende Würdenträger, an den sich diese Worte gerichtet
hatten, stimmte selbstverständlich zu. »Nur zu wahr, lieber Freund«,
sagte er. »Zuviel Wärme! ... ganz vorzüglich ... Übrigens muß ich Ihnen
nachher eine Geschichte erzählen. «
Der Tag
nach der Hochzeit war ein heller Oktobertag. Die Morgensonne blinkte;
trotzdem war es schon herbstlich frisch, und Briest, der eben
gemeinschaftlich mit seiner Frau das Frühstück genommen, erhob sich von
seinem Platz und stellte sich, beide Hände auf dem Rücken, gegen das
mehr und mehr verglimmende Kaminfeuer. Frau von Briest, eine Handarbeit
in Händen, rückte gleichfalls näher an den Kamin und sagte zu Wilke, der
gerade eintrat, um den Frühstückstisch abzuräumen: »Und nun, Wilke, wenn
Sie drin im Saal, aber das geht vor, alles in Ordnung haben, dann sorgen
Sie, daß die Torten nach drüben kommen, die Nußtorte zu Pastors und die
Schüssel mit kleinen Kuchen zu Jahnkes. Und nehmen Sie sich mit den
Gläsern in acht. Ich meine die dünngeschliffenen.«
Briest
war schon bei der dritten Zigarette, sah sehr wohl aus und erklärte,
nichts bekomme einem so gut wie eine Hochzeit, natürlich die eigene
ausgenommen.
»Ich
weiß nicht, Briest, wie du zu solcher Bemerkung kommst. Mir war ganz
neu, daß du darunter gelitten haben willst. Ich wüßte auch nicht warum.«
»Luise,
du bist eine Spielverderberin. Aber ich nehme nichts übel, auch nicht
einmal so was. Im übrigen, was wollen wir von uns sprechen, die wir
nicht einmal eine Hochzeitsreise gemacht haben. Dein Vater war dagegen.
Aber Effi macht nun eine Hochzeitsreise. Beneidenswert. Mit dem
Zehnuhrzug ab. Sie müssen jetzt schon bei Regensburg sein, und ich nehme
an, daß er ihr – selbstverständlich ohne auszusteigen – die
Hauptkunstschätze der Walhalla herzählt. Innstetten ist ein vorzüglicher
Kerl, aber er hat so was von einem Kunstfex, und Effi, Gott, unsere arme
Effi, ist ein Naturkind. Ich fürchte, daß er sie mit seinem
Kunstenthusiasmus etwas quälen wird.«
»Jeder
quält seine Frau. Und Kunstenthusiasmus ist noch lange nicht das
Schlimmste.«
»Nein,
gewiß nicht; jedenfalls wollen wir darüber nicht streiten; es ist ein
weites Feld. Und dann sind auch die Menschen so verschieden. Du, nun ja,
du hättest dazu getaugt. Überhaupt hättest du besser zu Innstetten
gepaßt als Effi. Schade, nun ist es zu spät.«
»Überaus galant, abgesehen davon, daß es nicht paßt. Unter allen
Umständen aber, was gewesen ist, ist gewesen. Jetzt ist er mein
Schwiegersohn, und es kann zu nichts führen, immer auf Jugendlichkeiten
zurückzuweisen.«
»Ich
habe dich nur in eine animierte Stimmung bringen wollen.«
»Sehr
gütig. Übrigens nicht nötig. Ich bin in animierter Stimmung. «
»Und
auch in guter?«
»Ich
kann es fast sagen. Aber du darfst sie nicht verderben. Nun, was hast du
noch? Ich sehe, daß du was auf dem Herzen hast.«
»Gefiel
dir Effi? Gefiel dir die ganze Geschichte? Sie war so sonderbar, halb
wie ein Kind, und dann wieder sehr selbstbewußt und durchaus nicht so
bescheiden, wie sie's solchem Manne gegenüber sein müßte. Das kann doch
nur so zusammenhängen, daß sie noch nicht recht weiß, was sie an ihm
hat. Oder ist es einfach, daß sie ihn nicht recht liebt? Das wäre
schlimm. Denn bei all seinen Vorzügen, er ist nicht der Mann, sich diese
Liebe mit leichter Manier zu gewinnen.«
Frau
von Briest schwieg und zählte die Stiche auf dem Kanevas.
Endlich
sagte sie: »Was du da sagst, Briest, ist das Gescheiteste, was ich seit
drei Tagen von dir gehört habe, deine Rede bei Tisch mit eingerechnet.
Ich habe auch so meine Bedenken gehabt. Aber ich glaube, wir können uns
beruhigen.«
»Hat
sie dir ihr Herz ausgeschüttet?«
»So
möcht ich es nicht nennen. Sie hat wohl das Bedürfnis zu sprechen, aber
sie hat nicht das Bedürfnis, sich so recht von Herzen auszusprechen, und
macht vieles in sich selber ab; sie ist mitteilsam und verschlossen
zugleich, beinah versteckt; überhaupt ein ganz eigenes Gemisch.«
»Ich
bin ganz deiner Meinung. Aber wenn sie dir nichts gesagt hat, woher
weißt du's?«
»Ich
sagte nur, sie habe mir nicht ihr Herz ausgeschüttet. Solche
Generalbeichte, so alles von der Seele herunter, das liegt nicht in ihr.
Es fuhr alles bloß ruckweise und plötzlich aus ihr heraus, und dann war
es wieder vorüber. Aber gerade weil es so ungewollt und wie von ungefähr
aus ihrer Seele kam, deshalb war es mir so wichtig.«
»Und
wann war es denn und bei welcher Gelegenheit?«
»Es
werden jetzt gerade drei Wochen sein, und wir saßen im Garten, mit
allerhand Ausstattungsdingen, großen und kleinen, beschäftigt, als Wilke
einen Brief von Innstetten brachte. Sie steckte ihn zu sich, und ich
mußte sie eine Viertelstunde später erst erinnern, daß sie ja einen
Brief habe. Dann las sie ihn, aber verzog kaum eine Miene. Ich bekenne
dir, daß mir bang ums Herz dabei wurde, so bang, daß ich gern eine
Gewißheit haben wollte, so viel, wie man in diesen Dingen haben kann.«
»Sehr
wahr, sehr wahr.«
Was
meinst du damit?«
»Nun,
ich meine nur ... Aber das ist ja ganz gleich. Sprich nur weiter; ich
bin ganz Ohr.«
»Ich
fragte also rundheraus, wie's stünde, und weil ich bei ihrem eigenen
Charakter einen feierlichen Ton vermeiden und alles so leicht wie
möglich, ja beinah scherzhaft nehmen wollte, so warf ich die Frage hin,
ob sie vielleicht den Vetter Briest, der ihr in Berlin sehr stark den
Hof gemacht hatte, ob sie den vielleicht lieber heiraten würde ...«
»Und?«
»Da
hättest du sie sehen sollen. Ihre nächste Antwort war ein schnippisches
Lachen. Der Vetter sei doch eigentlich nur ein großer Kadett in
Leutnantsuniform. Und einen Kadetten könne sie nicht einmal lieben,
geschweige heiraten. Und dann sprach sie von Innstetten, der ihr mit
einem Male der Träger aller männlichen Tugenden war.«
»Und
wie erklärst du dir das?«
»Ganz
einfach. So geweckt und temperamentvoll und beinahe leidenschaftlich sie
ist, oder vielleicht auch, weil sie es ist, sie gehört nicht zu denen,
die so recht eigentlich auf Liebe gestellt sind, wenigstens nicht auf
das, was den Namen ehrlich verdient. Sie redet zwar davon, sogar mit
Nachdruck und einem gewissen Überzeugungston, aber doch nur, weil sie
irgendwo gelesen hat, Liebe sei nun mal das Höchste, das Schönste, das
Herrlichste. Vielleicht hat sie's auch bloß von der sentimentalen
Person, der Hulda, gehört und spricht es ihr nach. Aber sie empfindet
nicht viel dabei. Wohl möglich, daß es alles mal kommt, Gott verhüte es,
aber noch ist es nicht da.«
»Und
was ist da? Was hat sie?«
»Sie
hat nach meinem und auch nach ihrem eigenen Zeugnis zweierlei:
Vergnügungssucht und Ehrgeiz.
»Nun,
das kann passieren. Da bin ich beruhigt.«
»Ich
nicht. Innstetten ist ein Karrieremacher – von Streber will ich nicht
sprechen, das ist er auch nicht, dazu ist er zu wirklich vornehm –, also
Karrieremacher, und das wird Effis Ehrgeiz befriedigen.«
»Nun
also. Das ist doch gut.«
»Ja,
das ist gut! Aber es ist erst die Hälfte. Ihr Ehrgeiz wird befriedigt
werden, aber ob auch ihr Hang nach Spiel und Abenteuer? Ich bezweifle.
Für die stündliche kleine Zerstreuung und Anregung, für alles, was die
Langeweile bekämpft, diese Todfeindin einer geistreichen kleinen Person,
dafür wird Innstetten sehr schlecht sorgen. Er wird sie nicht in einer
geistigen Ode lassen, dazu ist er zu klug und zu weltmännisch, aber er
wird sie auch nicht sonderlich amüsieren. Und was das Schlimmste ist, er
wird sich nicht einmal recht mit der Frage beschäftigen, wie das wohl
anzufangen sei. Das wird eine Weile so gehen, ohne viel Schaden
anzurichten, aber zuletzt wird sie's merken, und dann wird es sie
beleidigen. Und dann weiß ich nicht, was geschieht. Denn so weich und
nachgiebig sie ist, sie hat auch was Rabiates und läßt es auf alles
ankommen.«
In
diesem Augenblick trat Wilke vom Saal her ein und meldete, daß er alles
nachgezählt und alles vollzählig gefunden habe; nur von den feinen
Weingläsern sei eins zerbrochen, aber schon gestern, als das Hoch
ausgebracht wurde – Fräulein Hulda habe mit Leutnant Nienkerken zu
scharf angestoßen.
»Versteht sich, von alter Zeit her immer im Schlaf, und unterm
Holunderbaum ist es natürlich nicht besser geworden. Eine alberne
Person, und ich begreife Nienkerken nicht.«
Ich
begreife ihn vollkommen.«
»Er
kann sie doch nicht heiraten.«
Nein. «
»Also
zu was?«
»Ein
weites Feld, Luise.«
Dies
war am Tage nach der Hochzeit. Drei Tage später kam eine kleine
gekritzelte Karte aus München, die Namen alle nur mit zwei Buchstaben
angedeutet. »Liebe Mama! Heute vormittag die Pinakothek besucht. Geert
wollte auch noch nach dem andern hinüber, das ich hier nicht nenne, weil
ich wegen der Rechtschreibung in Zweifel bin, und fragen mag ich ihn
nicht. Er ist übrigens engelsgut gegen mich und erklärt mir alles.
Überhaupt alles sehr schön, aber anstrengend. In Italien wird es wohl
nachlassen und besser werden. Wir wohnen in den 'Vier Jahreszeiten', was
Geert veranlaßte, mir zu sagen, draußen sei Herbst, aber er habe in mir
den Frühling. Ich finde es sehr sinnig. Er ist überhaupt sehr
aufmerksam. Freilich, ich muß es auch sein, namentlich wenn er was sagt
oder erklärt. Er weiß übrigens alles so gut, daß er nicht einmal
nachzuschlagen braucht. Mit Entzücken spricht er von Euch, namentlich
von Mama. Hulda findet er etwas zierig; aber der alte Niemeyer hat es
ihm ganz angetan. Tausend Grüße von Eurer ganz berauschten, aber auch
etwas müden Effi.«
Solche
Karten trafen nun täglich ein, aus Innsbruck, aus Verona, aus Vicenza,
aus Padua, eine jede fing an: »Wir haben heute vormittag die hiesige
berühmte Galerie besucht«, oder wenn es nicht die Galerie war, so war es
eine Arena oder irgendeine Kirche »Santa Maria« mit einem Zunamen. Aus
Padua kam, zugleich mit der Karte, noch ein wirklicher Brief. »Gestern
waren wir in Vicenza. Vicenza muß man sehen wegen des Palladio; Geert
sagte mir, daß in ihm alles Moderne wurzele. Natürlich nur in bezug auf
Baukunst. Hier in Padua (wo wir heute früh ankamen) sprach er im
Hotelwagen etliche Male vor sich hin: 'Er liegt in Padua begraben', und
war überrascht, als er von mir vernahm, daß ich diese Worte noch nie
gehört hätte. Schließlich aber sagte er, es sei eigentlich ganz gut und
ein Vorzug, daß ich nichts davon wüßte. Er ist überhaupt sehr gerecht.
Und vor allem ist er engelsgut gegen mich und gar nicht überheblich und
auch gar nicht alt. Ich habe noch immer das Ziehen in den Füßen, und das
Nachschlagen und das lange Stehen vor den Bildern strengt mich an. Aber
es muß ja sein. Ich freue mich sehr auf Venedig. Da bleiben wir fünf
Tage, ja vielleicht eine ganze Woche. Geert hat mir schon von den Tauben
auf dem Markusplatz vorgeschwärmt, und daß man sich da Tüten mit Erbsen
kauft und dann die schönen Tiere damit füttert. Es soll Bilder geben,
die das darstellen, schöne blonde Mädchen, 'ein Typus wie Hulda', sagte
er. Wobei mir denn auch die Jahnkeschen Mädchen einfallen. Ach, ich gäbe
was drum, wenn ich mit ihnen auf unserem Hof auf einer Wagendeichsel
sitzen und unsere Tauben füttern könnte. Die Pfauentaube mit dem starken
Kropf dürft ihr aber nicht schlachten, die will ich noch wiedersehen.
Ach, es ist so schön hier. Es soll auch das Schönste sein. Eure
glückliche, aber etwas müde Effi.«
Frau
von Briest, als sie den Brief vorgelesen hatte, sagte:
»Das
arme Kind. Sie hat Sehnsucht.«
»Ja«,
sagte Briest, »sie hat Sehnsucht. Diese verwünschte Reiserei ...«
»Warum
sagst du das jetzt? Du hättest es ja hindern können. Aber das ist so
deine Art, hinterher den Weisen zu spielen. Wenn das Kind in den Brunnen
gefallen ist, decken die Ratsherren den Brunnen zu.«
»Ach,
Luise, komme mir doch nicht mit solchen Geschichten. Effi ist unser
Kind, aber seit dem 3. Oktober ist sie Baronin Innstetten. Und wenn ihr
Mann, unser Herr Schwiegersohn, eine Hochzeitsreise machen und bei der
Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will, so kann ich ihn daran
nicht hindern. Das ist eben das, was man sich verheiraten nennt. «
»Also
jetzt gibst du das zu. Mir gegenüber hast du's immer bestritten, immer
bestritten, daß die Frau in einer Zwangslage sei.«
»Ja,
Luise, das hab ich. Aber wozu das jetzt. Das ist wirklich ein zu weites
Feld.«
Sechstes Kapitel
Mitte
November – sie waren bis Capri und Sorrent gekommen – lief Innstettens
Urlaub ab, und es entsprach seinem Charakter und seinen Gewohnheiten,
genau Zeit und Stunde zu halten.
Am 14.
früh traf er denn auch mit dem Kurierzug in Berlin ein, wo Vetter Briest
ihn und die Cousine begrüßte und vorschlug, die zwei bis zum Abgang des
Stettiner Zuges noch zur Verfügung bleibenden Stunden zum Besuch des
St.-Privat-Panoramas zu benutzen und diesem Panoramabesuch ein kleines
Gabelfrühstück folgen zu lassen. Beides wurde dankbar akzeptiert. Um
Mittag war man wieder auf dem Bahnhof und nahm hier, nachdem, wie
herkömmlich, die glücklicherweise nie ernst gemeinte Aufforderung, »
doch auch mal herüberzukommen«, ebenso von Effi wie von Innstetten
ausgesprochen worden war, unter herzlichem Händeschütteln Abschied
voneinander. Noch als der Zug sich schon in Bewegung setzte, grüßte Effi
vom Coupé aus. Dann machte sie sich's bequem und schloß die Augen; nur
von Zeit zu Zeit richtete sie sich wieder auf und reichte Innstetten die
Hand.
Es war
eine angenehme Fahrt, und pünktlich erreichte der Zug den Bahnhof
Klein-Tantow, von dem aus eine Chaussee nach dem noch zwei Meilen
entfernten Kessin hinüberführte. Bei Sommerzeit, namentlich während der
Bademonate, benutzte man statt der Chaussee lieber den Wasserweg und
fuhr auf einem alten Raddampfer das Flüßchen Kessine, dem Kessin selbst
seinen Namen verdankte, hinunter; am 1. Oktober aber stellte der
»Phönix«, von dem seit langem vergeblich gewünscht wurde, daß er in
einer passagierfreien Stunde sich seines Namens entsinnen und verbrennen
möge, regelmäßig seine Fahrten ein, weshalb denn auch Innstetten bereits
von Stettin aus an seinen Kutscher Kruse telegrafiert hatte: »Fünf Uhr
Bahnhof Klein-Tantow. Bei gutem Wetter offener Wagen.«
Und nun
war gutes Wetter, und Kruse hielt in offenem Gefährt am Bahnhof und
begrüßte die Ankommenden mit dem vorschriftsmäßigen Anstand eines
herrschaftlichen Kutschers. »Nun, Kruse, alles in Ordnung?«
»Zu
Befehl, Herr Landrat.«
»Dann,
Effi, bitte, steig ein.« Und während Effi dem nachkam und einer von den
Bahnhofsleuten einen kleinen Handkoffer vorn beim Kutscher unterbrachte,
gab Innstetten Weisung, den Rest des Gepäcks mit dem Omnibus
nachzuschicken. Gleich danach nahm auch er seinen Platz, bat, sich
Populär machend, einen der Umstehenden um Feuer und rief Kruse zu: »Nun
vorwärts, Kruse.« Und über die Schienenweg, die vielgleisig an der
Übergangsstelle lagen, ging es in Schräglinie den Bahndamm hinunter und
gleich danach an einem schon an der Chaussee gelegenen Gasthaus vorüber,
das den Namen »Zum Fürsten Bismarck« führte. Denn an ebendieser Stelle
gabelte der Weg und zweigte, wie rechts nach Kessin, so links nach
Varzin hin ab. Vor dem Gasthof stand ein mittelgroßer, breitschultriger
Mann in Pelz und Pelzmütze, welch letztere er, als der Herr Landrat
vorüberfuhr, mit vieler Würde vom Haupte nahm. »Wer war denn das?« sagte
Effi, die durch alles, was sie sah, aufs höchste interessiert und schon
deshalb bei bester Laune war. »Er sah ja aus wie ein Starost, wobei ich
freilich bekennen muß, nie einen Starosten gesehen zu haben.«
»Was
auch nicht schadet, Effi Du hast es trotzdem sehr gut getroffen. Er
sieht wirklich aus wie ein Starost und ist auch so was. Er ist nämlich
ein halber Pole, heißt Golchowski, und wenn wir hier Wahl haben oder
eine Jagd, dann ist er obenauf. Eigentlich ein ganz unsicherer
Passagier, dem ich nicht über den Weg traue und der wohl viel auf dem
Gewissen hat. Er spielt sich aber auf den Loyalen hin aus, und wenn die
Varziner Herrschaften hier vorüberkommen, möchte er sich am liebsten vor
den Wagen werfen. Ich weiß, daß er dem Fürsten auch widerlich ist. Aber
was hilft's? Wir dürfen es nicht mit ihm verderben, weil wir ihn
brauchen. Er hat hier die ganze Gegend in der Tasche und versteht die
Wahlmache wie kein anderer, gilt auch für wohlhabend. Dabei leiht er auf
Wucher, was sonst die Polen nicht tun; in der Regel das Gegenteil.«
»Er sah
aber gut aus.«
»Ja,
gut aussehen tut er. Gut aussehen tun die meisten hier. Ein hübscher
Schlag Menschen. Aber das ist auch das Beste, was man von ihnen sagen
kann. Eure märkischen Leute sehen unscheinbarer aus und verdrießlicher,
und in ihrer Haltung sind sie weniger respektvoll, eigentlich gar nicht,
aber ihr Ja ist Ja und Nein ist Nein, und man kann sich auf sie
verlassen. Hier ist alles unsicher.«
»Warum
sagst du mir das? Ich muß nun doch hier mit ihnen leben.«
»Du
nicht, du wirst nicht viel von ihnen hören und sehen. Denn Stadt und
Land sind hier sehr verschieden, und du wirst nur unsere Städter
kennenlernen, unsere guten Kessiner.«
»Unsere
guten Kessiner. Ist es Spott, oder sind wie wirklich so gut?«
»Daß
sie wirklich gut sind, will ich nicht gerade behaupten, aber sie sind
doch anders als die andern; ja, sie haben gar keine Ähnlichkeit mit der
Landbevölkerung hier.«
»Und
wie kommt das?«
»Weil
es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung nach und ihren
Beziehungen nach. Was du hier landeinwärts findest, das sind sogenannte
Kaschuben, von denen du vielleicht gehört hast, slawische Leute, die
hier schon tausend Jahre sitzen und wahrscheinlich noch viel länger.
Alles aber, was hier an der Küste hin in den kleinen See- und
Handelsstädten wohnt, das sind von weither Eingewanderte, die sich um
das kaschubische Hinterland wenig kümmern, weil sie wenig davon haben
und auf etwas ganz anderes angewiesen sind. Worauf sie angewiesen sind,
das sind die Gegenden, mit denen sie Handel treiben, und da sie das mit
aller Welt tun und mit aller Welt in Verbindung stehen, so findest du
zwischen ihnen auch Menschen aus aller Welt Ecken und Enden. Auch in
unserem guten Kessin, trotzdem es eigentlich nur ein Nest ist.«
Aber
das ist ja entzückend, Geert. Du sprichst immer von Nest, und nun finde
ich, wenn du nicht übertrieben hast, eine ganz neue Welt hier. Allerlei
Exotisches. Nicht wahr, so was Ähnliches meintest du doch?« Er nickte.
»Eine
ganz neue Welt, sag ich, vielleicht einen Neger oder einen Türken oder
vielleicht sogar einen Chinesen.«
»Auch
einen Chinesen. Wie gut du raten kannst. Es ist möglich, daß wir
wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben wir einen gehabt; jetzt
ist er tot und auf einem kleinen eingegitterten Stück Erde begraben,
dicht neben dem Kirchhof. Wenn du nicht furchtsam bist, will ich dir bei
Gelegenheit mal sein Grab zeigen; es liegt zwischen den Dünen, bloß
Strandhafer drumrum und dann und wann ein paar Immortellen, und immer
hört man das Meer. Es ist sehr schön und sehr schauerlich.«
»Ja,
schauerlich, und ich möchte wohl mehr davon wissen. Aber doch lieber
nicht, ich habe dann immer gleich Visionen und Träume und möchte doch
nicht, wenn ich diese Nacht hoffentlich gut schlafe, gleich einen
Chinesen an mein Bett treten sehen.«
»Das
wird er auch nicht.«
»Das
wird er auch nicht. Hör, das klingt ja sonderbar, als ob es doch möglich
wäre. Du willst mir Kessin interessant machen, aber du gehst darin ein
bißchen weit. Und solche fremde Leute habt ihr viele in Kessin?«
»Sehr
viele. Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden, aus Menschen, deren
Eltern oder Großeltern noch ganz woanders saßen.«
»Höchst
merkwürdig. Bitte, sag mir mehr davon. Aber nicht wieder was Gruseliges.
Ein Chinese, find ich, hat immer was Gruseliges. «
»Ja,
das hat er«, lachte Geert. »Aber der Rest ist, Gott sei Dank, von ganz
anderer Art, lauter manierliche Leute, vielleicht ein bißchen zu sehr
Kaufmann, ein bißchen zu sehr auf ihren Vorteil bedacht und mit Wechseln
von zweifelhaftem Wert immer bei der Hand. Ja, man muß sich vorsehen mit
ihnen. Aber sonst ganz gemütlich. Und damit du siehst, daß ich dir
nichts vorgemacht habe, will ich dir nur so eine kleine Probe geben, so
eine Art Register oder Personenverzeichnis.«
»Ja,
Geert, das tu.«
»Da
haben wir beispielsweise keine fünfzig Schritt von uns, und unsere
Gärten stoßen sogar zusammen, den Maschinen- und Baggermeister
Macpherson, einen richtigen Schotten und Hochländer.«
»Und
trägt sich auch noch so?«
»Nein,
Gott sei Dank nicht, denn es ist ein verhutzeltes Männchen, auf das
weder sein Clan noch Walter Scott besonders stolz sein würden. Und dann
haben wir in demselben Haus, wo dieser Macpherson wohnt, auch noch einen
alten Wundarzt, Beza mit Namen, eigentlich bloß Barbier; der stammt aus
Lissabon, gerade daher, wo auch der berühmte General de Meza herstammt –
Meza, Beza, du hörst die Landesverwandtschaft heraus. Und dann haben wir
flußaufwärts am Bollwerk – das ist nämlich der Kai, wo die Schiffe
liegen – einen Goldschmied namens Stedingk, der aus einer alten
schwedischen Familie stammt; ja, ich glaube, es gibt sogar Reichsgrafen,
die so heißen, und des weiteren, und damit will ich dann vorläufig
abschließen, haben wir den guten alten Doktor Hannemann, der natürlich
ein Däne ist und lange in Island war und sogar ein kleines Buch
geschrieben hat über den letzten Ausbruch des Hekla oder Krabla.«
»Das
ist ja aber großartig, Geert. Das ist ja wie sechs Romane, damit kann
man ja gar nicht fertig werden. Es klingt erst spießbürgerlich und ist
doch hinterher ganz apart. Und dann müßt ihr ja doch auch Menschen
haben, schon weil es eine Seestadt ist, die nicht bloß Chirurgen oder
Barbiere sind oder sonst dergleichen. Ihr müßt doch auch Kapitäne haben,
irgendeinen fliegenden Holländer oder ...«
»Da
hast du ganz recht. Wir haben sogar einen Kapitän, der war Seeräuber
unter den Schwarzflaggen. «
»Kenn
ich nicht. Was sind Schwarzflaggen?«
»Das
sind Leute weit dahinten in Tonkin und an der Südsee ... Seit er aber
wieder unter Menschen ist, hat er auch wieder die besten Formen und ist
ganz unterhaltlich.«
»Ich
würde mich aber doch vor ihm fürchten.«
»Was du
nicht nötig hast, zu keiner Zeit, und auch dann nicht, wenn ich über
Land bin oder zum Tee beim Fürsten, denn zu allem andern, was wir haben,
haben wir ja Gott sei Dank auch Rollo ...«
»Rollo
?«
»Ja,
Rollo. Du denkst dabei, vorausgesetzt, daß du bei Niemeyer oder Jahnke
von dergleichen gehört hast, an den Normannenherzog, und unserer hat
auch so was. Es ist aber bloß ein Neufundländer, ein wunderschönes Tier,
das mich liebt und dich auch lieben wird. Denn Rollo ist ein Kenner. Und
solange du den um dich hast, so lange bist du sicher und kann nichts an
dich heran, kein Lebendiger und kein Toter. Aber sieh mal den Mond da
drüben. Ist es nicht schön?«
Effi,
die, still in sich versunken, jedes Wort halb ängstlich, halb begierig
eingesogen hatte, richtete sich jetzt auf und sah nach rechts hinüber,
wo der Mond, unter weißem, aber rasch hinschwindendem Gewölk, eben
aufgegangen war. Kupferfarben stand die große Scheibe hinter einem
Erlengehölz und warf ihr Licht auf eine breite Wasserfläche, die die
Kessine hier bildete. Oder vielleicht war es auch schon ein Haff, an dem
das Meer draußen seinen Anteil hatte.
Effi
war wie benommen. »Ja, du hast recht, Geert, wie schön; aber es hat
zugleich so was Unheimliches. In Italien habe ich nie solchen Eindruck
gehabt, auch nicht, als wir von Mestre nach Venedig hinüberfuhren. Da
war auch Wasser und Sumpf und Mondschein, und ich dachte, die Brücke
würde brechen; aber es war nicht so gespenstig. Woran liegt es nur? Ist
es doch das Nördliche?«
Innstetten lachte. »Wir sind hier fünfzehn Meilen nördlicher als in
Hohen-Cremmen, und eh der erste Eisbär kommt, mußt du noch eine Weile
warten. Ich glaube, du bist nervös von der langen Reise und dazu das
St.-Privat-Panorama und die Geschichte von dem Chinesen.«
»Du
hast mir ja gar keine erzählt.«
»Nein,
ich hab ihn nur eben genannt. Aber ein Chinese ist schon an und für sich
eine Geschichte ...«
»Ja«,
lachte sie.
»Und
jedenfalls hast du's bald überstanden. Siehst du da vor dir das kleine
Haus mit dem Licht? Es ist eine Schmiede. Da biegt der Weg. Und wenn wir
die Biegung gemacht haben, dann siehst du schon den Turm von Kessin oder
richtiger beide...«
»Hat es
denn zwei?«
»Ja,
Kessin nimmt sich auf. Es hat jetzt auch eine katholische Kirche.«
Eine
halbe Stunde später hielt der Wagen an der ganz am entgegengesetzten
Ende der Stadt gelegenen landrätlichen Wohnung, einem einfachen, etwas
altmodischen Fachwerkhaus, das mit seiner Front auf die nach den
Seebädern hinausführende Hauptstraße, mit seinem Giebel aber auf ein
zwischen der Stadt und den Dünen liegendes Wäldchen, das die »Plantage«
hieß, herniederblickte.
Dies
altmodische Fachwerkhaus war übrigens nur Innstettens Privatwohnung,
nicht das eigentliche Landratsamt, welches letztere, schräg gegenüber,
an der anderen Seite der Straße lag.
Kruse
hatte nicht nötig, durch einen dreimaligen Peitschenknips die Ankunft zu
vermelden; längst hatte man von Tür und Fenstern aus nach den
Herrschaften ausgeschaut, und ehe noch der Wagen heran war, waren
bereits alle Hausinsassen auf dem die ganze Breite des Bürgersteigs
einnehmenden Schwellstein versammelt, vorauf Rollo, der im selben
Augenblick, wo der Wagen hielt, diesen zu umkreisen begann. Innstetten
war zunächst seiner jungen Frau beim Aussteigen behilflich und ging
dann, dieser den Arm reichend, unter freundlichem Gruß an der
Dienerschaft vorüber, die nun dem jungen Paar in den mit prächtigen
alten Wandschränken umstandenen Hausflur folgte. Das Hausmädchen, eine
hübsche, nicht mehr ganz jugendliche Person, die ihre stattliche Fülle
fast ebenso gut kleidete wie das zierliche Mützchen auf dem blonden
Haar, war der gnädigen Frau beim Ablegen von Muff und Mantel behilflich
und bückte sich eben, um ihr auch die mit Pelz gefütterten Gummistiefel
auszuziehen. Aber ehe sie noch dazu kommen konnte, sagte Innstetten: »Es
wird das beste sein, ich stelle dir gleich hier unsere gesamte
Hausgenossenschaft vor, mit Ausnahme der Frau Kruse, die sich – ich
vermute sie wieder bei ihrem unvermeidlichen schwarzen Huhn – nicht
gerne sehen läßt.« Alles lächelte. »Aber lassen wir Frau Kruse ... Dies
hier ist mein alter Friedrich, der schon mit mir auf der Universität war
... Nicht wahr, Friedrich, gute Zeiten damals ... Und dies hier ist
Johanna, märkische Landsmännin von dir, wenn du, was aus Pasewalker
Gegend stammt, noch für voll gelten lassen willst, und dies ist
Christel, der wir mittags und abends unser leibliches Wohl anvertrauen
und die zu kochen versteht, das kann ich dir versichern. Und dies hier
ist Rollo. Nun, Rollo, wie geht's?«
Rollo
schien nur auf diese spezielle Ansprache gewartet zu haben, denn im
selben Augenblick, wo er seinen Namen hörte, gab er einen Freudenblaff,
richtete sich auf und legte die Pfoten auf seines Herrn Schulter.
»Schon
gut, Rollo, schon gut. Aber sieh da, das ist die Frau; ich hab ihr von
dir erzählt und ihr gesagt, daß du ein schönes Tier seist und sie
schützen würdest.« Und nun ließ Rollo ab und setzte sich vor Innstetten
nieder, zugleich neugierig zu der jungen Frau aufblickend. Und als diese
ihm die Hand hinhielt, umschmeichelte er sie.
Effi
hatte während dieser Vorstellungsszene Zeit gefunden, sich umzuschauen.
Sie war wie gebannt von allem, was sie sah, und dabei geblendet von der
Fülle von Licht. In der vorderen Flurhälfte brannten vier, fünf
Wandleuchter, die Leuchten selbst sehr primitiv, von bloßem Weißblech,
was aber den Glanz und die Helle nur noch steigerte. Zwei mit roten
Schleiern bedeckte Astrallampen, Hochzeitsgeschenk von Niemeyer, standen
auf einem zwischen zwei Eichenschränken angebrachten Klapptisch, in
Front davon das Teezeug, dessen Lämpchen unter dem Kessel schon
angezündet war. Aber noch viel, viel anderes und zum Teil sehr
Sonderbares kam zu dem allen hinzu. Quer über den Flur fort liefen drei
die Flurdecke in ebenso viele Felder teilende Balken; an dem vordersten
hing ein Schiff mit vollen Segeln, hohem Hinterdeck und Kanonenluken,
während weiterhin ein riesiger Fisch in der Luft zu schwimmen schien.
Effi nahm ihren Schirm, den sie noch in Händen hielt, und stieß leis an
das Ungetüm an, so daß es sich in eine langsam schaukelnde Bewegung
setzte.
»Was
ist das, Geert?« fragte sie.
»Das
ist ein Haifisch.«
»Und
ganz dahinten das, was aussieht wie eine große Zigarre vor einem
Tabaksladen?«
»Das
ist ein junges Krokodil. Aber das kannst du dir alles morgen viel besser
und genauer ansehen; jetzt komm und laß uns eine Tasse Tee nehmen. Denn
trotz aller Plaids und Decken wirst du gefroren haben. Es war zuletzt
empfindlich kalt.«
Er bot
nun Effi den Arm, und während sich die beiden Mädchen zurückzogen und
nur Friedrich und Rollo folgten, trat man, nach links hin, in des
Hausherrn Wohn- und Arbeitszimmer ein. Effi war hier ähnlich überrascht
wie draußen im Flur; aber ehe sie sich darüber äußern konnte, schlug
Innstetten eine Portiere zurück, hinter der ein zweites, etwas größeres
Zimmer, mit Blick auf Hof und Garten, gelegen war. »Das, Effi, ist nun
also dein. Friedrich und Johanna haben es, so gut es ging, nach meinen
Anordnungen herrichten müssen. Ich finde es ganz erträglich und würde
mich freuen, wenn es dir auch gefiele.«
Sie
nahm ihren Arm aus dem seinigen und hob sich auf die Fußspitzen, um ihm
einen herzlichen Kuß zu geben.
»Ich
armes kleines Ding, wie du mich verwöhnst. Dieser Flügel und dieser
Teppich, ich glaube gar, es ist ein türkischer, und das Bassin mit den
Fischchen und dazu der Blumentisch. Verwöhnung, wohin ich sehe.«
»Ja,
meine liebe Effi, das mußt du dir nun schon gefallen lassen, dafür ist
man jung und hübsch und liebenswürdig, was die Kessiner wohl auch schon
erfahren haben werden, Gott weiß woher. Denn an dem Blumentisch
wenigstens bin ich unschuldig. Friedrich, wo kommt der Blumentisch her?«
Apotheker Gieshübler ... Es liegt auch eine Karte bei.«
Ah,
Gieshübler, Alonzo Gieshübler«, sagte Innstetten und reichte lachend und
in beinahe ausgelassener Laune die Karte mit dem etwas fremdartig
klingenden Vornamen zu Effi hinüber. »Gieshübler, von dem hab ich dir zu
erzählen vergessen – beiläufig, er führt auch den Doktortitel, hat's
aber nicht gern, wenn man ihn dabei nennt, das ärgere, so meint er, die
richtigen Doktoren bloß, und darin wird er wohl recht haben. Nun, ich
denke, du wirst ihn kennenlernen, und zwar bald; er ist unsere beste
Nummer hier, Schöngeist und Original und vor allem Seele von Mensch, was
doch immer die Hauptsache bleibt. Aber lassen wir das alles und setzen
uns und nehmen unsern Tee. Wo soll es sein? Hier bei dir oder drin bei
mir? Denn eine weitere Wahl gibt es nicht. Eng und klein ist meine
Hütte.«
Sie
setzte sich ohne Besinnen auf ein kleines Ecksofa. »Heute bleiben wir
hier, heute bist du bei mir zu Gast. Oder lieber so: den Tee regelmäßig
bei mir, das Frühstück bei dir; dann kommt jeder zu seinem Recht, und
ich bin neugierig, wo mir's am besten gefallen wird.«
»Das
ist eine Morgen- und Abendfrage.«
»Gewiß.
Aber wie sie sich stellt, oder richtiger, wie wir uns dazu stellen, das
ist es eben.«
Und sie
lachte und schmiegte sich an ihn und wollte ihm die Hand küssen.
»Nein,
Effi, um Himmels willen nicht, nicht so. Mir liegt nicht daran, die
Respektsperson zu sein, das bin ich für die Kessiner. Für dich bin ich
...«
»Nun
was?«
»Ach
laß. Ich werde mich hüten, es zu sagen.«
Siebentes Kapitel
Es war
schon heller Tag, als Effi am andern Morgen erwachte. Sie hatte Mühe,
sich zurechtzufinden. Wo war sie? Richtig, in Kessin, im Hause des
Landrats von Innstetten, und sie war seine Frau, Baronin Innstetten. Und
sich aufrichtend, sah sie sich neugierig um; am Abend vorher war sie zu
müde gewesen, um alles, was sie da halb fremdartig, halb altmodisch
umgab, genauer in Augenschein zu nehmen. Zwei Säulen stützten den
Deckenbalken, und grüne Vorhänge schlossen den alkovenartigen
Schlafraum, in welchem die Betten standen, von dem Rest des Zimmers ab;
nur in der Mitte fehlte der Vorhang oder war zurückgeschlagen, was ihr
von ihrem Bett aus eine bequeme Orientierung gestattete. Da, zwischen
den zwei Fenstern, stand der schmale, bis hoch hinaufreichende Trumeau,
während rechts daneben, und schon an der Flurwand hin, der große
schwarze Kachelofen aufragte, der noch (soviel hatte sie schon am Abend
vorher bemerkt) nach alter Sitte von außen her geheizt wurde. Sie fühlte
jetzt, wie seine Wärme herüberströmte.
Wie
schön es doch war, im eigenen Hause zu sein; soviel Behagen hatte sie
während der ganzen Reise nicht empfunden, nicht einmal in Sorrent.
Aber wo
war Innstetten? Alles still um sie her, niemand da. Sie hörte nur den
Ticktackschlag einer kleinen Pendüle und dann und wann einen dumpfen Ton
im Ofen, woraus sie schloß, daß vom Flur her ein paar neue Scheite
nachgeschoben würden. Allmählich entsann sie sich auch, daß Geert am
Abend vorher von einer elektrischen Klingel gesprochen hatte, nach der
sie dann auch nicht lange mehr zu suchen brauchte; dicht neben ihrem
Kissen war der kleine weiße Elfenbeinknopf, auf den sie nun leise
drückte.
Gleich
danach erschien Johanna. »Gnädige Frau haben befohlen.«
»Ach,
Johanna, ich glaube, ich habe mich verschlafen. Es muß schon spät sein.«
»Eben
neun.«
»Und
der Herr ...«, es wollte ihr nicht glücken, so ohne ,weiteres von ihrem
»Mann« zu sprechen ..., »der Herr, er muß sehr leise gemacht haben; ich
habe nichts gehört.«
»Das
hat er gewiß. Und gnäd'ge Frau werden fest geschlafen haben. Nach der
langen Reise ...«
»Ja,
das hab ich. Und der Herr, ist er immer so früh auf?« Immer, gnäd'ge
Frau. Darin ist er streng; er kann das lange sch1afen nicht leiden, und
wenn er drüben in sein Zimmer tritt, da muß der Ofen warm sein, und der
Kaffee darf auch nicht auf sich warten lassen.«
»Da hat
er also schon gefrühstückt?«
»Oh,
nicht doch, gnäd'ge Frau ... der gnäd'ge Herr... «
Effi
fühlte, daß sie die Frage nicht hätte tun und die Vermutung, Innstetten
könne nicht auf sie gewartet haben, lieber nicht hätte aussprechen
sollen. Es lag ihr denn auch daran, diesen ihren Fehler, so gut es ging,
wieder auszugleichen, und als sie sich erhoben und vor dem Trumeau Platz
genommen hatte, nahm sie das Gespräch wieder auf und sagte: »Der Herr
hat übrigens ganz recht. Immer früh auf, das war auch Regel in meiner
Eltern Haus. Wo die Leute den Morgen verschlafen, da gibt es den ganzen
Tag keine Ordnung mehr. Aber der Herr wird es so streng mit mir nicht
nehmen; eine ganze Weile hab ich diese Nacht nicht schlafen können und
habe mich sogar ein wenig geängstigt.«
»Was
ich hören muß, gnäd'ge Frau! Was war es denn?«
»Es war
über mir ein ganz sonderbarer Ton, nicht laut, aber doch sehr
eindringlich. Erst klang es, wie wenn lange Schleppenkleider über die
Diele hinschleiften, und in meiner Erregung war es mir ein paarmal, als
ob ich kleine weiße Atlasschuhe sähe. Es war, als tanze man oben, aber
ganz leise.« Johanna, während das Gespräch so ging, sah über die
Schulter der jungen Frau fort in den hohen, schmalen Spiegel hinein, um
die Mienen Effis besser beobachten zu können. Dann sagte sie: »Ja, das
ist oben im Saal. Früher hörten wir es in der Küche auch. Aber jetzt
hören wir es nicht mehr; wir haben uns daran gewöhnt.«
»Ist es
denn etwas Besonderes damit?«
»O Gott
bewahre, nicht im geringsten. Eine Weile wußte man nicht recht, woher es
käme, und der Herr Prediger machte ein verlegenes Gesicht, trotzdem
Doktor Gieshübler immer nur darüber lachte. Nun aber wissen wir, daß es
die Gardinen sind. Der Saal ist etwas multrig und stockig, und deshalb
stehen immer die Fenster auf, wenn nicht gerade Sturm ist. Und da ist
denn fast immer ein starker Zug oben und fegt die alten weißen Gardinen,
die außerdem viel zu lang sind, über die Dielen hin und her. Das klingt
dann so wie seidne Kleider oder auch wie Atlasschuhe, wie die gnäd'ge
Frau eben bemerkte.«
»Natürlich ist es das. Aber ich begreife nur nicht, warum dann die
Gardinen nicht abgenommen werden. Oder man könnte sie ja kürzer machen.
Es ist ein so sonderbares Geräusch, das einem auf die Nerven fällt. Und
nun, Johanna, bitte, geben Sie mir noch das kleine Tuch, und tupfen Sie
mir die Stirn. Oder nehmen Sie lieber den Rafraichisseur aus meiner
Reisetasche ... Ach, das ist schön und erfrischt mich. Nun werde ich
hinübergehen. Er ist doch noch da, oder war er schon aus?«
»Der
gnäd'ge Herr war schon aus, ich glaube, drüben auf dem Amt. Aber seit
einer Viertelstunde ist er zurück. Ich werde Friedrich sagen, daß er das
Frühstück bringt.«
Und
damit verließ Johanna das Zimmer, während Effi noch einen Blick in den
Spiegel tat und dann über den Flur fort, der bei der Tagesbeleuchtung
viel von seinem Zauber vom Abend vorher eingebüßt hatte, bei Geert
eintrat.
Dieser
saß an seinem Schreibtisch, einem etwas schwerfälligen Zylinderbüro, das
er aber, als Erbstück aus dem elterlichen Hause, nicht missen mochte.
Effi
stand hinter ihm und umarmte und küßte ihn, noch eh euch von seinem
Platz erheben konnte.
»Schon?«
»Schon,
sagst du. Natürlich um mich zu verspotten.«
Innstetten schüttelte den Kopf. »Wie werd ich das?« Effi fand aber ein
Gefallen daran, sich anzuklagen, und wollte von den Versicherungen ihres
Mannes, daß sein »schon« ganz aufrichtig gemeint gewesen sei, nichts
hören. »Du mußt von der Reise her wissen, daß ich morgens nie habe
warten lassen. Im Laufe des Tages, nun ja, da ist es etwas anderes. Es
ist wahr, ich bin nicht sehr pünktlich, aber ich bin keine
Langschläferin. Darin, denk ich, haben mich die Eltern gut erzogen.«
»Darin?
In allem, meine süße Effi.«
»Das
sagst du so, weil wir noch in den Flitterwochen sind ... aber nein, wir
sind ja schon heraus. Um Himmels willen, Geert, daran habe ich noch gar
nicht gedacht, wir sind ja schon über sechs Wochen verheiratet, sechs
Wochen und einen Tag. Ja, das ist etwas anderes, da nehme ich es nicht
mehr als Schmeichelei, da nehme ich es als Wahrheit.«
In
diesem Augenblick trat Friedrich ein und brachte den Kaffee. Der
Frühstückstisch stand in Schräglinie vor einem Meinen, rechtwinkligen
Sofa, das gerade die eine Ecke des Wohnzimmers ausfüllte. Hier setzten
sich beide. »Der Kaffee ist ja vorzüglich«, sagte Effi, während sie
zugleich das Zimmer und seine Einrichtung musterte. »Das ist noch
Hotelkaffee oder wie der bei Bottegone ... erinnerst du dich noch, in
Florenz, mit dem Blick auf den Dom. Davor muß ich der Mama schreiben,
solchen Kaffee haben wir in Hohen-Cremmen nicht. Überhaupt, Geert, ich
sehe nun erst, wie vornehm ich mich verheiratet habe. Bei uns konnte
alles nur so gerade passieren.«
»Torheit, Effi. Ich habe nie eine bessere Hausführung gesehen als bei
euch.«
»Und
dann, wie du wohnst. Als Papa sich den neuen Gewehrschrank angeschafft
und über seinem Schreibtisch einen Büffelkopf und dicht darunter den
alten Wrangel angebracht hatte (er war nämlich mal Adjutant bei dem
Alten), da dacht er wunder was er getan; aber wenn ich mich hier umsehe,
daneben ist unsere ganze Hohen-Cremmener Herrlichkeit ja bloß dürftig
und alltäglich. Ich weiß gar nicht, womit ich das alles vergleichen
soll; schon gestern abend, als ich nur so flüchtig darüber hinsah, kamen
mir allerhand Gedanken.«
Und
welche, wenn ich fragen darf?«
»Ja,
welche. Du darfst aber nicht drüber lachen. Ich habe mal ein Bilderbuch
gehabt, wo ein persischer oder indischer Fürst (denn er trug einen
Turban) mit untergeschlagenen Beinen auf einem roten Seidenkissen saß,
und in seinem Rücken war außerdem noch eine große rote Seidenrolle, die
links und rechts ganz bauschig zum Vorschein kam, und die Wand hinter
dem indischen Fürsten starrte von Schwertern und Dolchen und
Parderfellen und Schilden und langen türkischen Flinten. Und sieh, ganz
so sieht es hier bei dir aus, und wenn du noch die Beine unterschlägst,
ist die Ähnlichkeit vollkommen.«
»Effi,
du bist ein entzückendes, liebes Geschöpf. Du weißt gar nicht, wie sehr
ich's finde und wie gern ich dir in jedem Augenblick zeigen möchte, daß
ich's finde.«
»Nun,
dazu ist ja noch vollauf Zeit; ich bin ja erst siebzehn und habe noch
nicht vor zu sterben.«
»Wenigstens nicht vor mir. Freilich, wenn ich dann stürbe, nähme ich
dich am liebsten mit. Ich will dich keinem andern lassen; was meinst du
dazu?«
»Das
muß ich mir doch noch überlegen. Oder lieber, lassen wir's überhaupt.
Ich spreche nicht gern von Tod, ich bin für Leben. Und nun sage mir, wie
leben wir hier? Du hast mir unterwegs allerlei Sonderbares von Stadt und
Land erzählt, aber wie wir selber hier leben werden, davon kein Wort.
Daß hier alles anders ist als in Hohen-Cremmen und Schwantikow, das seh
ich wohl, aber wir müssen doch in dem 'guten Kessin', wie du's immer
nennst, auch etwas wie Umgang und Gesellschaft haben können. Habt ihr
denn Leute von Familie in der Stadt?«
»Nein,
meine liebe Effi; nach dieser Seite hin gehst du großen Enttäuschungen
entgegen. In der Nähe haben wir ein paar Adlige, die du kennenlernen
wirst, aber hier in der Stadt ist gar nichts.«
»Gar
nichts? Das kann ich nicht glauben. Ihr seid doch bis zu dreitausend
Menschen, und unter dreitausend Menschen muß es doch außer so kleinen
Leuten wie Barbier Beza (so hieß er ja wohl) doch auch noch eine Elite
geben, Honoratioren oder dergleichen.«
Innstetten lachte. »Ja, Honoratioren, die gibt es. Aber bei Licht
besehen ist es nicht viel damit. Natürlich haben wir einen Prediger und
einen Amtsrichter und einen Rektor und einen Lotsenkommandeur, und von
solchen beamteten Leuten findet sich schließlich wohl ein ganzes Dutzend
zusammen, aber die meisten davon: gute Menschen und schlechte
Musikanten. Und was dann noch bleibt, das sind bloß Konsuln.«
»Bloß
Konsuln. Ich bitte dich, Geert, wie kannst du nur sagen 'bloß Konsuln'.
Das ist doch etwas sehr Hohes und Großes, und ich möcht beinah sagen
Furchtbares. Konsuln, das sind doch die mit dem Rutenbündel, draus,
glaub ich, ein Beil heraussah.«
»Nicht
ganz, Effi Die heißen Liktoren.«
»Richtig, die heißen Liktoren. Aber Konsuln ist doch auch etwas sehr
Vornehmes und Hochgesetzliches. Brutus war doch ein Konsul.«
»Ja,
Brutus war ein Konsul. Aber unsere sind ihm nicht sehr ähnlich und
begnügen sich damit, mit Zucker und Kaffee zu handeln oder eine Kiste
mit Apfelsinen aufzubrechen, und verkaufen dir dann das Stück pro zehn
Pfennige.«
»Nicht
möglich.«
»Sogar
gewiß. Es sind kleine, pfiffige Kaufleute, die, wenn fremdländische
Schiffe hier einlaufen und in irgendeiner Geschäftsfrage nicht recht aus
noch ein wissen, dann mit ihrem Rat zur Hand sind, und wenn sie diesen
Rat gegeben und irgendeinem holländischen oder portugiesischen Schiff
einen Dienst geleistet haben, so werden sie zuletzt zu beglaubigten
Vertretern solcher fremder Staaten, und gerade so viele Botschafter und
Gesandte, wie wir in Berlin haben, so viele Konsuln haben wir auch in
Kessin, und wenn irgendein Festtag ist, und es gibt hier viele Festtage,
dann werden alle Wimpel gehißt, und haben wir gerade eine grelle
Morgensonne, so siehst du an solchem Tag ganz Europa von unsern Dächern
flaggen und das Sternenbanner und den chinesischen Drachen dazu.«
»Du
bist in einer spöttischen Laune, Geert, und magst auch wohl recht haben.
Aber ich, für meine kleine Person, muß dir gestehen, daß ich dies alles
entzückend finde und daß unsere havelländischen Städte daneben
verschwinden. Wenn sie da Kaisers Geburtstag feiern, so flaggt es immer
bloß schwarz und weiß und allenfalls ein bißchen rot dazwischen, aber
das kann sich doch nicht vergleichen mit der Welt von Flaggen, von der
du sprichst. Überhaupt, wie ich dir schon sagte, ich finde immer wieder
und wieder, es hat alles so was Fremdländisches hier, und ich habe noch
nichts gehört und gesehen, was mich nicht in eine gewisse Verwunderung
gesetzt hätte, gleich gestern abend das merkwürdige Schiff draußen im
Flur und dahinter der Haifisch und das Krokodil und hier dein eigenes
Zimmer. Alles so orientalisch, und ich muß es wiederholen, alles wie bei
einem indischen Fürsten ...«
»Meinetwegen. Ich gratuliere, Fürstin ...«
»Und
dann oben der Saal mit seinen langen Gardinen, die über die Diele
hinfegen.«
»Aber
was weißt du denn von dem Saal, Effi?«
»Nichts, als was ich dir eben gesagt habe. Wohl eine Stunde lang, als
ich in der Nacht aufwachte, war es mir, als ob ich Schuhe auf der Erde
schleifen hörte und als würde getanzt und fast auch wie Musik. Aber
alles ganz leise. Und das hab ich dann heute früh an Johanna erzählt,
bloß um mich zu entschuldigen, daß ich hinterher so lange geschlafen.
Und da sagte sie mir, das sei von den langen Gardinen oben im Saal. Ich
denke, wir machen kurzen Prozeß damit und schneiden die Gardinen etwas
ab oder schließen wenigstens die Fenster; es wird ohnehin bald stürmisch
genug werden. Mitte November ist ja die Zeit.«
Innstetten sah in einer kleinen Verlegenheit vor sich hin und schien
schwankend, ob er auf all das antworten solle. Schließlich entschied er
sich für Schweigen. »Du hast ganz recht, Effi, wir wollen die langen
Gardinen oben kürzer machen. Aber es eilt nicht damit, um so weniger,
als es nicht sicher ist, ob es hilft. Es kann auch was anderes sein, im
Rauchfang oder der Wurm im Holz oder ein Iltis. Wir haben nämlich hier
Iltisse. Jedenfalls aber, eh wir Änderungen vornehmen, mußt du dich in
unserem Hauswesen erst umsehen, natürlich unter meiner Führung; in einer
Viertelstunde zwingen wir's. Und dann machst du Toilette, nur ein ganz
klein wenig, denn eigentlich bist du so am reizendsten – Toilette für
unseren Freund Gieshübler; es ist jetzt zehn vorüber, und ich müßte mich
sehr in ihm irren, wenn er nicht um elf oder doch spätestens um die
Mittagsstunde hier antreten und dir seinen Respekt devotest zu Füßen
legen sollte. Das ist nämlich die Sprache, drin er sich ergeht.
Übrigens, wie ich dir schon sagte, ein kapitaler Mann, der dein Freund
werden wird, wenn ich ihn und dich recht kenne.«
Achtes Kapitel
Elf war
es längst vorüber; aber Gieshübler hatte sich noch immer nicht sehen
lassen. »Ich kann nicht länger warten «, hatte Geert gesagt, den der
Dienst abrief. »Wenn Gieshübler noch erscheint, so sei möglichst
entgegenkommend, dann wird es vorzüglich gehen; er darf nicht verlegen
werden; ist er befangen, so kann er kein Wort finden oder sagt die
sonderbarsten Dinge; weißt du ihn aber in Zutrauen und gute Laune zu
bringen, dann redet er wie ein Buch. Nun, du wirst es schon machen.
Erwarte mich nicht vor drei; es gibt drüben allerlei zu tun. Und das mit
dem Saal oben wollen wir noch überlegen; es wird aber wohl am besten
sein, wir lassen es beim alten.«
Damit
ging Innstetten und ließ seine junge Frau allein. Diese saß, etwas
zurückgelehnt, in einem lauschigen Winkel am Fenster und stützte sich,
während sie hinaussah, mit ihrem linken Arm auf ein kleines Seitenbrett,
das aus dem Zylinderbüro herausgezogen war. Die Straße war die
Hauptverkehrsstraße nach dem Strand hin, weshalb denn auch in Sommerzeit
ein reges Leben hier herrschte, jetzt aber, um Mitte November, war alles
leer und still, und nur ein paar arme Kinder, deren Eltern in etlichen
ganz am äußersten Rand der »Plantage« gelegenen Strohdachhäusern
wohnten, klappten in ihren Holzpantinen an dem Innstettenschen Hause
vorüber. Effi empfand aber nichts von dieser Einsamkeit, denn ihre
Phantasie war noch immer bei den wunderlichen Dingen, die sie, kurz
vorher, während ihrer Umschau haltenden Musterung im Hause gesehen
hatte. Diese Musterung hatte mit der Küche begonnen, deren Herd eine
moderne Konstruktion aufwies, während an der Decke hin, und zwar bis in
die Mädchenstube hinein, ein elektrischer Draht lief – beides vor kurzem
erst hergerichtet. Effi war erfreut gewesen, als ihr Innstetten davon
erzählt hatte, dann aber waren sie von der Küche wieder in den Flur
zurück- und von diesem in den Hof hinausgetreten, der in seiner ersten
Hälfte nicht viel mehr als ein zwischen zwei Seitenflügeln hinlaufender
ziemlich schmaler Gang war. In diesen Flügeln war alles untergebracht,
was sonst noch zu Haushalt und Wirtschaftsführung gehörte, rechts
Mädchenstube, Bedientenstube, Rollkammer, links eine zwischen
Pferdestall und Wagenremise gelegene, von der Familie Kruse bewohnte
Kutscherwohnung. Über dieser, in einem Verschlag, waren die Hühner
einlogiert, und eine Dachklappe über dem Pferdestall bildete den Aus-
und Einschlupf für die Tauben. All dies hatte sich Effi mit vielem
Interesse angesehen, aber dies Interesse sah sich doch weit überholt,
als sie, nach ihrer Rückkehr vom Hof ins Vorderhaus, unter Innstettens
Führung die nach oben führende Treppe hinaufgestiegen war. Diese war
schief, baufällig, dunkel; der Flur dagegen, auf den sie mündete, wirkte
beinah heiter, weil er viel Licht und einen guten landschaftlichen
Ausblick hatte: nach der einen Seite hin, über die Dächer des
Stadtrandes und die »Plantage« fort, auf eine hoch auf einer Düne
stehende holländische Windmühle, nach der anderen Seite hin auf die
Kessine, die hier, unmittelbar vor ihrer Einmündung, ziemlich breit war
und einen stattlichen Eindruck machte. Diesem Eindruck konnte man sich
unmöglich entziehen, und Effi hatte denn auch nicht gesäumt, ihrer
Freude lebhaften Ausdruck zu geben. »Ja, sehr schön, sehr malerisch«,
hatte Innstetten, ,ohne weiter darauf einzugehen, geantwortet und dann
eine mit ihren Flügeln etwas schief hängende Doppeltür geöffnet, die
nach rechts hin in den sogenannten Saal führte. Dieser lief durch die
ganze Etage; Vorder- und Hinterfenster standen offen, und die mehr
erwähnten langen Gardinen bewegten sich in dem starken Luftzug hin und
her. In der Mitte der einen Längswand sprang ein Kamin vor mit einer
großen Steinplatte, während an der Wand gegenüber ein paar blecherne
Leuchter hingen, jeder mit zwei Lichtöffnungen, ganz so wie unten im
Flur, aber alles stumpf und ungepflegt. Effi war einigermaßen
enttäuscht, sprach es auch aus und erklärte, statt des öden und
ärmlichen Saals doch lieber die Zimmer an der gegenübergelegenen
Flurseite sehen zu wollen. »Da ist nun eigentlich vollends nichts«,
hatte Innstetten geantwortet, aber doch die Türen geöffnet. Es befanden
sich hier vier einfenstrige Zimmer, alle gelb getüncht, gerade wie der
Saal und ebenfalls ganz leer. Nur in einem standen drei Binsenstühle,
die durchgesessen waren, und an die Lehne des einen war ein kleines, nur
einen halber Finger langes Bildchen geklebt, das einen Chinesen
darstellte, blauer Rock mit gelben Pluderhosen und einen flachen Hut auf
dem Kopf. Effi sah es und sagte: »Was soll der Chinese?« Innstetten
selbst schien von dem Bildchen überrascht und versicherte, daß er es
nicht wisse. »Das hat Christel angeklebt oder Johanna. Spielerei. Du
kannst sehen, es ist aus einer Fibel herausgeschnitten.« Effi fand es
auch und war nur verwundert, daß Innstetten alles so ernsthaft nahm, als
ob es doch etwas sei. Dann hatte sie noch einmal einen Blick in den Saal
getan und sich dabei dahin geäußert, wie es doch eigentlich schade sei,
daß das alles leerstehe. »Wir haben unten ja nur drei Zimmer, und wenn
uns wer besucht, so wissen wir nicht aus noch ein. Meinst du nicht, daß
man aus dem Saal zwei hübsche Fremdenzimmer machen könnte? Das wäre so
was für die Mama; nach hinten heraus könnte sie schlafen und hätte den
Blick auf den Fluß und die beiden Molen, und vorn hätte sie die Stadt
und die holländische Windmühle. In Hohen-Cremmen haben wir noch immer
bloß eine Bockmühle. Nun sage, was meinst du dazu? Nächsten Mai wird
doch die Mama wohl kommen.«
Innstetten war mit allem einverstanden gewesen und hatte nur zum Schluß
gesagt: »Alles ganz gut. Aber es ist doch am Ende besser, wir logieren
die Mama drüben ein, auf dem Landratsamt; die ganze erste Etage steht da
leer, geradeso wie hier, und sie ist da noch mehr für sich.«
Das war
so das Resultat des ersten Umgangs im Hause gewesen; dann hatte Effi
drüben ihre Toilette gemacht, nicht ganz so schnell, wie Innstetten
angenommen, und nun saß sie in ihres Gatten Zimmer und beschäftigte sich
in ihren Gedanken abwechselnd mit dem kleinen Chinesen oben und mit
Gieshübler, der noch immer nicht kam. Vor einer Viertelstunde war
freilich ein kleiner, schiefschultriger und fast schon so gut wie
verwachsener Herr in einem kurzen eleganten Pelzrock und einem hohen,
sehr glatt gebürsteten Zylinder an der anderen Seite der Straße
vorbeigegangen und hatte nach ihrem Fenster hinübergesehen. Aber das
konnte Gieshübler wohl nicht gewesen sein! Nein, dieser schiefschultrige
Herr, der zugleich etwas so Distinguiertes hatte, das mußte der Herr
Gerichtspräsident gewesen sein, und sie entsann sich auch wirklich, in
einer Gesellschaft bei Tante Therese mal einen solchen gesehen zu haben,
bis ihr mit einem Male einfiel, daß Kessin bloß einen Amtsrichter habe.
Während
sie diesen Betrachtungen noch nachging, wurde der Gegenstand derselben,
der augenscheinlich erst eine Morgen- oder vielleicht auch eine
Ermutigungspromenade um die Plantage herum gemacht hatte, wieder
sichtbar, und eine Minute später erschien Friedrich, um Apotheker
Gieshübler anzumelden.
»Ich
lasse sehr bitten.«
Der
armen jungen Frau schlug das Herz, weil es das erste Mal war, daß sie
sich als Hausfrau und noch dazu als erste Frau der Stadt zu zeigen
hatte.
Friedrich half Gieshübler den Pelzrock ablegen und öffnete dann wieder
die Tür.
Effi
reichte dem verlegen Eintretenden die Hand, die dieser mit einem
gewissen Ungestüm küßte. Die junge Frau schien sofort einen großen
Eindruck auf ihn gemacht zu haben.
»Mein
Mann hat mir bereits gesagt ... Aber ich empfange Sie hier in meines
Mannes Zimmer ... er ist drüben auf dem Amt und kann jeden Augenblick
zurück sein ... Darf ich Sie bitten, bei mir eintreten zu wollen?«
Gieshübler folgte der voranschreitenden Effi ins Nebenzimmer, wo diese
auf einen der Fauteuils wies, während sie sich selbst ins Sofa setzte.
»Daß ich Ihnen sagen könnte, welche Freude Sie mir gestern durch die
schönen Blumen und Ihre Karte gemacht haben. Ich hörte sofort auf, mich
hier als eine Fremde zu fühlen, und als ich dies Innstetten aussprach,
sagte er mir, wir würden überhaupt gute Freunde sein.«
»Sagte
er so? Der gute Herr Landrat. Ja, der Herr Landrat und Sie, meine
gnädigste Frau, da sind, das bitte ich sagen zu dürfen, zwei liebe
Menschen zueinander gekommen. Denn wie Ihr Herr Gemahl ist, das weiß
ich, und wie Sie sind, meine gnädigste Frau, das sehe ich.«
»Wenn
Sie nur nicht mit zu freundlichen Augen sehen. Ich bin so sehr jung. Und
Jugend ...«
»Ach,
meine gnädigste Frau, sagen Sie nichts gegen die Jugend. Die Jugend,
auch in ihren Fehlern ist sie noch schön und liebenswürdig, und das
Alter, auch in seinen Tugenden taugt es nicht viel. Persönlich kann ich
in dieser Frage freilich nicht mitsprechen, vom Alter wohl, aber von der
Jugend nicht, denn ich bin eigentlich nie jung gewesen. Personen meines
Schlages sind nie jung. Ich darf wohl sagen, das ist das traurigste von
der Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat kein Vertrauen zu sich
selbst, man wagt kaum, eine Dame zum Tanz aufzufordern, weil man ihr
eine Verlegenheit ersparen will, und so gehen die Jahre hin, und man
wird alt, und das Leben war arm und leer.«
Effi
gab ihm die Hand. »Ach, Sie dürfen so was nicht sagen. Wir Frauen sind
gar nicht so schlecht.«
»O
nein, gewiß nicht ...«
»Und
wenn ich mir so zurückrufe«, fuhr Effi fort, »was ich alles erlebt habe
... viel ist es nicht, denn ich bin wenig herausgekommen und habe fast
immer auf dem Lande gelebt ... aber wenn ich es mir zurückrufe, so finde
ich doch, daß wir immer das lieben, was liebenswert ist. Und dann sehe
ich doch auch gleich, daß Sie anders sind als andere, dafür haben wir
Frauen ein scharfes Auge. Vielleicht ist es auch der Name, der in Ihrem
Falle mitwirkt. Das war immer eine Lieblingsbehauptung unseres alten
Pastors Niemeyer; der Name, so liebte er zu sagen, besonders der
Taufname, habe was geheimnisvoll Bestimmendes, und Alonzo Gieshübler, so
mein ich, schließt eine ganz neue Welt vor einem auf, ja, fast möcht ich
sagen dürfen, Alonzo ist ein romantischer Name, ein Preziosaname.«
Gieshübler lächelte mit einem ganz ungemeinen Behagen und fand den Mut,
seinen für seine Verhältnisse viel zu hohen Zylinder, den er bis dahin
in der Hand gedreht hatte, beiseite zu stellen. »Ja, meine gnädigste
Frau, da treffen Sie's.«
»Oh,
ich verstehe. Ich habe von den Konsuln gehört, deren Kessin so viele
haben soll, und in dem Hause des spanischen Konsuls hat Ihr Herr Vater
mutmaßlich die Tochter eines seemännischen Kapitanos kennengelernt, wie
ich annehme, irgendeine schöne Andalusierin. Andalusierinnen sind immer
schön.«
»Ganz
wie Sie vermuten, meine Gnädigste. Und meine Mutter war wirklich eine
schöne Frau, so schlecht es mir persönlich zusteht, die Beweisführung zu
übernehmen. Aber als Ihr Herr Gemahl vor drei Jahren hierherkam, lebte
sie noch und hatte noch ganz die Feueraugen. Er wird es mir bestätigen.
Ich persönlich bin mehr ins Gieshüblersche geschlagen, Leute von wenig
Exterieur, aber sonst leidlich im Stande. Wir sitzen hier schon in der
vierten Generation, volle hundert Jahre, und wenn es einen Apothekeradel
gäbe...«
So
würden Sie ihn beanspruchen dürfen. Und ich meinerseits nehme ihn für
bewiesen an und sogar für bewiesen ohne jede Einschränkung. Uns aus den
alten Familien wird das am leichtesten, weil wir, so wenigstens bin ich
von meinem Vater und auch von meiner Mutter her erzogen, jede gute
Gesinnung, sie komme, woher sie wolle, mit Freudigkeit gelten lassen.
Ich bin eine geborene Briest und stamme von dem Briest ab, der am Tag
vor der Fehrbelliner Schlacht den Überfall von Rathenow ausführte, wovon
Sie vielleicht einmal gehört haben...«
»O
gewiß, meine Gnädigste, das ist ja meine Spezialität.«
Eine
Briest also. Und mein Vater, da reichen keine hundert Male, daß er zu
mir gesagt hat: Effi (so heiße ich nämlich), Effi hier sitzt es, bloß
hier, und als Froben das Pferd tauschte, da war er von Adel, und als
Luther sagte, 'hier stehe ich', da war er erst recht von Adel. Und ich
denke, Herr Gieshübler, Innstetten hatte ganz recht, als er mir
versicherte, wir wurden gute Freundschaft halten.« Gieshübler hätte nun
am liebsten gleich eine Liebeserklärung gemacht und gebeten, daß er als
Cid oder irgend sonst ein Campeador für sie kämpfen und sterben könne.
Da dies alles aber nicht ging und sein Herz es nicht mehr aushalten
konnte, so stand er auf, suchte nach seinem Hut, den er auch
glücklicherweise gleich fand, und zog sich, nach wiederholtem Handkuß,
rasch zurück, ohne weiter ein Wort gesagt zu haben.
Neuntes Kapitel
So war
Effis erster Tag in Kessin gewesen. Innstetten gab ihr noch eine halbe
Woche Zeit, sich einzurichten und die verschiedensten Briefe nach
Hohen-Cremmen zu schreiben, an die Mama, an Hulda und die Zwillinge;
dann aber hatten die Stadtbesuche begonnen, die zum Teil (es regnete
gerade so, daß man sich diese Ungewöhnlichkeit schon gestatten konnte)
in einer geschlossenen Kutsche gemacht wurden. Als man damit fertig war,
kam der Landadel an die Reihe. Das dauerte länger, da sich bei den meist
großen Entfernungen an jedem Tag nur eine Visite machen ließ. Zuerst war
man bei den Borckes in Rothenmoor, dann ging es nach Morgnitz, Dabergotz
und Kroschentin, wo man bei den Ahlemanns, den Jatzkows und den
Grasenabbs den pflichtschuldigen Besuch abstattete. Noch ein paar andere
folgten, unter denen auch der alte Baron von Güldenklee auf Papenhagen
war. Der Eindruck, den Effi empfing, war überall derselbe: mittelmäßige
Menschen von meist zweifelhafter Liebenswürdigkeit, die, während sie
vorgaben, über Bismarck und die Kronprinzessin zu sprechen, eigentlich
nur Effis Toilette musterten, die von einigen als zu prätentiös für eine
so jugendliche Dame, von andern als zuwenig dezent für eine Dame von
gesellschaftlicher Stellung befunden wurde. Man merke doch an allem die
Berliner Schule: Sinn für Äußerliches und eine merkwürdige Verlegenheit
und Unsicherheit bei Berührung großer Fragen. In Rothenmoor bei den
Borckes und dann auch bei den Familien in Morgnitz und Dabergotz war sie
für »rationalistisch angekränkelt«, bei den Grasenabbs in Kroschentin
aber rundweg für eine »Atheistin« erklärt worden. Allerdings hatte die
alte Frau von Grasenabb, eine Süddeutsche (geborene Stiefel von
Stiefelstein), einen schwachen Versuch gemacht, Effi wenigstens für den
Deismus zu retten; Sidonie von Grasenabb aber, eine
dreiundvierzigjährige alte Jungfer, war barsch dazwischengefahren: »Ich
sage dir, Mutter, einfach Atheistin, kein Zollbreit weniger, und dabei
bleibt es«, worauf die Alte, die sich vor ihrer eigenen Tochter
fürchtete, klüglich geschwiegen hatte.
Die
ganze Tournee hatte so ziemlich zwei Wochen gedauert, und es war am 2.
Dezember, als man zu schon später Stunde von dem letzten dieser Besuche
nach Kessin zurückkehrte. Dieser letzte Besuch hatte den Güldenklees auf
Papenhagen gegolten, bei welcher Gelegenheit Innstetten dem Schicksal
nicht entgangen war, mit dem alten Güldenklee politisieren zu müssen.
»Ja, teuerster Landrat, wenn ich so den Wechsel der Zeiten bedenke!
Heute vor einem Menschenalter oder ungefähr so lange, ja, da war auch
ein 2. Dezember, und der gute Louis und Napoleonsneffe – wenn er so was
war und nicht eigentlich ganz woanders herstammte –, der kartätschte
damals auf die Pariser Kanaille. Na, das mag ihm verziehen sein, für so
was war er der rechte Mann, und ich halte zu dem Satz: 'Jeder hat es
gerade so gut und so schlecht, wie er's verdient.' Aber daß er nachher
alle Schätzung verlor und Anno siebzig so mir nichts, dir nichts auch
mit uns anbinden wollte, sehen Sie, Baron, das war, ja wie sag ich, das
war eine Insolenz. Es ist ihm aber auch heimgezahlt worden. Unser Alter
da oben läßt sich nicht spotten, der steht zu uns.«
»Ja«,
sagte Innstetten, der klug genug war, auf solche Philistereien
anscheinend ernsthaft einzugehen, »der Held und Eroberer von Saarbrücken
wußte nicht, was er tat. Aber Sie dürfen nicht zu streng mit ihm
persönlich abrechnen. Wer ist am Ende Herr in seinem Hause? Niemand. Ich
richte mich auch schon darauf ein, die Zügel der Regierung in andere
Hände zu legen, und Louis Napoleon, nun, der war vollends ein Stück
Wachs in den Händen seiner katholischen Frau, oder sagen wir lieber,
seiner jesuitischen Frau.«
»Wachs
in den Händen seiner Frau, die ihm dann eine Nase drehte. Natürlich,
Innstetten, das war er. Aber damit wollen Sie diese Puppe doch nicht
etwa retten? Er ist und bleibt gerichtet. An und für sich ist es
übrigens noch gar nicht mal erwiesen«, und sein Blick suchte bei diesen
Worten etwas ängstlich nach dem Auge seiner Ehehälfte, »ob nicht
Frauenherrschaft eigentlich als ein Vorzug gelten kann; nur freilich,
die Frau muß danach sein. Aber wer war diese Frau? Sie war überhaupt
keine Frau, im günstigsten Fall war sie eine Dame, das sagt alles;
'Dame' hat beinah immer einen Beigeschmack. Diese Eugenie – über deren
Verhältnis zu dem jüdischen Bankier ich hier gern hingehe, denn ich
hasse Tugendhochmut – hatte was vom Café chantant, und wenn die Stadt,
in der sie lebte, das Babel war, so war sie das Weib von Babel. Ich mag
mich nicht deutlicher ausdrücken, denn ich weiß«, und er verneigte sich
gegen Effi, »was ich deutschen Frauen schuldig bin. Um Vergebung, meine
Gnädigste, daß ich diese Dinge vor Ihren Ohren überhaupt berührt habe.«
So war die Unterhaltung gegangen, nachdem man vorher von Wahl, Nobiling
und Raps gesprochen hatte, und nun saßen Innstetten und Effi wieder
daheim und plauderten noch eine halbe Stunde. Die beiden Mädchen im
Hause waren schon zu Bett, denn es war nah an Mitternacht.
Innstetten, in kurzem Hausrock und Saffianschuhen, ging auf und ab; Effi
war noch in ihrer Gesellschaftstoilette; Fächer und Handschuhe lagen
neben ihr. »Ja«, sagte Innstetten, während er sein Aufundabschreiten im
Zimmer unterbrach, »diesen Tag müßten wir nun wohl eigentlich feiern,
und ich weiß nur noch nicht, womit. Soll ich dir einen Siegesmarsch
vorspielen oder den Haifisch draußen in Bewegung setzen oder dich im
Triumph über den Flur tragen? Etwas muß doch geschehen, denn du mußt
wissen, das war nun heute die letzte Visite.«
»Gott
sei Dank war sie's«, sagte Effi. »Aber das Gefühl, daß wir nun Ruhe
haben, ist, denk ich, gerade Feier genug. Nur einen Kuß könntest du mir
geben. Aber daran denkst du nicht. Auf dem ganzen weiten Weg nicht
gerührt, frostig wie ein Schneemann. Und immer nur die Zigarre.«
»Laß,
ich werde mich schon bessern und will vorläufig nur wissen, wie stehst
du zu dieser ganzen Umgangs- und Verkehrsfrage? Fühlst du dich zu dem
einen oder andern hingezogen? Haben die Borckes die Grasenabbs
geschlagen oder umgekehrt, oder hältst du's mit dem alten Güldenklee?
Was er da über die Eugenie sagte, machte doch einen sehr edlen und
reinen Eindruck.«
»Ei,
sieh, Herr von Innstetten, auch medisant! Ich lerne Sie von einer ganz
neuen Seite kennen.«
»Und
wenn's unser Adel nicht tut«, fuhr Innstetten fort, ohne sich stören zu
lassen, »wie stehst du zu den Kessiner Stadthonoratioren? Wie stehst du
zur Ressource? Daran hängt doch am Ende Leben und Sterben. Ich habe dich
da neulich mit unserem reserveleutnantlichen Amtsrichter sprechen sehen,
einem zierlichen Männchen, mit dem sich vielleicht durchkommen ließe,
wenn er nur endlich von der Vorstellung loskönnte, die Wiedereroberung
von Le Bourget durch sein Erscheinen in der Flanke zustande gebracht zu
haben. Und seine Frau! Sie gilt als die beste Bostonspielerin und hat
auch die hübschesten Anlegemarken. Also nochmals, Effi, wie wird es
werden in Kessin? Wirst du dich einleben? Wirst du populär werden und
mir die Majorität sichern, wenn ich in den Reichstag will? Oder bist du
für Einsiedlertum, für Abschluß von der Kessiner Menschheit, so Stadt
wie Land?«
»Ich
werde mich wohl für Einsiedlertum entschließen, wenn mich die
Mohrenapotheke nicht herausreißt. Bei Sidonie werd ich dadurch freilich
noch etwas tiefer sinken, aber darauf muß ich es ankommen lassen; dieser
Kampf muß eben gekämpft werden. Ich steh und falle mit Gieshübler. Es
klingt etwas komisch, aber er ist wirklich der einzige, mit dem sich ein
Wort reden läßt, der einzige richtige Mensch hier.«
»Das
ist er«, sagte Innstetten. »Wie gut du zu wählen verstehst.«
»Hätte
ich sonst dich?« sagte Effi und hängte sich an seinen Arm.
Das war
am 2. Dezember. Eine Woche später war Bismarck in Varzin, und nun wußte
Innstetten, daß bis Weihnachten, und vielleicht noch darüber hinaus, an
ruhige Tage für ihn gar nicht mehr zu denken sei. Der Fürst hatte noch
von Versailles her eine Vorliebe für ihn und lud ihn, wenn Besuch da
war, häufig zu Tisch, aber auch allein, denn der jugendliche, durch
Haltung und Klugheit gleich ausgezeichnete Landrat stand ebenso in Gunst
bei der Fürstin.
Zum 14.
erfolgte die erste Einladung. Es lag Schnee, weshalb Innstetten die fast
zweistündige Fahrt bis an den Bahnhof, von wo noch eine Stunde Eisenbahn
war, im Schlitten zu machen vorhatte. »Warte nicht auf mich, Effi. Vor
Mitternacht kann ich nicht zurück sein; wahrscheinlich wird es zwei oder
noch später. Ich störe dich aber nicht. Gehab dich wohl, und auf
Wiedersehen morgen früh.« Und damit stieg er ein, und die beiden
isabellfarbenen Graditzer jagten im Fluge durch die Stadt hin und dann
landeinwärts auf den Bahnhof zu.
Das war
die erste lange Trennung, fast auf zwölf Stunden. Arme Effi. Wie sollte
sie den Abend verbringen? Früh zu Bett, das war gefährlich, dann wachte
sie auf und konnte nicht wieder einschlafen und horchte auf alles. Nein,
erst recht müde werden und dann ein fester Schlaf, das war das beste.
Sie schrieb einen Brief an die Mama und ging dann zu Frau Kruse, deren
gemütskranker Zustand – sie hatte das schwarze Huhn oft bis in die Nacht
hinein auf ihrem Schoß – ihr Teilnahme einflößte. Die Freundlichkeit
indessen, die sich darin aussprach, wurde von der in ihrer überheizten
Stube sitzenden und nur still und stumm vor sich hinbrütenden Frau
keinen Augenblick erwidert, weshalb Effi, als sie wahrnahm, daß ihr
Besuch mehr als Störung wie als Freude empfunden wurde, wieder ging und
nur noch fragte, ob die Kranke etwas haben wolle. Diese lehnte aber
alles ab.
Inzwischen war es Abend geworden, und die Lampe brannte schon. Effi
stellte sich ans Fenster ihres Zimmers und sah auf das Wäldchen hinaus,
auf dessen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie war von dem Bilde ganz
in Anspruch genommen und kümmerte sich nicht um das, was hinter ihr in
dem Zimmer vorging. Als sie sich wieder umsah, bemerkte sie, daß
Friedrich still und geräuschlos ein Kuvert gelegt und ein Kabarett auf
den Sofatisch gestellt hatte. »Ja so, Abendbrot ... Da werd ich mich nun
wohl setzen müssen.« Aber es wollte nicht schmecken, und so stand sie
wieder auf und las den an die Mama geschriebenen Brief noch einmal
durch. Hatte sie schon vorher ein Gefühl der Einsamkeit gehabt, so jetzt
doppelt. Was hätte sie darum gegeben, wenn die beiden Jahnkeschen
Rotköpfe jetzt eingetreten wären oder selbst Hulda. Die war freilich
immer so sentimental und beschäftigte sich meist nur mit ihren
Triumphen; aber so zweifelhaft und anfechtbar diese Triumphe waren, sie
hätte sich in diesem Augenblick doch gern davon erzählen lassen.
Schließlich klappte sie den Flügel auf, um zu spielen; aber es ging
nicht. »Nein, dabei werd ich vollends melancholisch; lieber lesen.« Und
so suchte sie nach einem Buch. Das erste, was ihr zu Händen kam, war ein
dickes rotes Reisehandbuch, alter Jahrgang, vielleicht schon aus
Innstettens Leutnantstagen her. »Ja, darin will ich lesen; es gibt
nichts Beruhigenderes als solche Bücher. Das Gefährliche sind bloß immer
die Karten; aber vor diesem Augenpulver, das ich hasse, werd ich mich
schon hüten.« Und so schlug sie denn auf gut Glück auf: Seite 153.
Nebenan hörte sie das Ticktack der Uhr und draußen Rollo, der, seit es
dunkel war, seinen Platz in der Remise aufgegeben und sich, wie jeden
Abend, so auch heute wieder, auf die große geflochtene Matte, die vor
dem Schlafzimmer lag, ausgestreckt hatte. Das Bewußtsein seiner Nähe
minderte das Gefühl ihrer Verlassenheit, ja, sie kam fast in Stimmung,
und so begann sie denn auch unverzüglich zu lesen. Auf der gerade vor
ihr aufgeschlagenen Seite war von der »Eremitage«, dem bekannten
markgräflichen Lustschloß in der Nähe von Bayreuth, die Rede; das lockte
sie, Bayreuth, Richard Wagner, und so las sie denn: Unter den Bildern in
der Eremitage nennen wir noch eins, das nicht durch seine Schönheit,
wohl aber durch sein Alter und durch die Person, die es darstellt, ein
Interesse beansprucht. Es ist dies ein stark nachgedunkeltes
Frauenporträt, kleiner Kopf, mit herben, etwas unheimlichen
Gesichtszügen und einer Halskrause, die den Kopf zu tragen scheint.
Einige meinen, es sei eine alte Markgräfin aus dem Ende des fünfzehnten
Jahrhunderts, andere sind der Ansicht, es sei die Gräfin von Orlamünde;
darin aber sind beide einig, daß es das Bildnis der Dame sei, die
seither in der Geschichte der Hohenzollern unter dem Namen der »weißen
Frau« eine gewisse Berühmtheit erlangt hat.
»Das
hab ich gut getroffen«, sagte Effi, während sie das Buch beiseite schob;
»ich will mir die Nerven beruhigen, und das erste, was ich lese, ist die
Geschichte von der 'weißen Frau', vor der ich mich gefürchtet habe,
solange ich denken kann. Aber da nun das Gruseln mal da ist, will ich
doch auch zu Ende lesen.«
Und sie
schlug wieder auf und las weiter: ... Ebendies alte Porträt (dessen
Original in der Hohenzollernschen Familiengeschichte solche Rolle
spielt) spielt als Bild auch eine Rolle in der Spezialgeschichte des
Schlosses Eremitage, was wohl damit zusammenhängt, daß es an einer dem
Fremden unsichtbaren Tapetentür hängt, hinter der sich eine vom
Souterrain her hinaufführende Treppe befindet. Es heißt, daß, als
Napoleon hier übernachtete, die »weiße Frau« aus dem Rahmen
herausgetreten und auf sein Bett zugeschritten sei. Der Kaiser, entsetzt
auffahrend, habe nach seinem Adjutanten gerufen und bis an sein
Lebensende mit Entrüstung von diesem »maudit château« gesprochen.
»Ich
muß es aufgeben, mich durch Lektüre beruhigen zu wollen«, sagte Effi.
»Lese ich weiter, so komm ich gewiß noch nach einem Kellergewölbe, wo
der Teufel auf einem Weinfaß davongeritten ist. Es gibt, glaub ich, in
Deutschland viel dergleichen, und in einem Reisehandbuch muß es sich
natürlich alles zusammenfinden. Ich will also lieber wieder die Augen
schließen und mir, so gut es geht, meinen Polterabend vorstellen: die
Zwillinge, wie sie vor Tränen nicht weiterkonnten, und dazu den Vetter
Briest, der, als sich alles verlegen anblickte, mit erstaunlicher Würde
behauptete, solche Tränen öffneten einem das Paradies. Er war wirklich
scharmant und immer so übermütig ... Und nun ich! Und gerade hier. Ach,
ich tauge doch gar nicht für eine große Dame. Die Mama, ja, die hätte
hierhergepaßt, die hätte, wie's einer Landrätin zukommt, den Ton
angegeben, und Sidonie Grasenabb wäre ganz Huldigung gegen sie gewesen
und hätte sich über ihren Glauben oder Unglauben nicht groß beunruhigt.
Aber ich ... ich bin ein Kind und werd es auch wohl bleiben. Einmal hab
ich gehört, das sei ein Glück. Aber ich weiß doch nicht, ob das wahr
ist. Man muß doch immer dahin passen, wohin man nun mal gestellt ist.«
In diesem Augenblick kam Friedrich, um den Tisch abzuräumen. »Wie spät
ist es, Friedrich?«
»Es
geht auf neun, gnäd'ge Frau.«
»Nun,
das läßt sich hören. Schicken Sie mir Johanna.«
»Gnäd'ge Frau haben befohlen.«
»Ja,
Johanna. Ich will zu Bett gehen. Es ist eigentlich noch früh. Aber ich
bin so allein. Bitte, tun Sie den Brief erst ein, und wenn Sie wieder da
sind, nun, dann wird es wohl Zeit sein. Und wenn auch nicht.«
Effi
nahm die Lampe und ging in ihr Schlafzimmer hinüber. Richtig, auf der
Binsenmatte lag Rollo. Als er Effi kommen sah, erhob er sich, um den
Platz freizugeben, und strich mit seinem Behang an ihrer Hand hin. Dann
legte er sich wieder nieder.
Johanna
war inzwischen nach dem Landratsamt hinübergegangen, um da den Brief
einzustecken. Sie hatte sich drüben nicht sonderlich beeilt, vielmehr
vorgezogen, mit der Frau Paaschen, des Amtsdieners Frau, ein Gespräch zu
führen. Natürlich über die junge Frau.
»Wie
ist sie denn?« fragte die Paaschen.
»Sehr
jung ist sie.«
»Nun,
das ist kein Unglück, eher umgekehrt. Die Jungen, und das ist eben das
Gute, stehen immer bloß vorm Spiegel und zupfen und stecken sich was vor
und sehen nicht viel und hören nicht viel und sind noch nicht so, daß
sie draußen immer die Lichtstümpfe zählen und einem nicht gönnen, daß
man einen Kuß kriegt, bloß weil sie selber keinen mehr kriegen.«
»Ja«,
sagte Johanna, »so war meine vorige Madam, und ganz ohne Not. Aber davon
hat unsere Gnäd'ge nichts.«
»Ist er
denn sehr zärtlich?«
»Oh,
sehr. Das können Sie doch wohl denken.«
Aber
daß er sie so allein läßt ...«
»Ja,
liebe Paaschen, Sie dürfen nicht vergessen ... der Fürst. Und dann, er
ist ja doch am Ende Landrat. Und vielleicht will er auch noch höher.«
»Gewiß
will er. Und er wird auch noch. Er hat so was. Paaschen sagt es auch
immer, und er kennt seine Leute.«
Während
dieses Ganges drüben nach dem Amt hinüber war wohl eine Viertelstunde
vergangen, und als Johanna wieder zurück war, saß Effi schon vor dem
Trumeau und wartete. »Sie sind lange geblieben, Johanna.«
»Ja,
gnäd'ge Frau ... Gnäd'ge Frau wollen entschuldigen ... Ich traf drüben
die Frau Paaschen, und da hab ich mich ein wenig verweilt. Es ist so
still hier. Man ist immer froh, wenn man einen Menschen trifft, mit dem
man ein Wort sprechen kann. Christel ist eine sehr gute Person, aber sie
spricht nicht, und Friedrich ist so dusig und auch so vorsichtig und
will mit der Sprache nie recht heraus. Gewiß, man muß auch schweigen
können, und die Paaschen, die so neugierig und so ganz gewöhnlich ist,
ist eigentlich gar nicht nach meinem Geschmack; aber man hat es doch
gern, wenn man mal was hört und sieht.«
Effi
seufzte. »Ja, Johanna, das ist auch das beste ...«
»Gnäd'ge Frau haben so schönes Haar, so lang und so seidenweich. «
»Ja, es
ist sehr weich. Aber das ist nicht gut, Johanna. Wie das Haar ist, ist
der Charakter.«
»Gewiß,
gnäd'ge Frau. Und ein weicher Charakter ist doch besser als ein harter.
Ich habe auch weiches Haar.«
»Ja,
Johanna. Und Sie haben auch blondes. Das haben die Männer am liebsten.«
»Ach,
das ist doch sehr verschieden, gnäd'ge Frau. Manche sind doch auch für
das schwarze.«
»Freilich«, lachte Effi, »das habe ich auch schon gefunden. Es wird wohl
an was anderem liegen. Aber die, die blond sind, die haben auch immer
einen weißen Teint, Sie auch, Johanna, und ich möchte mich wohl
verwetten, daß Sie viel Nachstellung haben. Ich bin noch sehr jung, aber
das weiß ich doch auch. Und dann habe ich eine Freundin, die war auch so
blond, ganz flachsblond, noch blonder als Sie, und war eine
Predigertochter ...«
»Ja,
denn ...«
»Aber
ich bitte Sie, Johanna, was meinen Sie mit 'ja denn'? Das klingt ja ganz
anzüglich und sonderbar, und Sie werden doch nichts gegen
Predigerstöchter haben ... Es war ein sehr hübsches Mädchen, was selbst
unsere Offiziere – wir hatten nämlich Offiziere, noch dazu rote Husaren
– auch immer fanden, und verstand sich dabei sehr gut auf Toilette,
schwarzes Sammetmieder und eine Blume, Rose oder auch Heliotrop, und
wenn sie nicht so vorstehende große Augen gehabt hätte ... ach, die
hätten Sie sehen sollen, Johanna, wenigstens so groß (und Effi zog unter
Lachen an ihrem rechten Augenlid), so wäre sie geradezu eine Schönheit
gewesen. Sie hieß Hulda, Hulda Niemeyer, und wir waren nicht einmal so
ganz intim; aber wenn ich sie jetzt hier hätte und sie da säße, da in
der kleinen Sofaecke, so wollte ich bis Mitternacht mit ihr plaudern
oder noch länger. Ich habe solche Sehnsucht, und...«, und dabei zog sie
Johannas Kopf dicht an sich heran, »... ich habe solche Angst.«
»Ach,
das gibt sich, gnäd'ge Frau, die hatten wir alle.«
Die
hattet ihr alle? Was soll das heißen, Johanna?«
»...
Und wenn die gnäd'ge Frau wirklich solche Angst haben, so kann ich mir
ja ein Lager hier machen. Ich nehme die Strohmatte und kehre einen Stuhl
um, daß ich eine Kopflehne habe, und dann schlafe ich hier, bis morgen
früh oder bis der gnäd'ge Herr wieder da ist.«
»Er
will mich nicht stören. Das hat er mir eigens versprochen.«
»Oder
ich setze mich bloß in die Sofaecke.«
»Ja,
das ginge vielleicht. Aber nein, es geht auch nicht. Der Herr darf nicht
wissen, daß ich mich ängstige, das liebt er nicht. Er will immer, daß
ich tapfer und entschlossen bin, so wie er. Und das kann ich nicht; ich
war immer etwas anfällig ... Aber freilich, ich sehe wohl ein, ich muß
mich bezwingen und ihm in solchen Stücken und überhaupt zu Willen sein
... Und dann habe ich ja auch Rollo. Der liegt ja vor der Türschwelle.«
Johanna
nickte zu jedem Wort und zündete dann das Licht an, das auf Effis
Nachttisch stand. Dann nahm sie die Lampe. »Befehlen gnäd'ge Frau noch
etwas?«
»Nein,
Johanna. Die Läden sind doch fest geschlossen?«
Bloß
angelegt, gnäd'ge Frau. Es ist sonst so dunkel und so stickig.«
»Gut,
gut.«
Und nun
entfernte sich Johanna; Effi aber ging auf ihr Bett zu und wickelte sich
in ihre Decken.
Sie
ließ das Licht brennen, weil sie gewillt war, nicht gleich
einzuschlafen, vielmehr vorhatte, wie vorhin ihren Polterabend, so jetzt
ihre Hochzeitsreise zu rekapitulieren und alles an sich vorüberziehen zu
lassen. Aber es kam anders, wie sie gedacht, und als sie bis Verona war
und nach dem Hause der Julia Capulet suchte, fielen ihr schon die Augen
zu. Das Stümpfchen Licht in dem kleinen Silberleuchter brannte
allmählich nieder, und nun flackerte es noch einmal auf und erlosch.
Effi schlief eine Weile ganz fest. Aber mit einem Male fuhr sie mit
einem lauten Schrei aus ihrem Schlaf auf, ja, sie hörte selber noch den
Aufschrei und auch, wie Rollo draußen anschlug – »wau, wau«, klang es
den Flur entlang, dumpf und selber beinahe ängstlich. Ihr war, als ob
ihr das Herz stillstände; sie konnte nicht rufen, und in diesem
Augenblick huschte was an ihr vorbei, und die nach dem Flur
hinausführende Tür sprang auf. Aber ebendieser Moment höchster Angst war
auch der ihrer Befreiung, denn statt etwas Schrecklichem kam jetzt Rollo
auf sie zu, suchte mit seinem Kopf nach ihrer Hand und legte sich, als
er diese gefunden, auf den vor ihrem Bett ausgebreiteten Teppich nieder.
Effi selber aber hatte mit der anderen Hand dreimal auf den Knopf der
Klingel gedrückt, und keine halbe Minute, so war Johanna da, barfüßig,
den Rock über dem Arm und ein großes kariertes Tuch über Kopf und
Schulter geschlagen. »Gott sei Dank, Johanna, daß Sie da sind.«
»Was
war denn, gnäd'ge Frau? Gnäd'ge Frau haben geträumt. «
»Ja,
geträumt. Es muß so was gewesen sein ... aber es war doch auch noch was
anderes.« – »Was denn, gnäd'ge Frau?«
Ich
schlief ganz fest, und mit einem Male fuhr ich auf und schrie ...
vielleicht, daß es ein Alpdruck war ... Alpdruck ist in unserer Familie,
mein Papa hat es auch und ängstigt uns damit, und nur die Mama sagt
immer, er solle sich nicht so gehenlassen; aber das ist leicht gesagt
... Ich fuhr also auf aus dem Schlaf und schrie, und als ich mich umsah,
so gut es eben ging in dem Dunkel, da strich was an meinem Bett vorbei,
gerade da, wo Sie jetzt stehen, Johanna, und dann war es weg. Und wenn
ich mich recht frage, was es war ...«
Nun,
was denn, gnäd'ge Frau?«
»Und
wenn ich mich recht frage ... ich mag es nicht sagen, Johanna ... aber
ich glaube, der Chinese.«
»Der
von oben?« Und Johanna versuchte zu lachen. »Unser kleiner Chinese, den
wir an die Stuhllehne geklebt haben, Christel und ich? Ach, gnäd'ge Frau
haben geträumt, und wenn Sie schon wach waren, so war es doch alles noch
aus dem Traum.«
»Ich
würd es glauben. Aber es war genau derselbe Augenblick, wo Rollo draußen
anschlug, der muß es also auch gesehen haben, und dann flog die Tür auf,
und das gute, treue Tier sprang auf mich los, als ob es mich zu retten
käme. Ach, meine liebe Johanna, es war entsetzlich. Und ich so allein
und so jung. Ach, wenn ich doch wen hier hätte, bei dem ich weinen
könnte. Aber so weit von Hause ... Ach, von Hause ...«
Der
Herr kann jede Stunde kommen.«
»Nein,
er soll nicht kommen; er soll mich nicht so sehen. Er würde mich
vielleicht auslachen, und das könnt ich ihm nie verzeihen. Denn es war
so furchtbar, Johanna ... Sie müssen nun hierbleiben ... Aber lassen Sie
Christel schlafen und Friedrich auch. Es soll es keiner wissen.«
»Oder
vielleicht kann ich auch die Frau Kruse holen; die schläft doch nicht,
die sitzt die ganze Nacht da.«
»Nein,
nein, die ist selber so was. Das mit dem schwarzen Huhn, das ist auch
sowas; die darf nicht kommen. Nein, Johanna, Sie bleiben allein hier.
Und wie gut, daß Sie die Läden nur angelegt. Stoßen Sie sie auf, recht
laut, daß ich einen Ton höre, einen menschlichen Ton ... ich muß es so
nennen, wenn es auch sonderbar klingt ... und dann machen Sie das
Fenster ein wenig auf, daß ich Luft und Licht habe.« Johanna tat, wie
ihr geheißen, und Effi fiel in ihre Kissen zurück und bald danach in
einen lethargischen Schlaf.
Zehntes Kapitel
Innstetten war erst sechs Uhr früh von Varzin zurückgekommen und hatte
sich, Rollos Liebkosungen abwehrend, so leise wie möglich in sein Zimmer
zurückgezogen. Er machte sich's hier bequem und duldete nur, daß ihn
Friedrich mit einer Reisedecke zudeckte.
»Wecke
mich um neun!«
Und um
diese Stunde war er denn auch geweckt worden. Er stand rasch auf und
sagte: »Bring das Frühstück!«
»Die
gnädige Frau schläft noch.«
»Aber
es ist ja schon spät. Ist etwas passiert?«
»Ich
weiß es nicht; ich weiß nur, Johanna hat die Nacht über im Zimmer der
gnädigen Frau schlafen müssen.«
»Nun,
dann schicke Johanna.«
Diese
kam denn auch. Sie hatte denselben rosigen Teint wie immer, schien sich
also die Vorgänge der Nacht nicht sonderlich zu Gemüte genommen zu
haben.
»Was
ist das mit der gnäd'gen Frau? Friedrich sagt mir, es Sei was passiert
und Sie hätten drüben geschlafen.«
»Ja,
Herr Baron. Gnäd'ge Frau klingelte dreimal ganz rasch hintereinander,
daß ich gleich dachte, es bedeutet was. Und so war es auch. Sie hat wohl
geträumt, aber vielleicht war es auch das andere.«
»Welches andere?«
»Ach,
der gnäd'ge Herr wissen ja.«
»Ich
weiß nichts. Jedenfalls muß ein Ende damit gemacht werden. Und wie
fanden Sie die Frau?«
»Sie
war wie außer sich und hielt das Halsband von Rollo, der neben dem Bett
der gnäd'gen Frau stand, fest umklammert. Und das Tier ängstigte sich
auch.«
»Und
was hatte sie geträumt oder meinetwegen auch, was hatte sie gehört oder
gesehen? Was sagte sie?«
»Es sei
so hingeschlichen, dicht an ihr vorbei.«
Was?
Wer?«
»Der
von oben. Der aus dem Saal oder aus der kleinen Kammer. «
»Unsinn, sag ich. Immer wieder das alberne Zeug; ich mag davon nicht
mehr hören. Und dann blieben Sie bei der Frau?«
»Ja,
gnäd'ger Herr. Ich machte mir ein Lager an der Erde dicht neben ihr. Und
ich mußte ihre Hand halten, und dann schlief sie ein.«
»Und
sie schläft noch?«
Ganz
fest.«
»Das
ist mir ängstlich, Johanna. Man kann sich gesund schlafen, aber auch
krank. Wir müssen sie wecken, natürlich vorsichtig, daß sie nicht wieder
erschrickt. Und Friedrich soll das Frühstück nicht bringen; ich will
warten, bis die gnäd'ge Frau da ist. Und machen Sie's geschickt.«
Eine
halbe Stunde später kam Effi. Sie sah reizend aus, ganz blaß, und
stützte sich auf Johanna. Als sie aber Innstettens ansichtig wurde,
stürzte sie auf ihn zu und umarmte und küßte ihn. Und dabei liefen ihr
die Tränen übers Gesicht. »Ach, Geert, Gott sei Dank, daß du da bist.
Nun ist alles wieder gut. Du darfst nicht wieder fort, du darfst mich
nicht wieder allein lassen.«
»Meine
liebe Effi ... Stellen Sie hin, Friedrich, ich werde schon alles
zurechtmachen ... Meine liebe Effi, ich lasse dich ja nicht allein aus
Rücksichtslosigkeit oder Laune, sondern weil es so sein muß; ich habe
keine Wahl, ich bin ein Mann im Dienst, ich kann zum Fürsten oder auch
zur Fürstin nicht sagen: Durchlaucht, ich kann nicht kommen, meine Frau
ist so allein, oder meine Frau fürchtet sich. Wenn ich das sagte, würden
wir in einem ziemlich komischen Licht dastehen, ich gewiß und du auch.
Aber nimm erst eine Tasse Kaffee.«
Effi
trank, was sie sichtlich belebte. Dann ergriff sie wieder ihres Mannes
Hand und sagte: »Du sollst recht haben; ich sehe ein, das geht nicht.
Und dann wollen wir ja auch höher hinauf. Ich sage wir, denn ich bin
eigentlich begieriger danach als du ...«
»So
sind alle Frauen«, lachte Innstetten.
»Also
abgemacht; du nimmst die Einladungen an nach wie vor, und ich bleibe
hier und warte auf meinen 'hohen Herrn', wobei mir Hulda unterm
Holunderbaum einfällt. Wie's ihr wohl gehen mag?«
»Damen
wie Hulda geht es immer gut. Aber was wolltest du noch sagen?«
»Ich
wollte sagen, ich bleibe hier und auch allein, wenn es sein muß. Aber
nicht in diesem Hause. Laß uns die Wohnung wechseln. Es gibt so hübsche
Häuser am Bollwerk, eins zwischen Konsul Martens und Konsul Grützmacher
und eins am Markt, gerade gegenüber von Gieshübler; warum können wir da
nicht wohnen? Warum gerade hier? Ich habe, wenn wir Freunde und
Verwandte zum Besuch hatten, oft gehört, daß in Berlin Familien
ausziehen wegen Klavierspiel oder wegen Schwaben oder wegen einer
unfreundlichen Portiersfrau; wenn das um solcher Kleinigkeiten willen
geschieht ...«
»Kleinigkeiten? Portiersfrau? Das sage nicht ...«
»Wenn
das um solcher Dinge willen möglich ist, so muß es doch auch hier
möglich sein, wo du Landrat bist und die Leute dir zu Willen sind und
viele selbst zu Dank verpflichtet. Gieshübler würde uns gewiß dabei
behilflich sein, wenn auch nur um meinetwegen, denn er wird Mitleid mit
mir haben. Und nun sage, Geert, wollen wir dies verwunschene Haus
aufgeben, dies Haus mit dem ...«
»...
Chinesen, willst du sagen. Du siehst, Effi, man kann das furchtbare Wort
aussprechen, ohne daß er erscheint. Was du da gesehen hast oder was da,
wie du meinst, an deinem Bett vorüberschlich, das war der kleine
Chinese, den die Mädchen oben an die Stuhllehne geklebt haben; ich
wette, daß er einen blauen Rock anhatte und einen ganz flachen Deckelhut
mit einem blanken Knopf oben.«
Sie
nickte.
»Nun,
siehst du, Traum, Sinnestäuschung. Und dann wird dir Johanna wohl
gestern abend was erzählt haben, von der Hochzeit hier oben ...«
»Nein.
«
»Desto
besser.«
»Kein
Wort hat sie mir erzählt. Aber ich sehe doch aus dem allen, daß es hier
etwas Sonderbares gibt. Und dann das Krokodil; es ist alles so
unheimlich.«
»Den
ersten Abend, als du das Krokodil sahst, fandest du's märchenhaft ...«
»Ja,
damals ...«
»...
Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut fort, auch wenn es möglich wäre,
das Haus zu verkaufen oder einen Tausch zu machen. Es ist damit ganz wie
mit einer Absage nach Varzin hin. Ich kann hier in der Stadt die Leute
nicht sagen lassen, Landrat Innstetten verkauft sein Haus, weil seine
Frau den aufgeklebten kleinen Chinesen als Spuk an ihrem Bett gesehen
hat. Dann bin ich verloren, Effi. Von solcher Lächerlichkeit kann man
sich nie wieder erholen.«
»Ja,
Geert, bist du denn so sicher, daß es so was nicht gibt?«
Will
ich nicht behaupten. Es ist eine Sache, die man glauben und noch besser
nicht glauben kann. Aber angenommen, es gäbe dergleichen, was schadet
es? Daß in der Luft Bazillen herumfliegen, von denen du gehört haben
wirst, ist viel schlimmer und gefährlicher als diese ganze
Geistertummelage. Vorausgesetzt, daß sie sich tummeln, daß so was
wirklich existiert. Und dann bin ich überrascht, solcher Furcht und
Abneigung gerade bei dir zu begegnen, bei einer Briest Das ist ja, wie
wenn du aus einem kleinen Bürgerhause stammtest. Spuk ist ein Vorzug,
wie Stammbaum und dergleichen, und ich kenne Familien, die sich
ebensogern ihr Wappen nehmen ließen als ihre 'weiße Frau', die natürlich
auch eine schwarze sein kann.«
Effi
schwieg.
»Nun,
Effi. Keine Antwort?«
»Was
soll ich antworten? Ich habe dir nachgegeben und mich willig gezeigt,
aber ich finde doch, daß du deinerseits teilnahmsvoller sein könntest.
Wenn du wüßtest, wie mir gerade danach verlangt. Ich habe sehr gelitten,
wirklich sehr, und als ich dich sah, da dacht ich, nun würd ich frei
werden von meiner Angst. Aber du sagst mir bloß, daß du nicht Lust
hättest, dich lächerlich zu machen, nicht vor dem Fürsten und auch nicht
vor der Stadt. Das ist ein geringer Trost. Ich finde es wenig und um so
weniger, als du dir schließlich auch noch widersprichst und nicht bloß
persönlich an diese Dinge zu glauben scheinst, sondern auch noch einen
adligen Spukstolz von mir forderst. Nun, den hab ich nicht. Und wenn du
von Familien sprichst, denen ihr Spuk soviel wert sei wie ihr Wappen, so
ist das Geschmackssache: Mir gilt mein Wappen mehr. Gott sei Dank haben
wir Briests keinen Spuk. Die Briests waren immer sehr gute Leute, und
damit hängt es wohl zusammen.«
Der
Streit hätte wohl noch angedauert und vielleicht zu einer ersten
ernstlichen Verstimmung geführt, wenn Friedrich nicht eingetreten wäre,
um der gnädigen Frau einen Brief zu übergeben. »Von Herrn Gieshübler.
Der Bote wartet auf Antwort. «
Aller
Unmut auf Effis Antlitz war sofort verschwunden; schon bloß Gieshüblers
Namen zu hören tat Effi wohl, und ihr Wohlgefühl steigerte sich, als sie
jetzt den Brief musterte. Zunächst war es gar kein Brief, sondern ein
Billett, die Adresse »Frau Baronin von Innstetten, geb. von Briest« in
wundervoller Kanzleihandschrift und statt des Siegels ein aufgeklebtes
rundes Bildchen, eine Lyra, darin ein Stab steckte. Dieser Stab konnte
aber auch ein Pfeil sein. Sie reichte das Billett ihrem Mann, der es
ebenfalls bewunderte. »Nun lies aber.«
Und nun
löste Effi die Oblate und las: »Hochverehrteste Frau, gnädigste Frau
Baronin! Gestatten Sie mir, meinem respektvollsten Vormittagsgruß eine
ganz gehorsamste Bitte hinzufügen zu dürfen. Mit dem Mittagszug wird
eine vieljährige liebe Freundin von mir, eine Tochter unserer Guten
Stadt Kessin, Fräulein Marietta Trippelli, hier eintreffen und bis
morgen früh unter uns weilen. Am 17. will sie in Petersburg sein, um
daselbst bis Mitte Januar zu konzertieren. Fürst Kotschukoff öffnet ihr
auch diesmal wieder sein gastliches Haus. In ihrer immer gleichen Güte
gegen mich hat die Trippelli mir zugesagt, den heutigen Abend bei mir
zubringen und einige Lieder ganz nach meiner Wahl (denn sie kennt keine
Schwierigkeiten) vortragen zu wollen. Könnten sich Frau Baronin dazu
verstehen, diesem Musikabend beizuwohnen? Sieben Uhr. Ihr Herr Gemahl,
auf dessen Erscheinen ich mit Sicherheit rechne, wird meine gehorsamste
Bitte unterstützen. Anwesend nur Pastor Lindequist (der begleitet) und
natürlich die verwitwete Frau Pastorin Trippel. In vorzüglicher
Ergebenheit A. Gieshübler.«
»Nun
–«, sagte Innstetten, »ja oder nein?«
»Natürlich ja. Das wird mich herausreißen. Und dann kann ich doch meinem
lieben Gieshübler nicht gleich bei seiner ersten Einladung einen Korb
geben.«
»Einverstanden. Also Friedrich, sagen Sie Mirambo, der doch wohl das
Billett gebracht haben wird, wir würden die Ehre haben.« Friedrich ging.
Als er
fort war, fragte Effi: »Wer ist Mirambo?«
»Der
echte Mirambo ist Räuberhauptmann in Afrika –Tanganjika-See, wenn deine
Geographie so weit reicht –, unserer aber ist bloß Gieshüblers
Kohlenprovisor und Faktotum und wird heute abend in Frack und
baumwollenen Handschuhen sehr wahrscheinlich aufwarten.«
Es war
ganz ersichtlich, daß der kleine Zwischenfall auf Effi günstig
eingewirkt und ihr ein gut Teil ihrer Leichtlebigkeit zurückgegeben
hatte, Innstetten aber wollte das Seine tun, diese Rekonvaleszens zu
steigern. »Ich freue mich, daß du ja gesagt hast und so rasch und ohne
Besinnen, und nun möcht ich dir noch einen Vorschlag machen, um dich
ganz wieder in Ordnung zu bringen. Ich sehe wohl, es schleicht dir von
der Nacht her etwas nach, das zu meiner Effi nicht paßt, das durchaus
wieder fort muß, und dazu gibt es nichts Besseres als frische Luft. Das
Wetter ist prachtvoll, frisch und milde zugleich, kaum daß ein Lüftchen
geht; was meinst du, wenn wir eine Spazierfahrt machten, aber eine
lange, nicht bloß so durch die Plantage hin, und natürlich im Schlitten
und das Geläut auf und die weißen Schneedecken, und wenn wir dann um
vier zurück sind, dann ruhst du dich aus, und um sieben sind wir bei
Gieshübler und hören die Trippelli.«
Effi
nahm seine Hand. »Wie gut du bist, Geert, und wie nachsichtig. Denn ich
muß dir ja kindisch oder doch wenigstens sehr kindlich vorgekommen sein;
erst das mit meiner Angst und dann hinterher, daß ich dir einen
Hausverkauf, und was noch schlimmer ist, das mit dem Fürsten ansinne. Du
sollst ihm den Stuhl vor die Tür setzen – es ist zum Lachen. Denn
schließlich ist er doch der Mann, der über uns entscheidet. Auch über
mich. Du glaubst gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe dich
eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet. Aber du mußt nicht solch ernstes
Gesicht dabei machen. Ich liebe dich ja ... wie heißt es doch, wenn man
einen Zweig abbricht und die Blätter abreißt? Von Herzen mit Schmerzen,
über alle Maßen.«
Und sie
lachte hell auf. »Und nun sage mir«, fuhr sie fort, als Innstetten noch
immer schwieg, wo soll es hingehen?«
Ich
habe mir gedacht, nach der Bahnstation, aber auf einem Umweg, und dann
auf der Chaussee zurück. Und auf der Station essen wir oder noch besser
bei Golchowski, in dem Gasthof 'Zum Fürsten Bismarck', dran wir, wenn du
dich vielleicht erinnerst, am Tag unserer Ankunft vorüberkamen. Solch
Vorsprechen wirkt immer gut, und ich habe dann mit dem Starosten von
Effis Gnaden ein Wahlgespräch, und wenn er auch persönlich nicht viel
taugt, seine Wirtschaft hält er in Ordnung und seine Küche noch besser.
Auf Essen und Trinken verstehen sich die Leute hier.«
Es war
gegen elf, daß sie dies Gespräch führten. Um zwölf hielt Kruse mit dem
Schlitten vor der Tür, und Effi stieg ein. Johanna wollte Fußsack und
Pelze bringen, aber Effi hatte nach allem, was noch auf ihr lag, so sehr
das Bedürfnis nach frischer Luft, daß sie alles zurückwies und nur eine
doppelte Decke nahm. Innstetten aber sagte zu Kruse: »Kruse, wir wollen
nun also nach dem Bahnhof, wo wir zwei beide heute früh schon mal waren.
Die Leute werden sich wundern, aber es schadet nichts. Ich denke, wir
fahren hier an der Plantage entlang und dann links auf den Kroschentiner
Kirchturm zu. Lassen Sie die Pferde laufen. Um eins müssen wir am
Bahnhof sein.«
Und so
ging die Fahrt. Über den weißen Dächern der Stadt stand der Rauch, denn
die Luftbewegung war gering. Auch Utpatels Mühle drehte sich nur
langsam, und im Fluge fuhren sie daran vorüber, dicht am Kirchhofe hin,
dessen Berberitzensträucher über das Gitter hinauswuchsen und mit ihren
Spitzen Effi streiften, so daß der Schnee auf ihre Reisedecke fiel. Auf
der anderen Seite des Weges war ein eingefriedeter Platz, nicht viel
größer als ein Gartenbeet, und innerhalb nichts sichtbar als eine junge
Kiefer, die mitten daraus hervorragte.
»Liegt
da auch wer begraben?« fragte Effi. »Ja, der Chinese.«
Effi
fuhr zusammen; es war ihr wie ein Stich. Aber sie hatte doch Kraft
genug, sich zu beherrschen, und fragte mit anscheinender Ruhe:
»Unserer? «
»Ja,
unserer. Auf dem Gemeindekirchhof war er natürlich nicht unterzubringen,
und da hat denn Kapitän Thomsen, der so was wie sein Freund war, diese
Stelle gekauft und ihn hier begraben lassen. Es ist auch ein Stein da
mit Inschrift. Alles natürlich vor meiner Zeit. Aber es wird noch immer
davon gesprochen.«
»Also
ist es doch was damit. Eine Geschichte. Du sagtest schon heute früh so
was. Und es wird am Ende das beste sein, ich höre, was es ist. Solange
ich es nicht weiß, bin ich, trotz aller guten Vorsätze, noch immer ein
Opfer meiner Vorstellungen. Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit
kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie.«
»Bravo,
Effi Ich wollte nicht davon sprechen. Aber nun macht es sich so von
selbst, und das ist gut. Übrigens ist es eigentlich gar nichts.«
»Mir
gleich; gar nichts oder viel oder wenig. Fange nur an.«
»Ja,
das ist leicht gesagt. Der Anfang ist immer das schwerste, auch bei
Geschichten. Nun, ich denke, ich beginne mit Kapitän Thomsen.«
»Gut,
gut.«
»Also
Thomsen, den ich dir schon genannt habe, war viele Jahre lang ein
sogenannter Chinafahrer, immer mit Reisfracht zwischen Schanghai und
Singapur, und mochte wohl schon sechzig sein, als er hier ankam. Ich
weiß nicht, ob er hier geboren war oder ob er andere Beziehungen hier
hatte. Kurz und gut, er war nun da und verkaufte sein Schiff, einen
alten Kasten, draus er nicht viel herausschlug, und kaufte sich ein
Haus, dasselbe, drin wir jetzt wohnen. Denn er war draußen in der Welt
ein vermögender Mann geworden. Und von daher schreibt sich auch das
Krokodil und der Haifisch und natürlich auch das Schiff ... Also Thomsen
war nun da, ein sehr adretter Mann (so wenigstens hat man mir gesagt)
und wohlgelitten. Auch beim Bürgermeister Kirstein, vor allem bei dem
damaligen Pastor in Kessin, einem Berliner, der kurz vor Thomsen auch
hierhergekommen war und viel Anfeindung hatte.«
»Glaub
ich. Ich merke das auch; sie sind hier so streng und selbstgerecht. Ich
glaube, das ist pommersch.«
»Ja und
nein, je nachdem. Es gibt auch Gegenden, wo sie gar nicht streng sind
und wo's drunter und drüber geht... Aber sieh nur, Effi, da haben wir
gerade den Kroschentiner Kirchturm dicht vor uns. Wollen wir nicht den
Bahnhof aufgeben und lieber bei der alten Frau von Grasenabb vorfahren?
Sidonie, wenn ich recht berichtet bin, ist nicht zu Hause. Wir könnten
es also wagen ...«
»Ich
bitte dich, Geert, wo denkst du hin? Es ist ja himmlisch, so
hinzufliegen, und ich fühle ordentlich, wie mir so frei wird und wie
alle Angst von mir abfällt. Und nun soll ich das alles aufgeben, bloß um
den alten Leuten eine Stippvisite zu machen und ihnen sehr
wahrscheinlich eine Verlegenheit zu schaffen. Um Gottes willen nicht.
Und dann will ich vor allem auch die Geschichte hören. Also wir waren
bei Kapitän Thomsen, den ich mir als einen Dänen oder Engländer denke,
sehr sauber, mit weißen Vatermördern und ganz weißer Wäsche ...«
»Ganz
richtig. So soll er gewesen sein. Und mit ihm war eine junge Person von
etwa zwanzig, von der einige sagen, sie sei seine Nichte gewesen, aber
die meisten sagen, seine Enkelin, was übrigens den Jahren nach kaum
möglich. Und außer der Enkelin oder der Nichte war da auch noch ein
Chinese, derselbe, der da zwischen den Dünen liegt und an dessen Grab
wir eben vorübergekommen sind.«
»Gut,
gut.«
»Also
dieser Chinese war Diener bei Thomsen, und Thomsen hielt so große Stücke
auf ihn, daß er eigentlich mehr Freund als Diener war. Und das ging so
Jahr und Tag. Da mit einem Male hieß es, Thomsens Enkelin, die, glaub
ich, Nina hieß, solle sich, nach des Alten Wunsch, verheiraten, auch mit
einem Kapitän. Und richtig, so war es auch. Es gab eine große Hochzeit
im Hause, der Berliner Pastor tat sie zusammen, und Müller Utpatel, der
ein Konventikler war, und Gieshübler, dem man in der Stadt in
kirchlichen Dingen auch nicht recht traute, waren geladen und vor allem
viele Kapitäne mit ihren Frauen und Töchtern. Und wie man sich denken
kann, es ging hoch her. Am Abend aber war Tanz, und die Braut tanzte mit
jedem und zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einemmal hieß es, sie
sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich fort,
irgendwohin, und niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach vierzehn
Tagen starb der Chinese; Thomsen kaufte die Stelle, die ich dir gezeigt
habe, und da wurd er begraben. Der Berliner Pastor aber soll gesagt
haben, man hätte ihn auch ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben
können, denn der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und
geradesogut wie die anderen. Wen er mit den 'anderen' eigentlich gemeint
hat, sagte mir Gieshübler, das wisse man nicht recht.«
»Aber
ich bin in dieser Sache doch ganz und gar gegen den Pastor; so was darf
man nicht aussprechen, weil es gewagt und unpassend ist. Das würde
selbst Niemeyer nicht gesagt haben.«
»Und
das ist auch dem armen Pastor, der übrigens Trippel hieß, sehr verdacht
worden, so daß es eigentlich ein Glück war, daß er drüberhin starb,
sonst hätte er seine Stelle verloren. Denn die Stadt, trotzdem sie ihn
gewählt, war doch auch gegen ihn, geradeso wie du, und das Konsistorium
natürlich erst recht.«
»Trippel, sagst du? Dann hängt er am Ende mit der Frau Pastor Trippel
zusammen, die wir heute abend sehen sollen?«
Natürlich hängt er mit der zusammen. Er war ihr Mann und ist der Vater
von der Trippelli.«
Effi
lachte. »Von der Trippelli! Nun sehe ich erst klar in allem. Daß sie in
Kessin geboren, schrieb ja schon Gieshübler; aber ich dachte, sie sei
die Tochter von einem italienischen Konsul. Wir haben ja so viele
fremdländische Namen hier. Und nun ist sie gut deutsch und stammt von
Trippel. Ist sie denn so vorzüglich, daß sie wagen konnte, sich so zu
italienisieren?«
»Dem
Mutigen gehört die Welt. Übrigens ist sie ganz tüchtig. Sie war ein paar
Jahre lang in Paris bei der berühmten Viardot, wo sie auch den
russischen Fürsten kennenlernte, denn die russischen Fürsten sind sehr
aufgeklärt, über kleine Standesvorurteile weg, und Kotschukoff und
Gieshübler – den sie übrigens 'Onkel' nennt, und man kann fast von ihm
sagen, er sei der geborene Onkel –, diese beiden sind es recht
eigentlich, die die kleine Marie Trippel zu dem gemacht haben, was sie
jetzt ist. Gieshübler war es, durch den sie nach Paris kam, und
Kotschukoff hat sie dann in die Trippelli transponiert. «
»Ach,
Geert, wie reizend ist das alles, und welch Alltagsleben habe ich doch
in Hohen-Cremmen geführt! Nie was Apartes.«
Innstetten nahm ihre Hand und sagte: »So darfst du nicht sprechen, Effi.
Spuk, dazu kann man sich stellen, wie man will. Aber hüte dich vor dem
Aparten oder was man so das Aparte nennt. Was dir so verlockend
erscheint – und ich rechne auch ein Leben dahin, wie's die Trippelli
führt –, das bezahlt man in der Regel mit seinem Glück. Ich weiß wohl,
wie sehr du dein Hohen-Cremmen liebst und daran hängst, aber du spottest
doch auch oft darüber und hast keine Ahnung davon, was stille Tage, wie
die Hohen-Cremmer, bedeuten. «
»Doch,
doch«, sagte sie. »Ich weiß es wohl. Ich höre nur gern einmal von etwas
anderem, und dann wandelt mich die Lust an, mit dabeizusein. Aber du
hast ganz recht. Und eigentlich hab ich doch eine Sehnsucht nach Ruh und
Frieden.«
Innstetten drohte ihr mit dem Finger. »Meine einzig liebe Effi, das
denkst du dir nun auch wieder so aus. Immer Phantasien, mal so, mal so.«
Elftes Kapitel
Die
Fahrt verlief ganz wie geplant. Um ein Uhr hielt der Schlitten unten am
Bahndamm vor dem Gasthaus »Zum Fürsten Bismarck«, und Golchowski,
glücklich, den Landrat bei sich zu sehen, war beflissen, ein
vorzügliches Dejeuner herzurichten. Als zuletzt das Dessert und der
Ungarwein aufgetragen wurden, rief Innstetten den von Zeit zu Zeit
erscheinenden und nach der Ordnung sehenden Wirt heran und bat ihn, sich
mit an den Tisch zu setzen und ihnen was zu erzählen. Dazu war
Golchowski denn auch der rechte Mann; auf zwei Meilen in der Runde wurde
kein Ei gelegt, von dem er nicht wußte. Das zeigte sich auch heute
wieder. Sidonie Grasenabb, Innstetten hatte recht vermutet, war, wie
vorige Weihnachten, so auch diesmal wieder auf vier Wochen zu
»Hofpredigers« gereist; Frau von Palleske, so hieß es weiter, habe ihre
Jungfer wegen einer fatalen Geschichte Knall und Fall entlassen müssen,
und mit dem alten Fraude steh es schlecht – es werde zwar in Kurs
gesetzt, er sei bloß ausgeglitten, aber es sei ein Schlaganfall gewesen,
und der Sohn, der in Lissa bei den Husaren stehe, werde jede Stunde
erwartet. Nach diesem Geplänkel war man dann, zu Ernsthafterem
übergehend, auf Varzin gekommen. »Ja«, sagte Golchowski, »wenn man sich
den Fürsten so als Papiermüller denkt! Es ist doch alles sehr
merkwürdig; eigentlich kann er die Schreiberei nicht leiden und das
bedruckte Papier erst recht nicht, und nun legt er doch selber eine
Papiermühle an.«
»Schon
recht, lieber Golchowski«, sagte Innstetten, »aber aus solchen
Widersprüchen kommt man im Leben nicht heraus. Und da hilft auch kein
Fürst und keine Größe.«
»Nein,
nein, da hilft keine Größe.«
Wahrscheinlich, daß sich dies Gespräch über den Fürsten noch fortgesetzt
hätte, wenn nicht in ebendiesem Augenblicke die von der Bahn her
herüberklingende Signalglocke einen bald eintreffenden Zug angemeldet
hätte. Innstetten sah nach der Uhr. »Welcher Zug ist das, Golchowski?«
»Das
ist der Danziger Schnellzug; er hält hier nicht, aber ich gehe doch
immer hinauf und zähle die Wagen, und mitunter steht auch einer am
Fenster, den ich kenne. Hier, gleich hinter meinem Hofe, führt eine
Treppe den Damm hinauf, Wärterhaus 417 ...«
»Oh,
das wollen wir uns zunutze machen«, sagte Effi. »Ich sehe so gern Züge
...«
»Dann
ist es die höchste Zeit, gnäd'ge Frau.«
Und so
machten sich denn alle drei auf den Weg und stellten sich, als sie oben
waren, in einem neben dem Wärterhaus gelegenen Gartenstreifen auf, der
jetzt freilich unter Schnee lag, aber doch eine freigeschaufelte Stelle
hatte. Der Bahnwärter stand schon da, die Fahne in der Hand. Und jetzt
jagte der Zug über das Bahnhofsgeleise hin und im nächsten Augenblick an
dem Häuschen und an dem Gartenstreifen vorüber. Effi war so erregt, daß
sie nichts sah und nur dem letzten Wagen, auf dessen Höhe ein Bremser
saß, ganz wie benommen nachblickte.
»Sechs
Uhr fünfzig ist er in Berlin«, sagte Innstetten, »und noch eine Stunde
später, so können ihn die Hohen-Cremmer, wenn der Wind so steht, in der
Ferne vorbeiklappern hören. Möchtest du mit, Effi?«
Sie
sagte nichts. Als er aber zu ihr hinüberblickte, sah er, daß eine Träne
in ihrem Auge stand.
Effi
war, als der Zug vorbeijagte, von einer herzlichen Sehnsucht erfaßt
worden. So gut es ihr ging, sie fühlte sich trotzdem wie in einer
fremden Welt. Wenn sie sich eben noch an dem einen oder andern entzückt
hatte, so kam ihr doch gleich nachher zum Bewußtsein, was ihr fehlte. Da
drüben lag Varzin, und da nach der anderen Seite hin blitzte der
Kroschentiner Kirchturm auf und weithin der Morgenitzer, und da saßen
die Grasenabbs und die Borckes, nicht die Bellings und nicht die
Briests. »Ja, die!« Innstetten hatte ganz recht gehabt mit dem raschen
Wechsel ihrer Stimmung, und sie sah jetzt wieder alles, was zurücklag,
wie in einer Verklärung. Aber so gewiß sie voll Sehnsucht dem Zug
nachgesehen, sie war doch andererseits viel zu beweglichen Gemüts, um
lange dabei zu verweilen, und schon auf der Heimfahrt, als der rote Ball
der niedergehenden Sonne seinen Schimmer über den Schnee ausgoß, fühlte
sie sich wieder freier; alles erschien ihr schön und frisch, und als
sie, nach Kessin zurückgekehrt, fast mit dem Glockenschlag sieben in den
Gieshüblerschen Flur eintrat, war ihr nicht bloß behaglich, sondern
beinah übermütig zu Sinn, wozu die das Haus durchziehende Baldrian- und
Veilchenwurzelluft das ihrige beitragen mochte.
Pünktlich waren Innstetten und Frau erschienen, aber trotz dieser
Pünktlichkeit immer noch hinter den anderen Geladenen zurückgeblieben;
Pastor Lindequist, die alte Frau Trippel und die Trippelli selbst waren
schon da. Gieshübler – im blauen Frack mit mattgoldenen Knöpfen, dazu
Pincenez an einem breiten, schwarzen Bande, das wie ein Ordensband auf
der blendendweißen Piquéweste lag –, Gieshübler konnte seiner Erregung
nur mit Mühe Herr werden. »Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt
machen: Baron und Baronin Innstetten, Frau Pastor Trippel, Fräulein
Marietta Trippelli.« Pastor Lindequist, den alle kannten, stand lächelnd
beiseite.
Die
Trippelli, Anfang der Dreißig, stark männlich und von ausgesprochen
humoristischem Typus, hatte bis zu dem Momente der Vorstellung den
Sofaehrenplatz innegehabt. Nach der Vorstellung aber sagte sie, während
sie auf einen in der Nähe stehenden Stuhl mit hoher Lehne zuschritt:
»Ich bitte Sie nunmehro, gnäd'ge Frau, die Bürden und Fährlichkeiten
Ihres Amtes auf sich nehmen zu wollen. Denn von 'Fährlichkeiten'« – und
sie wies auf das Sofa – »wird sich in diesem Falle wohl sprechen lassen.
Ich habe Gieshübler schon vor Jahr und Tag darauf aufmerksam gemacht,
aber leider vergeblich; so gut er ist, so eigensinnig ist er auch.«
»Aber
Marietta ...«
»Dieses
Sofa nämlich, dessen Geburt um wenigstens fünfzig Jahre zurückliegt, ist
noch nach einem altmodischen Versenkungsprinzip gebaut, und wer sich ihm
anvertraut, ohne vorher einen Kissenturm untergeschoben zu haben, sinkt
ins Bodenlose, jedenfalls aber gerade tief genug, um die Knie wie ein
Monument aufragen zu lassen.« All dies wurde seitens der Trippelli mit
ebensoviel Bonhomie wie Sicherheit hingesprochen, in einem Ton, der
ausdrücken sollte: »Du bist die Baronin Innstetten, ich bin die
Trippelli.«
Gieshübler liebte seine Künstlerfreundin enthusiastisch und dachte hoch
von ihren Talenten; aber all seine Begeisterung konnte ihn doch nicht
blind gegen die Tatsache machen, daß ihr von gesellschaftlicher Feinheit
nur ein bescheidenes Maß zuteil geworden war. Und diese Feinheit war
gerade das, was er persönlich kultivierte. »Liebe Marietta«, nahm er das
Wort, »Sie haben eine so reizend heitere Behandlung solcher Fragen; aber
was mein Sofa betrifft, so haben Sie wirklich unrecht, und jeder
Sachverständige mag zwischen uns entscheiden. Selbst ein Mann wie Fürst
Kotschukoff ...«
»Ach,
ich bitt Sie, Gieshübler, lassen Sie doch den. Immer Kotschukoff. Sie
werden mich bei der gnäd'gen Frau hier noch in den Verdacht bringen, als
ob ich bei diesem Fürsten – der übrigens nur zu den kleineren zählt und
nicht mehr als tausend Seelen hat, das heißt hatte (früher, wo die
Rechnung noch nach Seelen ging) –, als ob ich stolz wäre, seine
tausendundeinste Seele zu sein. Nein, es liegt wirklich anders; 'immer
freiweg', Sie kennen meine Devise, Gieshübler. Kotschukoff ist ein guter
Kamerad und mein Freund, aber von Kunst und ähnlichen Sachen versteht er
gar nichts, von Musik gewiß nicht, wiewohl er Messen und Oratorien
komponiert – die meisten russischen Fürsten, wenn sie Kunst treiben,
fallen ein bißchen nach der geistlichen oder orthodoxen Seite hin –, und
zu den vielen Dingen, von denen er nichts versteht, gehören auch
unbedingt Einrichtungs- und Tapezierfragen. Er ist gerade vornehm genug,
um sich alles als schön aufreden zu lassen, was bunt aussieht und viel
Geld kostet.«
Innstetten amüsierte sich, und Pastor Lindequist war in einem
allersichtlichsten Behagen. Die gute alte Trippel aber geriet über den
ungenierten Ton ihrer Tochter aus einer Verlegenheit in die andere,
während Gieshübler es für angezeigt hielt, eine so schwierig werdende
Unterhaltung zu kupieren. Dazu waren etliche Gesangspiecen das beste.
Daß Marietta Lieder von anfechtbarem Inhalt wählen würde, war nicht
anzunehmen, und selbst wenn dies sein sollte, so war ihre Vortragskunst
so groß, daß der Inhalt dadurch geadelt wurde. »Liebe Marietta«, nahm er
also das Wort, »ich habe unser kleines Mahl zu acht Uhr bestellt. Wir
hätten also noch dreiviertel Stunden, wenn Sie nicht vielleicht
vorziehen, während Tisch ein heitres Lied zu singen oder vielleicht
erst, wenn wir von Tisch aufgestanden sind ...«
»Ich
bitte Sie, Gieshübler! Sie, der Mann der Ästhetik. Es gibt nichts
Unästhetischeres als einen Gesangsvortrag mit vollem Magen. Außerdem –
und ich weiß, Sie sind ein Mann der ausgesuchten Küche, ja Gourmand –,
außerdem schmeckt es besser, wenn man die Sache hinter sich hat. Erst
Kunst und dann Nußeis, das ist die richtige Reihenfolge.«
»Also
ich darf Ihnen die Noten bringen, Marietta?«
»Noten
bringen. Ja, was heißt das, Gieshübler? Wie ich Sie kenne, werden Sie
ganze Schränke voll Noten haben, und ich kann Ihnen doch nicht den
ganzen Bock und Bote vorspielen. Noten! Was für Noten, Gieshübler,
darauf kommt es an. Und dann, daß es richtig liegt, Altstimme ...«
»Nun,
ich werde schon bringen.«
Und er
machte sich an einem Schrank zu schaffen, ein Fach nach dem anderen
herausziehend, während die Trippelli ihren Stuhl weiter links um den
Tisch herum schob, so daß sie nun dicht neben Effi saß.
»Ich
bin neugierig, was er bringen wird«, sagte sie. Effi geriet dabei in
eine kleine Verlegenheit.
»Ich
möchte annehmen«, antwortete sie befangen, »etwas von Gluck, etwas
ausgesprochen Dramatisches ... Überhaupt, mein gnädiges Fräulein, wenn
ich mir die Bemerkung erlauben darf, ich bin überrascht zu hören, daß
Sie lediglich Konzertsängerin sind. Ich dächte, daß Sie, wie wenige, für
die Bühne berufen sein müßten. Ihre Erscheinung, Ihre Kraft, Ihr Organ
... ich habe noch so wenig derart kennengelernt, immer nur auf kurzen
Besuchen in Berlin ... und dann war ich noch ein halbes Kind. Aber ich
dächte, 'Orpheus' oder 'Chrimhild' oder die 'Vestalin'.«
Die
Trippelli wiegte den Kopf und sah in Abgründe, kam aber zu keiner
Entgegnung, weil eben jetzt Gieshübler wieder erschien und ein halbes
Dutzend Notenhefte vorlegte, die seine Freundin in rascher Reihenfolge
durch die Hand gleiten ließ. »'Erlkönig' ... ah, bah; 'Bächlein, laß
dein Rauschen sein ...' Aber Gieshübler, ich bitte Sie, Sie sind ein
Murmeltier, Sie haben sieben Jahre lang geschlafen ... Und hier
Loewesche Balladen; auch nicht gerade das Neueste.
'Glocken von Speyer' ... Ach, dies ewige Bim-Bam, das beinah einer
Kulissenreißerei gleichkommt, ist geschmacklos und abgestanden. Aber
hier, 'Ritter Olaf' ... nun, das geht.«
Und sie
stand auf, und während der Pastor begleitete, sang sie den »Olaf« mit
großer Sicherheit und Bravour und erntete allgemeinen Beifall.
Es
wurde dann noch ähnlich Romantisches gefunden, einiges aus dem
»Fliegenden Holländer« und aus »Zampa«, dann der »Heideknabe«, lauter
Sachen, die sie mit ebensoviel Virtuosität wie Seelenruhe vortrug,
während Effi von Text und Komposition wie benommen war.
Als die
Trippelli mit dem »Heideknaben« fertig war, sagte sie: »Nun ist es
genug«, eine Erklärung, die so bestimmt von ihr abgegeben wurde, daß
weder Gieshübler noch ein anderer den Mut hatte, mit weiteren Bitten in
sie zu dringen. Am wenigsten Effi Diese sagte nur, als Gieshüblers
Freundin wieder neben ihr saß: »Daß ich Ihnen doch sagen könnte, mein
gnädigstes Fräulein, wie dankbar ich Ihnen bin! Alles so schön, so
sicher, so gewandt. Aber eines, wenn Sie mir verzeihen, bewundere ich
fast noch mehr, das ist die Ruhe, womit Sie diese Sachen vorzutragen
wissen. Ich bin so leicht Eindrücken hingegeben, und wenn ich die
kleinste Gespenstergeschichte höre, so zittere ich und kann mich kaum
wieder zurechtfinden. Und Sie tragen das so mächtig und erschütternd vor
und sind selbst ganz heiter und guter Dinge.«
»Ja,
meine gnädigste Frau, das ist in der Kunst nicht anders. Und nun gar
erst auf dem Theater, vor dem ich übrigens glücklicherweise bewahrt
geblieben bin. Denn so gewiß ich mich persönlich gegen seine
Versuchungen gefeit fühle – es verdirbt den Ruf, also das Beste, was man
hat. Im übrigen stumpft man ab, wie mir Kolleginnen hundertfach
versichert haben. Da wird vergiftet und erstochen, und der toten Julia
flüstert Romeo einen Kalauer ins Ohr oder wohl auch eine Malice, oder er
drückt ihr einen kleinen Liebesbrief in die Hand.«
»Es ist
mir unbegreiflich. Und um bei dem stehenzubleiben, was ich Ihnen diesen
Abend verdanke, beispielsweise bei dem Gespenstischen im 'Olaf', ich
versichere Ihnen, wenn ich einen ängstlichen Traum habe oder wenn ich
glaube, über mir hörte ich ein leises Tanzen oder Musizieren, während
doch niemand da ist, oder es schleicht wer an meinem Bett vorbei, so bin
ich außer mir und kann es tagelang nicht vergessen. «
»Ja,
meine gnädige Frau, was Sie da schildern und beschreiben, das ist auch
etwas anderes, das ist ja wirklich oder kann wenigstens etwas Wirkliches
sein. Ein Gespenst, das durch die Ballade geht, da graule ich mich gar
nicht, aber ein Gespenst, das durch meine Stube geht, ist mir, geradeso
wie andern, sehr unangenehm. Darin empfinden wir also ganz gleich.«
»Haben
Sie denn dergleichen auch einmal erlebt?«
»Gewiß.
Und noch dazu bei Kotschukoff. Und ich habe mir auch ausbedungen, daß
ich diesmal anders schlafe, vielleicht mit der englischen Gouvernante
zusammen. Das ist nämlich eine Quäkerin, und da ist man sicher.«
»Und
Sie halten dergleichen für möglich?«
»Meine
gnädigste Frau, wenn man so alt ist wie ich und viel rumgestoßen wurde
und in Rußland war und sogar auch ein halbes Jahr in Rumänien, da hält
man alles für möglich. Es gibt so viel schlechte Menschen, und das
andere findet sich dann auch, das gehört dann sozusagen mit dazu.«
Effi
horchte auf.
»Ich
bin«, fuhr die Trippelli fort, »aus einer sehr aufgeklärten Familie
(bloß mit Mutter war es immer nicht so recht), und doch sagte mir mein
Vater, als das mit dem Psychographen aufkam: 'Höre, Mane, das ist was.'
Und er hat recht gehabt, es ist auch was damit. Überhaupt, man ist links
und rechts umlauert, hinten und vorn. Sie werden das noch kennenlernen.
«
In
diesem Augenblick trat Gieshübler heran und bot Effi den Arm, Innstetten
führte Marietta, dann folgten Pastor Lindequist und die verwitwete
Trippel. So ging man zu Tisch.
Zwölftes Kapitel
Es war
spät, als man aufbrach. Schon bald nach zehn hatte Effi zu Gieshübler
gesagt, es sei nun wohl Zeit; Fräulein Trippelli, die den Zug nicht
versäumen dürfe, müsse ja schon um sechs von Kessin aufbrechen; die
danebenstehende Trippelli aber, die diese Worte gehört, hatte mit der
ihr eigenen ungenierten Beredsamkeit gegen solche zarte Rücksichtnahme
protestiert. »Ach, meine gnädigste Frau, Sie glauben, daß unsereins
einen regelmäßigen Schlaf braucht, das trifft aber nicht zu; was wir
regelmäßig brauchen, heißt Beifall und hohe Preise. Ja, lachen Sie nur.
Außerdem (so was lernt man) kann ich auch im Coupé schlafen, in jeder
Situation und sogar auf der linken Seite, und brauche nicht einmal das
Kleid aufzumachen. Freilich bin ich auch nie eingepreßt; Brust und Lunge
müssen immer frei sein und vor allem das Herz. Ja, meine gnädigste Frau,
das ist die Hauptsache. Und dann das Kapitel Schlaf überhaupt – die
Menge tut es nicht, was entscheidet, ist die Qualität; ein guter Nicker
von fünf Minuten ist besser als fünf Stunden unruhige Rumdreherei, mal
links, mal rechts. Übrigens schläft man in Rußland wundervoll, trotz des
starken Tees. Es muß die Luft machen oder das späte Diner oder weil man
so verwöhnt wird. Sorgen gibt es in Rußland nicht; darin – im Geldpunkt
sind beide gleich – ist Rußland noch besser als Amerika.«
Nach
dieser Erklärung der Trippelli hatte Effi von allen Mahnungen zum
Aufbruch Abstand genommen, und so war Mitternacht herangekommen. Man
trennte sich heiter und herzlich und mit einer gewissen Vertraulichkeit.
Der Weg von der Mohrenapotheke bis zur landrätlichen Wohnung war
ziemlich weit; er kürzte sich aber dadurch, daß Pastor Lindequist bat,
Innstetten und Frau eine Strecke begleiten zu dürfen; ein Spaziergang
unterm Sternenhimmel sei das beste, um über Gieshüblers Rheinwein
hinwegzukommen. Unterwegs wurde man natürlich nicht müde, die
verschiedensten Trippelliana heranzuziehen; Effi begann mit dem, was ihr
in Erinnerung geblieben, und gleich nach ihr kam der Pastor an die
Reihe. Dieser, ein Ironikus, hatte die Trippelli, wie nach vielem sehr
Weltlichen, so schließlich auch nach ihrer kirchlichen Richtung gefragt
und dabei von ihr in Erfahrung gebracht, daß sie nur eine Richtung
kenne, die orthodoxe. Ihr Vater sei freilich ein Rationalist gewesen,
fast schon ein Freigeist, weshalb er auch den Chinesen am liebsten auf
dem Gemeindekirchhof gehabt hätte; sie ihrerseits sei aber ganz
entgegengesetzter Ansicht, trotzdem sie persönlich des großen Vorzugs
genieße, gar nichts zu glauben. Aber sie sei sich in ihrem entschiedenen
Nichtglauben doch auch jeden Augenblick bewußt, daß das ein Spezialluxus
sei, den man sich nur als Privatperson gestatten könne. Staatlich höre
der Spaß auf, und wenn ihr das Kultusministerium oder gar ein
Konsistorialregiment unterstünde, so würde sie mit unnachsichtiger
Strenge vorgehen. »Ich fühle so was von einem Torquemada in mir.«
Innstetten war sehr erheitert und erzählte seinerseits, daß er etwas so
Heikles, wie das Dogmatische, geflissentlich vermieden, aber dafür das
Moralische desto mehr in den Vordergrund gestellt habe. Hauptthema sei
das Verführerische gewesen, das beständige Gefährdetsein, das in allem
öffentlichen Auftreten liege, worauf die Trippelli leichthin und nur mit
Betonung der zweiten Satzhälfte geantwortet habe: »Ja, beständig
gefährdet; am meisten die Stimme.«
Unter
solchem Geplauder war, ehe man sich trennte, der Trippelli-Abend noch
einmal an ihnen vorübergezogen, und erst drei Tage später hatte sich
Gieshüblers Freundin durch ein von Petersburg aus an Effi gerichtetes
Telegramm noch einmal in Erinnerung gebracht. Es lautete: Madame la
Baronne d'Innstetten, née de Briest. Bien arrivée. Prince K. à la gare.
Plus épris de moi que jamais. Mille fois merci de votre bon accueil.
Compliments empressés à Monsieur le Baron. Marietta Trippelli.
Innstetten war entzückt und gab diesem Entzücken lebhafteren Ausdruck,
als Effi begreifen konnte.
»Ich
verstehe dich nicht, Geert.«
»Weil
du die Trippelli nicht verstehst. Mich entzückt die Echtheit; alles da,
bis auf das Pünktchen überm i.«
»Du
nimmst also alles als eine Komödie?«
»Aber
als was sonst? Alles berechnet für dort und für hier, für Kotschukoff
und für Gieshübler. Gieshübler wird wohl eine Stiftung machen,
vielleicht auch bloß ein Legat für die Trippelli.«
Die
musikalische Soiree bei Gieshübler hatte Mitte Dezember stattgefunden,
gleich danach begannen die Vorbereitungen für Weihnachten, und Effi, die
sonst schwer über diese Tage hingekommen wäre, segnete es, daß sie
selber einen Hausstand hatte, dessen Ansprüche befriedigt werden mußten.
Es galt nachsinnen, fragen, anschaffen, und das alles ließ trübe
Gedanken nicht aufkommen. Am Tage vor Heiligabend trafen Geschenke von
den Eltern aus Hohen-Cremmen ein, und mit in die Kiste waren allerhand
Kleinigkeiten aus dem Kantorhause gepackt: wunderschöne Reinetten von
einem Baum, den Effi und Jahnke vor mehreren Jahren gemeinschaftlich
okuliert hatten, und dazu braune Puls- und Kniewärmer von Bertha und
Hertha. Hulda schrieb nur wenige Zeilen, weil sie, wie sie sich
entschuldigte, für X noch eine Reisedecke zu stricken habe. »Was einfach
nicht wahr ist«, sagte Effi. »Ich wette, X. existiert gar nicht. Daß sie
nicht davon lassen kann, sich mit Anbetern zu umgeben die nicht da
sind!« Und so kam Heiligabend heran. Innstetten selbst baute auf für
seine junge Frau, der Baum brannte, und ein kleiner Engel schwebte oben
in Lüften Auch eine Krippe war da mit hübschen Transparenten und
Inschriften, deren eine sich in leiser Andeutung auf ein dem
Innstettenschen Hause für nächstes Jahr bevorstehendes Ereignis bezog.
Effi las es und errötete. Dann ging sie auf Innstetten zu, um ihm zu
danken, aber eh sie dies konnte, flog, nach altpommerschem
Weihnachtsbrauch, ein Julklapp in den Hausflur: eine große Kiste, drin
eine Welt von Dingen steckte. Zuletzt fand man die Hauptsache, ein
zierliches, mit allerlei japanischen Bildchen überklebtes
Morsellenkästchen, dessen eigentlichem Inhalt auch noch ein Zettelchen
beigegeben war. Es hieß da:
Drei
Könige kamen zum Heiligenchrist,
Mohrenkönig einer gewesen ist –
Ein
Mohrenapothekerlein
Erscheinet heute mit Spezerein,
Doch
statt Weihrauch und Myrrhen, die nicht zur Stelle,
Bringt
er Pistazien- und Mandel-Morselle.
Effi
las es zwei-, dreimal und freute sich darüber. »Die Huldigungen eines
guten Menschen haben doch etwas besonders Wohltuendes. Meinst du nicht
auch, Geert?«
Gewiß
meine ich das. Es ist eigentlich das einzige, was einem Freude macht
oder wenigstens Freude machen sollte. Denn jeder steckt noch so nebenher
in allerhand dummem Zeuge drin. Ich auch. Aber freilich, man ist, wie
man ist.« Der erste Feiertag war Kirchtag, am zweiten war man bei
Borckes draußen, alles zugegen, mit Ausnahme von Grasenabbs, die nicht
kommen wollten, weil Sidonie nicht da sei, was man als Entschuldigung
allseitig ziemlich sonderlich fand. Einige tuschelten sogar: »Umgekehrt;
gerade deshalb hätten sie kommen sollen.« Am Silvester war
Ressourcenball, auf dem Effi nicht fehlen durfte und auch nicht wollte,
denn der Ball gab ihr Gelegenheit, endlich einmal die ganze Stadtflora
beisammen zu sehen. Johanna hatte mit den Vorbereitungen zum Ballstaate
für ihre Gnäd'ge vollauf zu tun, Gieshübler, der, wie alles, so auch ein
Treibhaus hatte, schickte Kamelien, und Innstetten, so knapp bemessen
die Zeit für ihn war, fuhr am Nachmittage noch über Land nach
Papenhagen, wo drei Scheunen abgebrannt waren.
Es war
ganz still im Hause. Christel, beschäftigungslos, hatte sich schläfrig
eine Fußbank an den Herd gerückt, und Effi zog sich in ihr Schlafzimmer
zurück, wo sie sich, zwischen Spiegel und Sofa, an einen kleinen, eigens
zu diesem Zweck zurechtgemachten Schreibtisch setzte, um von hier aus an
die Mama zu schreiben, der sie für Weihnachtsbrief und
Weihnachtsgeschenke bis dahin bloß in einer Karte gedankt, sonst aber
seit Wochen keine Nachricht gegeben hatte.
Kessin,
31. Dezember. Meine liebe Mama! Das wird nun wohl ein langer
Schreibebrief werden, denn ich habe – die Karte rechnet nicht – lange
nichts von mir hören lassen. Als ich das letztemal schrieb, steckte ich
noch in den Weihnachtsvorbereitungen, jetzt liegen die Weihnachtstage
schon zurück. Innstetten und mein guter Freund Gieshübler hatten alles
aufgeboten, mir den Heiligen Abend so angenehm wie möglich zu machen,
aber ich fühlte mich doch ein wenig einsam und bangte mich nach Euch.
Überhaupt, soviel Ursache ich habe, zu danken und froh und glücklich zu
sein, ich kann ein Gefühl des Alleinseins nicht ganz loswerden, und wenn
ich mich früher, vielleicht mehr als nötig, über Huldas ewige
Gefühlsträne mokiert habe, so werde ich jetzt dafür bestraft und habe
selber mit dieser Träne zu kämpfen. Denn Innstetten darf es nicht sehen.
Ich bin aber sicher, daß das alles besser werden wird, wenn unser
Hausstand sich mehr belebt, und das wird der Fall sein, meine liebe
Mama. Was ich neulich andeutete, das ist nun Gewißheit, und Innstetten
bezeugt mir täglich seine Freude darüber. Wie glücklich ich selber im
Hinblick darauf bin, brauche ich nicht erst zu versichern, schon weil
ich dann Leben und Zerstreuung um mich her haben werde oder, wie Geert
sich ausdrückt, ein »liebes Spielzeug«. Mit diesem Wort wird er wohl
recht haben, aber er sollte es lieber nicht gebrauchen, weil es mir
immer einen kleinen Stich gibt und mich daran erinnert, wie jung ich bin
und daß ich noch halb in die Kinderstube gehöre. Diese Vorstellung
verläßt mich nicht (Geert meint, es sei krankhaft) und bringt es zuwege,
daß das, was mein höchstes Glück sein sollte, doch fast noch mehr eine
beständige Verlegenheit für mich ist. Ja, meine liebe Mama, als die
guten Flemmingschen Damen sich neulich nach allem möglichen erkundigten,
war mir zumut, als stünde ich schlecht vorbereitet in einem Examen, und
ich glaube auch, daß ich recht dumm geantwortet habe. Verdrießlich war
ich auch. Denn manches, was wie Teilnahme aussieht, ist doch bloß
Neugier und wirkt um so zudringlicher, als ich ja noch lange, bis in den
Sommer hinein, auf das frohe Ereignis zu warten habe. Ich denke, die
ersten Julitage. Dann mußt Du kommen, oder noch besser, sobald ich
einigermaßen wieder bei Wege bin, komme ich, nehme hier Urlaub und mache
mich auf nach Hohen-Cremmen. Ach, wie ich mich darauf freue und auf die
havelländische Luft – hier ist es fast immer rauh und kalt –, und dann
jeden Tag eine Fahrt ins Luch, alles rot und gelb, und ich sehe schon,
wie das Kind die Hände danach streckt, denn es wird doch wohl fühlen,
daß es eigentlich da zu Hause ist. Aber das schreibe ich nur Dir.
Innstetten darf nicht davon wissen, und auch Dir gegenüber muß ich mich
wie entschuldigen, daß ich mit dem Kinde nach Hohen-Cremmen will und
mich heute schon anmelde, statt Dich, meine liebe Mama, dringend und
herzlich nach Kessin hin einzuladen, das ja doch jeden Sommer
fünfzehnhundert Badegäste hat und Schiffe mit allen möglichen Flaggen
und sogar ein Dünenhotel. Aber daß ich so wenig Gastlichkeit zeige, das
macht nicht, daß ich ungastlich wäre, so sehr bin ich nicht aus der Art
geschlagen, das macht einfach unser landrätliches Haus, das, soviel
Hübsches und Apartes es hat, doch eigentlich gar kein richtiges Haus
ist, sondern nur eine Wohnung für zwei Menschen, und auch das kaum, denn
wir haben nicht einmal ein Eßzimmer, was doch genant ist, wenn ein paar
Personen zu Besuch sich einstellen. Wir haben freilich noch
Räumlichkeiten im ersten Stock, einen großen Saal und vier kleine
Zimmer, aber sie haben alle etwas wenig Einladendes, und ich würde sie
Rumpelkammer nennen, wenn sich etwas Gerümpel darin vorfände; sie sind
aber ganz leer, ein paar Binsenstühle abgerechnet, und machen, das
mindeste zu sagen, einen sehr sonderbaren Eindruck. Nun wirst Du wohl
meinen, das alles sei ja leicht zu ändern. Aber es ist nicht zu ändern;
denn das Haus, das wir bewohnen, ist ... ist ein Spukhaus; da ist es
heraus. Ich beschwöre Dich übrigens, mir auf diese meine Mitteilung
nicht zu antworten, denn ich zeige Innstetten immer Eure Briefe, und er
wäre außer sich, wenn er erführe, daß ich Dir das geschrieben. Ich hätte
es auch nicht getan, und zwar um so weniger, als ich seit vielen Wochen
in Ruhe geblieben bin und aufgehört habe, mich zu ängstigen; aber
Johanna sagt mir, es käme immer mal wieder, namentlich wenn wer Neues im
Hause erschiene. Und ich kann Dich doch einer solchen Gefahr oder, Wenn
das zuviel gesagt ist, einer solchen eigentümlichen und unbequemen
Störung nicht aussetzen! Mit der Sache selber will ich Dich heute nicht
behelligen, jedenfalls nicht ausführlich. Es ist eine Geschichte von
einem alten Kapitän, einem sogenannten Chinafahrer, und seiner Enkelin,
die mit einem hiesigen jungen Kapitän eine kurze Zeit verlobt war und an
ihrem Hochzeitstage plötzlich verschwand. Das möchte hingehn. Aber was
wichtiger ist, ein junger Chinese, den ihr Vater aus China mit
zurückgebracht hatte und der erst der Diener und dann der Freund des
Alten war, der starb kurze Zeit danach und ist an einer einsamen Stelle
neben dem Kirchhof begraben worden. Ich bin neulich da vorübergefahren,
wandte mich aber rasch ab und sah nach der andern Seite, weil ich
glaube, ich hätte ihn sonst auf dem Grabe sitzen sehen. Denn ach, meine
liebe Mama, ich habe ihn einmal wirklich gesehen, oder es ist mir
wenigstens so vorgekommen, als ich fest schlief und Innstetten auf
Besuch beim Fürsten war. Es war schrecklich; ich möchte so was nicht
wieder erleben. Und in ein solches Haus, so hübsch es sonst ist (es ist
sonderbarerweise gemütlich und unheimlich zugleich), kann ich Dich doch
nicht gut einladen. Und Innstetten, trotzdem ich ihm schließlich in
vielen Stücken zustimmte, hat sich dabei, soviel möchte ich sagen
dürfen, auch nicht ganz richtig benommen. Er verlangte von mir, ich
solle das alles als Alten-Weiber-Unsinn ansehn und darüber lachen, aber
mit einemmal schien er doch auch wieder selber daran zu glauben und
stellte mir zugleich die sonderbare Zumutung, einen solchen Hausspuk als
etwas Vornehmes und Altadliges anzusehen. Das kann ich aber nicht und
will es auch nicht. Er ist in diesem Punkt, so gütig er sonst ist, nicht
gütig und nachsichtig genug gegen mich. Denn daß es etwas damit ist, das
weiß ich von Johanna und weiß es auch von unserer Frau Kruse. Das ist
nämlich unsere Kutscherfrau, die mit einem schwarzen Huhn beständig in
einer überheizten Stube sitzt. Dies allein schon ist ängstlich genug.
Und nun weißt Du, warum ich kommen will, wenn es erst soweit ist. Ach,
wäre es nur erst soweit. Es sind so viele Gründe, warum ich es wünsche.
Heute abend haben wir Silvesterball, und Gieshübler – der einzige nette
Mensch hier, trotzdem er eine hohe Schulter hat oder eigentlich schon
etwas mehr –, Gieshübler hat mir Kamelien geschickt. Ich werde doch
vielleicht tanzen. Unser Arzt sagt, es würde mir nichts schaden, im
Gegenteil. Und Innstetten, was mich fast überraschte, hat auch
eingewilligt. Und nun grüße und küsse Papa und all die andern Lieben.
Glückauf zum neuen Jahr. Deine Effi.
Dreizehntes Kapitel
Der
Silvesterball hatte bis an den frühen Morgen gedauert, und Effi war
ausgiebig bewundert worden, freilich nicht ganz so anstandslos wie das
Kamelienbukett, von dem man wußte, daß es aus dem Gieshüblerschen
Treibhaus kam. Im übrigen blieb auch nach dem Silvesterball alles beim
alten, kaum daß Versuche gesellschaftlicher Annäherung gemacht worden
wären, und so kam es denn, daß der Winter als recht lange dauernd
empfunden wurde. Besuche seitens der benachbarten Adelsfamilien fanden
nur selten statt, und dem pflichtschuldigen Gegenbesuch ging in einem
halben Trauerton jedesmal die Bemerkung voraus: »Ja, Geert, wenn es
durchaus sein muß, aber ich vergehe vor Langeweile.« Worte, denen
Innstetten nur immer zustimmte. Was an solchen Besuchsnachmittagen über
Familie, Kinder, auch Landwirtschaft gesagt wurde, mochte gehen; wenn
dann aber die kirchlichen Fragen an die Reihe kamen und die
mitanwesenden Pastoren wie kleine Päpste behandelt wurden oder sich auch
wohl selbst als solche ansahen, dann riß Effi der Faden der Geduld, und
sie dachte mit Wehmut an Niemeyer, der immer zurückhaltend und
anspruchslos war, trotzdem es bei jeder größeren Feierlichkeit hieß, er
habe das Zeug, an den »Dom« berufen zu werden. Mit den Borckes, den
Flemmings, den Grasenabbs, so freundlich die Familien, von Sidonie
Grasenabb abgesehen, gesinnt waren – es wollte mit allen nicht so recht
gehen, und es hätte mit Freude, Zerstreuung und auch nur leidlichem
Sich-behaglich-Fühlen manchmal recht schlimm gestanden, wenn Gieshübler
nicht gewesen wäre. Der sorgte für Effi wie eine kleine Vorsehung, und
sie wußte es ihm auch Dank. Natürlich war er neben allem andern auch ein
eifriger und aufmerksamer Zeitungsleser, ganz zu schweigen, daß er an
der Spitze des Journalzirkels stand, und so verging denn fast kein Tag,
wo nicht Mirambo ein großes weißes Kuvert gebracht hätte mit allerhand
Blättern und Zeitungen, in denen die betreffenden Stellen angestrichen
waren, meist eine kleine, feine Bleistiftlinie, mitunter aber auch dick
mit Blaustift und ein Ausrufungs- oder Fragezeichen daneben. Und dabei
ließ er es nicht bewenden; er schickte auch Feigen und Datteln,
Schokoladentafeln in Satineepapier und ein rotes Bändchen drum, und wenn
etwas besonders Schönes in seinem Treibhaus blühte, so brachte er es
selbst und hatte dann eine glückliche Plauderstunde mit der ihm so
sympathischen jungen Frau, für die er alle schönen Liebesgefühle durch-
und nebeneinander hatte, die des Vaters und Onkels, des Lehrers und
Verehrers. Effi war gerührt von dem allen und schrieb öfters darüber
nach Hohen-Cremmen, so daß die Mama sie mit ihrer »Liebe zum
Alchimisten« zu necken begann; aber diese wohlgemeinten Neckereien
verfehlten ihren Zweck, ja berührten sie beinahe schmerzlich, weil ihr,
wenn auch unklar, dabei zum Bewußtsein kam, was ihr in ihrer Ehe
eigentlich fehlte: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten.
Innstetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte
das Gefühl, Effi zu lieben, und das gute Gewissen, daß es so sei, ließ
ihn von besonderen Anstrengungen absehen. Es war fast zur Regel
geworden, daß er sich, wenn Friedrich die Lampe brachte, aus seiner Frau
Zimmer in sein eigenes zurückzog. »Ich habe da noch eine verzwickte
Geschichte zu erledigen.« Und damit ging er. Die Portiere blieb freilich
zurückgeschlagen, so daß Effi das Blättern in dem Aktenstück oder das
Kritzeln seiner Feder hören konnte, aber das war auch alles. Rollo kam
dann wohl und legte sich vor sie hin auf den Kaminteppich, als ob er
sagen wolle: »Muß nur mal wieder nach dir sehen; ein anderer tut's doch
nicht.« Und dann beugte sie sich nieder und sagte leise: »Ja, Rollo, wir
sind allein.« Um neun erschien dann Innstetten wieder zum Tee, meist die
Zeitung in der Hand, sprach vom Fürsten, der wieder viel Ärger habe,
zumal über diesen Eugen Richter, dessen Haltung und Sprache ganz
unqualifizierbar seien, und ging dann die Ernennungen und
Ordensverleihungen durch, von denen er die meisten beanstandete. Zuletzt
sprach er von den Wahlen, und daß es ein Glück sei, einem Kreis
vorzustehen, in dem es noch Respekt gäbe. War er damit durch, so bat er
Effi, daß sie was spiele, aus Lohengrin oder aus der Walküre, denn er
war ein Wagnerschwärmer. Was ihn zu diesem hinübergeführt hatte, war
ungewiß; einige sagten, seine Nerven, denn so nüchtern er schien,
eigentlich war er nervös; andere schoben es auf Wagners Stellung zur
Judenfrage. Wahrscheinlich hatten beide recht. Um zehn war Innstetten
dann abgespannt und erging sich in ein paar wohlgemeinten, aber etwas
müden Zärtlichkeiten, die sich Effi gefallen ließ, ohne sie recht zu
erwidern.
So
verging der Winter, der April kam, und in dem Garten hinter dem Hof
begann es zu grünen, worüber sich Effi freute; sie konnte gar nicht
abwarten, daß der Sommer komme mit seinen Spaziergängen am Strand und
seinen Badegästen. Wenn sie so zurückblickte, der Trippelli-Abend bei
Gieshübler und dann der Silvesterball, ja, das ging, das war etwas
Hübsches gewesen; aber die Monate, die dann gefolgt waren, die hatten
doch viel zu wünschen übriggelassen, und vor allem waren sie so monoton
gewesen, daß sie sogar mal an die Mama geschrieben hatte: »Kannst Du Dir
denken, Mama, daß ich mich mit unsrem Spuk beinah ausgesöhnt habe?
Natürlich die schreckliche Nacht, wo Geert drüben beim Fürsten war, die
möchte ich nicht noch einmal durchmachen, nein, gewiß nicht; aber immer
das Alleinsein und so gar nichts erleben, das hat doch auch sein
Schweres, und wenn ich dann in der Nacht aufwache, dann horche ich
mitunter hinauf, ob ich nicht die Schuhe schleifen höre, und wenn alles
still bleibt, so bin ich fast wie enttäuscht und sage mir: Wenn es doch
nur wiederkäme, nur nicht zu arg und nicht zu nah.«
Das war
im Februar, daß Effi so schrieb, und nun war beinahe Mai. Drüben in der
Plantage belebte sich's schon wieder, und man hörte die Finken schlagen.
Und in derselben Woche war es auch, daß die Störche kamen, und einer
schwebte langsam über ihr Haus hin und ließ sich dann auf einer Scheune
nieder, die neben Utpatels Mühle stand. Das war seine alte Raststätte.
Auch über dies Ereignis berichtete Effi, die jetzt überhaupt häufiger
nach Hohen-Cremmen schrieb, und es war in demselben Brief, daß es am
Schluß hieß: »Etwas, meine liebe Mama, hätte ich beinah vergessen: den
neuen Landwehrbezirkskommandeur, den wir nun schon beinah vier Wochen
hier haben. Ja, haben wir ihn wirklich? Das ist die Frage, und eine
Frage von Wichtigkeit dazu, sosehr Du darüber lachen wirst und auch
lachen mußt, weil Du den gesellschaftlichen Notstand nicht kennst, in
dem wir uns nach wie vor befinden. Oder wenigstens ich, die ich mich mit
dem Adel hier nicht gut zurechtfinden kann. Vielleicht meine Schuld.
Aber das ist gleich. Tatsache bleibt: Notstand, und deshalb sah ich,
durch all diese Winterwochen hin, dem neuen Bezirkskommandeur wie einem
Trost- und Rettungsbringer entgegen. Sein Vorgänger war ein Greuel, von
schlechten Manieren und noch schlechteren Sitten, und zum Überfluß auch
noch immer schlecht bei Kasse. Wir haben all die Zeit über unter ihm
gelitten, Innstetten noch mehr als ich, und als wir Anfang April hörten,
Major von Crampas sei da, das ist nämlich der Name des neuen, da fielen
wir uns in die Arme, als könne uns nichts Schlimmes mehr in diesem
lieben Kessin passieren. Aber, wie schon kurz erwähnt, es scheint,
trotzdem er da ist, wieder nichts werden zu wollen. Crampas ist
verheiratet, zwei Kinder von zehn und acht Jahren, die Frau ein Jahr
älter als er, also sagen wir fünfundvierzig. Das würde nun an und für
sich nicht viel schaden, warum soll ich mich nicht mit einer
mütterlichen Freundin wundervoll unterhalten können? Die Trippelli war
auch nahe an Dreißig, und es ging ganz gut. Aber mit der Frau von
Crampas, übrigens keine Geborene, kann es nichts werden. Sie ist immer
verstimmt, beinahe melancholisch (ähnlich wie unsere Frau Kruse, an die
sie mich überhaupt erinnert), und das alles aus Eifersucht. Er, Crampas,
soll nämlich ein Mann vieler Verhältnisse sein, ein Damenmann, etwas,
was mir immer lächerlich ist und mir auch in diesem Falle lächerlich
sein würde, wenn er nicht um eben solcher Dinge willen ein Duell mit
einem Kameraden gehabt hätte. Der linke Arm wurde ihm dicht unter der
Schulter zerschmettert, und man sieht es sofort, trotzdem die Operation,
wie mir Innstetten erzählt (ich glaube, sie nennen es Resektion, damals
noch von Wilms ausgeführt), als ein Meisterstück der Kunst gerühmt
wurde. Beide, Herr und Frau von Crampas, waren vor vierzehn Tagen bei
uns, um uns ihren Besuch zu machen; es war eine sehr peinliche
Situation, denn Frau von Crampas beobachtete ihren Mann so, daß er in
eine halbe und ich in eine ganze Verlegenheit kam. Daß er selbst sehr
anders sein kann, ausgelassen und übermütig, davon überzeugte ich mich,
als er vor drei Tagen mit Innstetten allein war und ich, von meinem
Zimmer her, dem Gang ihrer Unterhaltung folgen konnte. Nachher sprach
auch ich ihn. Vollkommener Kavalier, ungewöhnlich gewandt. Innstetten
war während des Krieges in derselben Brigade mit ihm, und sie haben sich
im Norden von Paris bei Graf Gröben öfter gesehen. Ja, meine liebe Mama,
das wäre nun also etwas gewesen, um in Kessin ein neues Leben beginnen
zu können; er, der Major, hat auch nicht die pommerschen Vorurteile,
trotzdem er in Schwedisch-Pommern zu Hause sein soll. Aber die Frau!
Ohne sie geht es natürlich nicht, und mit ihr erst recht nicht.«
Effi
hatte ganz recht gehabt, und es kam wirklich zu keiner weiteren
Annäherung mit dem Crampasschen Paar. Man sah sich mal bei der
Borckeschen Familie draußen, ein andermal ganz flüchtig auf dem Bahnhof
und wenige Tage später auf einer Boots- und Vergnügungsfahrt, die nach
einem am Breitling gelegenen großen Buchen- und Eichenwald, der »Der
Schnatermann« hieß, gemacht wurde; es kam aber über kurze Begrüßungen
nicht hinaus, und Effi war froh, als Anfang Juni die Saison sich
ankündigte. Freilich fehlte es noch an Badegästen, die vor Johanni
überhaupt nur in Einzelexemplaren einzutreffen pflegten, aber schon die
Vorbereitungen waren eine Zerstreuung. In der Plantage wurden Karussell
und Scheibenstände hergerichtet, die Schiffersleute kalfaterten und
strichen ihre Boote, jede kleine Wohnung erhielt neue Gardinen, die
Zimmer, die feucht lagen, also den Schwamm unter der Diele hatten,
wurden ausgeschwefelt und dann gelüftet.
Auch in
Effis eigener Wohnung, freilich um eines anderen Ankömmlings als der
Badegäste willen, war alles in einer gewissen Erregung; selbst Frau
Kruse wollte mittun, so gut es ging. Aber davor erschrak Effi lebhaft
und sagte: »Geert, daß nur die Frau Kruse nichts anfaßt; da kann nichts
werden, und ich ängstige mich schon gerade genug.«
Innstetten versprach auch alles, Christel und Johanna hätten ja Zeit
genug, und um seiner jungen Frau Gedanken überhaupt in eine andere
Richtung zu bringen, ließ er das Thema der Vorbereitungen ganz fallen
und fragte statt dessen, ob sie schon bemerkt habe, daß drüben ein
Badegast eingezogen sei, nicht gerade der erste, aber doch einer der
ersten.
»Ein
Herr?«
»Nein,
eine Dame, die schon früher hier war, jedesmal in derselben Wohnung. Und
sie kommt immer so früh, weil sie's nicht leiden kann, wenn alles schon
so voll ist.«
»Das
kann ich ihr nicht verdenken. Und wer ist es denn?«
Die
verwitwete Registrator Rode. «
»Sonderbar. Ich habe mir Registratorwitwen immer arm gedacht.«
»Ja«,
lachte Innstetten, »das ist die Regel. Aber hier hast du eine Ausnahme.
Jedenfalls hat sie mehr als ihre Witwenpension. Sie kommt immer mit viel
Gepäck, unendlich viel mehr, als sie gebraucht, und scheint überhaupt
eine ganz eigene Frau, wunderlich, kränklich und namentlich schwach auf
den Füßen. Sie mißtraut sich deshalb auch und hat immer eine ältliche
Dienerin um sich, die kräftig genug ist, sie zu schützen oder sie zu
tragen, wenn ihr was passiert. Diesmal hat sie eine neue. Aber doch
wieder eine ganz ramassierte Person, ähnlich wie die Trippelli, nur noch
stärker.«
»Oh,
die hab ich schon gesehen. Gute braune Augen, die einen treu und
zuversichtlich ansehen. Aber ein klein bißchen dumm.« – »Richtig, das
ist sie.«
Das war
Mitte Juni, daß Innstetten und Effi dies Gespräch hatten. Von da ab
brachte jeder Tag Zuzug, und nach dem Bollwerk hin spazierengehen, um
daselbst die Ankunft des Dampfschiffes abzuwarten, wurde, wie immer um
diese Zeit, eine Art Tagesbeschäftigung für die Kessiner. Effi freilich,
weil Innstetten sie nicht begleiten konnte, mußte darauf verzichten,
aber sie hatte doch wenigstens die Freude, die nach dem Strand und dem
Strandhotel hinausführende, sonst so menschenleere Straße sich beleben
zu sehen, und war denn auch, um immer wieder Zeuge davon zu sein, viel
mehr als sonst in ihrem Schlafzimmer, von dessen Fenstern aus sich alles
am besten beobachten ließ. Johanna stand dann neben ihr und gab Antwort
auf ziemlich alles, was sie wissen wollte; denn da die meisten
alljährlich wiederkehrende Gäste waren, so konnte das Mädchen nicht bloß
die Namen nennen, sondern mitunter auch eine Geschichte dazu geben.
Das
alles war unterhaltlich und erheiternd für Effi. Gerade am Johannistag
aber traf es sich, daß kurz vor elf Uhr vormittags, wo sonst der Verkehr
vom Dampfschiff her am buntesten vorüberflutete, statt der mit
Ehepaaren, Kindern und Reisekoffern besetzten Droschken aus der Mitte
der Stadt her ein schwarz verhangener Wagen (dem sich zwei
Trauerkutschen anschlossen) die zur Plantage führende Straße herunterkam
und vor dem der landrätlichen Wohnung gegenüber gelegenen Hause hielt.
Die verwitwete Frau Registrator Rode war nämlich drei Tage vorher
gestorben, und nach Eintreffen der in aller Kürze benachrichtigten
Berliner Verwandten war seitens ebendieser beschlossen worden, die Tote
nicht nach Berlin hin überzuführen, sondern auf dem Kessiner
Dünenkirchhof begraben zu wollen. Effi stand am Fenster und sah
neugierig auf die sonderbar feierliche Szene, die sich drüben abspielte.
Die zum Begräbnis von Berlin her Eingetroffenen waren zwei Neffen mit
ihren Frauen, alle gegen Vierzig, etwas mehr oder weniger, und von
beneidenswert gesunder Gesichtsfarbe. Die Neffen, in gutsitzenden
Fracks, konnten passieren, und die nüchterne Geschäftsmäßigkeit, die
sich in ihrem gesamten Tun ausdrückte, war im Grunde mehr kleidsam als
störend. Aber die beiden Frauen! Sie waren ganz ersichtlich bemüht, den
Kessinern zu zeigen, was eigentlich Trauer sei, und trugen denn auch
lange, bis an die Erde reichende schwarze Kreppschleier, die zugleich
ihr Gesicht verhüllten. Und nun wurde der Sarg, auf dem einige Kränze
und sogar ein Palmwedel lagen, auf den Wagen gestellt, und die beiden
Ehepaare setzten sich in die Kutschen. In die erste – gemeinschaftlich
mit dem einen der beiden leidtragenden Paare – stieg auch Lindequist,
hinter der zweiten Kutsche aber ging die Hauswirtin und neben dieser die
stattliche Person, die die Verstorbene zur Aushilfe mit nach Kessin
gebracht hatte. Letztere war sehr aufgeregt und schien durchaus ehrlich
darin, wenn dies Aufgeregtsein auch vielleicht nicht gerade Trauer war;
der sehr heftig schluchzenden Hauswirtin aber, einer Witwe, sah man
dagegen fast allzu deutlich an, daß sie sich beständig die Möglichkeit
eines Extrageschenkes berechnete, trotzdem sie in der bevorzugten und
von anderen Wirtinnen auch sehr beneideten Lage war, die für den ganzen
Sommer vermietete Wohnung noch einmal vermieten zu können.
Effi,
als der Zug sich in Bewegung setzte, ging in ihren hinter dem Hof
gelegenen Garten, um hier, zwischen den Buchsbaumbeeten, den Eindruck
des Lieb- und Leblosen, den die ganze Szene drüben auf sie gemacht
hatte, wieder loszuwerden. Als dies aber nicht glücken wollte, kam ihr
die Lust, statt ihrer eintönigen Gartenpromenade lieber einen weiteren
Spaziergang zu machen, und zwar um so mehr, als ihr der Arzt gesagt
hatte, viel Bewegung im Freien sei das Beste, was sie bei dem, was ihr
bevorstände, tun könne. Johanna, die mit im Garten war, brachte ihr denn
auch Umhang, Hut und Entoutcas, und mit einem freundlichen »Guten Tag«
trat Effi aus dem Hause heraus und ging auf das Wäldchen zu, neben
dessen breitem chaussierten Mittelweg ein schmalerer Fußsteig auf die
Dünen und das am Strand gelegene Hotel zulief. Unterwegs standen Bänke,
von denen sie jede benutzte, denn das Gehen griff sie an, und um so
mehr, als inzwischen die heiße Mittagsstunde herangekommen war. Aber
wenn sie saß und von ihrem bequemen Platz aus die Wagen und die Damen in
Toilette beobachtete, die da hinausfuhren, so belebte sie sich wieder.
Denn Heiteres sehen, war ihr wie Lebensluft. Als das Wäldchen aufhörte,
kam freilich noch eine allerschlimmste Wegstelle – Sand und wieder Sand,
und nirgends eine Spur von Schatten; aber glücklicherweise waren hier
Bohlen und Bretter gelegt, und so kam sie, wenn auch erhitzt und müde,
doch in guter Laune bei dem Strandhotel an. Drinnen im Saal wurde schon
gegessen, aber hier draußen um sie her war alles still und leer, was ihr
in diesem Augenblick denn auch das liebste war. Sie ließ sich ein Glas
Sherry und eine Flasche Biliner Wasser bringen und sah auf das Meer
hinaus, das im hellen Sonnenlichte schimmerte, während es am Ufer in
kleinen Wellen brandete. »Da drüben liegt Bornholm und dahinter Wisby,
wovon mir Jahnke vor Zeiten immer Wunderdinge vorschwärmte. Und hinter
Wisby kommt Stockholm, wo das Stockholmer Blutbad war, und dann kommen
die großen Ströme und dann das Nordkap und dann die Mitternachtssonne.«
Und im Augenblick erfaßte sie eine Sehnsucht, das alles zu sehen. Aber
dann gedachte sie wieder dessen, was ihr so nahe bevorstand, und sie
erschrak fast. »Es ist eine Sünde, daß ich so leichtsinnig bin und
solche Gedanken habe und mich wegträume, während ich doch an das nächste
denken müßte. Vielleicht bestraft es sich auch noch, und alles stirbt
hin, das Kind und ich. Und der Wagen und die zwei Kutschen, die halten
dann nicht drüben vor dem Hause, die halten dann bei uns ... Nein, nein,
ich mag hier nicht sterben, ich will hier nicht begraben sein, ich will
nach Hohen-Cremmen. Und Lindequist, so gut er ist – aber Niemeyer ist
mir lieber; er hat mich getauft und eingesegnet und getraut, und
Niemeyer soll mich auch begraben.« Und dabei fiel eine Träne auf ihre
Hand. Dann aber lachte sie wieder. »Ich lebe ja noch und bin erst
siebzehn, und Niemeyer ist siebenundfünfzig.«
In dem
Eßsaal hörte sie das Geklapper des Geschirrs. Aber mit einem Male war es
ihr, als ob die Stühle geschoben würden; vielleicht stand man schon auf,
und sie wollte jede Begegnung vermeiden. So erhob sie sich auch
ihrerseits rasch wieder von ihrem Platz, um auf einem Umweg nach der
Stadt zurückzukehren. Dieser Umweg führte sie dicht an dem Dünenkirchhof
vorüber, und weil der Torweg des Kirchhofs gerade offenstand, trat sie
ein. Alles blühte hier, Schmetterlinge flogen über die Gräber hin, und
hoch in den Lüften standen ein paar Möwen. Es war so still und schön,
und sie hätte hier gleich bei den ersten Gräbern verweilen mögen; aber
weil die Sonne mit jedem Augenblick heißer niederbrannte, ging sie höher
hinauf, auf einen schattigen Gang zu, den Hängeweiden und etliche an den
Gräbern stehende Trauereschen bildeten. Als sie bis an das Ende dieses
Ganges gekommen, sah sie zur Rechten einen frisch aufgeworfenen
Sandhügel, mit vier, fünf Kränzen darauf, und dicht daneben eine schon
außerhalb der Baumreihe stehende Bank, darauf die gute, robuste Person
saß, die an der Seite der Hauswirtin dem Sarge der verwitweten
Registratorin als letzte Leidtragende gefolgt war. Effi erkannte sie
sofort wieder und war in ihrem Herzen bewegt, die gute, treue Person,
denn dafür mußte sie sie halten, in sengender Sonnenhitze hier
vorzufinden. Seit dem Begräbnis waren wohl an zwei Stunden vergangen.
»Es ist eine heiße Stelle, die Sie sich da ausgesucht haben«, sagte
Effi, »viel zu heiß. Und wenn ein Unglück kommen soll, dann haben Sie
den Sonnenstich.«
Das
wäre auch das beste.«
Wie
das?« – »Dann wär ich aus der Welt.«
Ich
meine, das darf man nicht sagen, auch wenn man unglücklich ist oder wenn
einem wer gestorben ist, den man liebhatte. Sie hatten sie wohl sehr
lieb?«
Ich?
Die? I, Gott bewahre.«
Sie
sind aber doch sehr traurig. Das muß doch einen Grund haben.«
Den hat
es auch, gnädigste Frau.«
Kennen
Sie mich?«
Ja. Sie
sind die Frau Landrätin von drüben. Und ich habe mit der Alten immer von
Ihnen gesprochen. Zuletzt konnte sie nicht mehr, weil sie keine rechte
Luft mehr hatte, denn es saß ihr hier und wird wohl Wasser gewesen sein;
aber solange sie noch reden konnte, redete sie immerzu. Es war ne
richtige Berlinsche ...« – »Gute Frau?«
Nein;
wenn ich das sagen wollte, müßt ich lügen. Da liegt sie nun, und man
soll von einem Toten nichts Schlimmes sagen, und erst recht nicht, wenn
er so kaum seine Ruhe hat. Na, die wird sie ja wohl haben! Aber sie
taugte nichts und war zänkisch und geizig, und für mich hat sie auch
nicht gesorgt. Und die Verwandtschaft, die da gestern von Berlin
gekommen ... gezankt haben sie sich bis in die sinkende Nacht ... na,
die taugt auch nichts, die taugt erst recht nichts. Lauter schlechtes
Volk, happig und gierig und hartherzig, und haben mir barsch und
unfreundlich und mit allerlei Redensarten meinen Lohn ausgezahlt, bloß
weil sie mußten und weil es bloß noch sechs Tage sind bis zum
Vierteljahresersten. Sonst hätte ich nichts gekriegt oder bloß halb oder
bloß ein Viertel. Nichts aus freien Stücken. Und einen eingerissenen
Fünfmarkschein haben sie mir gegeben, daß ich nach Berlin zurückreisen
kann; na, es reicht so gerade für die vierte Klasse, und ich werde wohl
auf meinem Koffer sitzen müssen. Aber ich will auch gar nicht; ich will
hier sitzen bleiben und warten, bis ich sterbe ... Gott, ich dachte nun
mal Ruhe zu haben und hätte auch ausgehalten bei der Alten. Und nun ist
es wieder nichts und soll mich wieder rumstoßen lassen. Und kattolsch
bin ich auch noch. Ach, ich hab es satt und läg am liebsten, wo die Alte
liegt, und sie könnte meinetwegen weiterleben ... Sie hätte gerne noch
weitergelebt; solche Menschenschikanierer, die nich mal Luft haben, die
leben immer am liebsten.«
Rollo,
der Effi begleitet hatte, hatte sich mittlerweile vor die Person
hingesetzt, die Zunge weit heraus, und sah sie an. Als sie jetzt
schwieg, erhob er sich, ging einen Schritt vor und legte seinen Kopf auf
ihre Knie.
Mit
einem Male war die Person wie verwandelt. »Gott, das bedeutet mir was.
Das is ja 'ne Kreatur, die mich leiden kann, die mich freundlich ansieht
und ihren Kopf auf meine Knie legt. Gott, das ist lange her, daß ich so
was gehabt habe. Nu, mein Alterchen, wie heißt du denn? Du bist ja ein
Prachtkerl.« – »Rollo«, sagte Effi.
»Rollo;
das ist sonderbar. Aber der Name tut nichts. Ich habe auch einen
sonderbaren Namen, das heißt Vornamen. Und einen andern hat unsereins ja
nicht.«
»Wie
heißen Sie denn?« – »Ich heiße Roswitha.«
Ja, das
ist selten, das ist ja ...«
»Ja,
ganz recht, gnädige Frau, das ist ein kattolscher Name. Und das kommt
auch noch dazu, daß ich eine Kattolsche bin.
Aus'n
Eichsfeld. Und das Kattolsche, das macht es einem immer noch schwerer
und saurer. Viele wollen keine Kattolsche, weil sie so viel in die
Kirche rennen. 'Immer in die Beichte; und die Hauptsache sagen sie doch
nich' – Gott, wie oft hab ich das hören müssen, erst als ich in
Giebichenstein im Dienst war und dann in Berlin. Ich bin aber eine
schlechte Katholikin und bin ganz davon abgekommen, und vielleicht geht
es mir deshalb so schlecht; ja, man darf nich von seinem Glauben lassen
und muß alles ordentlich mitmachen.«
»Roswitha«, wiederholte Effi den Namen und setzte sich zu ihr auf die
Bank. »Was haben Sie nun vor?«
»Ach,
gnäd'ge Frau, was soll ich vorhaben. Ich habe gar nichts vor. Wahr und
wahrhaftig, ich möchte hier sitzen bleiben und warten, bis ich tot
umfalle. Das wäre mir das liebste. Und dann würden die Leute noch
denken, ich hätte die Alte so geliebt wie ein treuer Hund und hätte von
ihrem Grab nicht weggewollt und wäre da gestorben. Aber das ist falsch,
für solche Alte stirbt man nicht; ich will bloß sterben, weil ich nicht
leben kann.«
»Ich
will Sie was fragen, Roswitha. Sind Sie, was man so 'kinderlieb' nennt?
Waren Sie schon mal bei kleinen Kindern ?«
»Gewiß
war ich. Das ist ja mein Bestes und Schönstes. Solche alte Berlinsche –
Gott verzeih mir die Sünde, denn sie ist nun tot und steht vor Gottes
Thron und kann mich da verklagen –, solche Alte, wie die da, ja, das ist
schrecklich, was man da alles tun muß, und steht einem hier vor Brust
und Magen, aber solch kleines, liebes Ding, solch Dingelchen wie ne
Puppe, das einen mit seinen Guckäugelchen ansieht, ja, das ist was, da
geht einem das Herz auf. Als ich in Halle war, da war ich Amme bei der
Frau Salzdirektorin, und in Giebichenstein, wo ich nachher hinkam, da
hab ich Zwillinge mit der Flasche großgezogen; ja, gnäd'ge Frau, das
versteh ich, da drin bin ich wie zu Hause.«
»Nun,
wissen Sie was, Roswitha, Sie sind eine gute, treue Person, das seh ich
Ihnen an, ein bißchen gradezu, aber das schadet nichts, das sind
mitunter die Besten, und ich habe gleich ein Zutrauen zu Ihnen gefaßt.
Wollen Sie mit zu mir kommen? Mir ist, als hätte Gott Sie mir geschickt.
Ich erwarte nun bald ein Kleines, Gott gebe mir seine Hilfe dazu, und
wenn das Kind da ist, dann muß es gepflegt und abgewartet werden und
vielleicht auch gepäppelt. Man kann das ja nicht wissen, wiewohl ich es
anders wünsche. Was meinen Sie, wollen Sie mit zu mir kommen? Ich kann
mir nicht denken, daß ich mich in Ihnen irre.«
Roswitha war aufgesprungen und hatte die Hand der jungen Frau ergriffen
und küßte sie mit Ungestüm. »Ach, es ist doch ein Gott im Himmel, und
wenn die Not am größten ist, ist die Hilfe am nächsten. Sie sollen sehn,
gnäd'ge Frau, es geht; ich bin eine ordentliche Person und habe gute
Zeugnisse. Das können Sie sehn, wenn ich Ihnen mein Buch bringe. Gleich
den ersten Tag, als ich die gnäd'ge Frau sah, da dacht ich: 'Ja, wenn du
mal solchen Dienst hättest.' Und nun soll ich ihn haben. O du lieber
Gott, o du heil'ge Jungfrau Maria, wer mir das gesagt hätte, wie wir die
Alte hier unter der Erde hatten und die Verwandten machten, daß sie
wieder fortkamen, und mich hier sitzenließen.«
»Ja,
unverhofft kommt oft, Roswitha, und mitunter auch im Guten. Und nun
wollen wir gehen. Rollo wird schon ungeduldig und läuft immer auf das
Tor zu.«
Roswitha war gleich bereit, trat aber noch einmal an das Grab, brummelte
was vor sich hin und machte ein Kreuz. Und dann gingen sie den
schattigen Gang hinunter und wieder auf das Kirchhofstor zu.
Drüben
lag die eingegitterte Stelle, deren weißer Stein in der Nachmittagssonne
blinkte und blitzte. Effi konnte jetzt ruhiger hinsehen. Eine Weile noch
führte der Weg zwischen Dünen hin, bis sie, dicht vor Utpatels Mühle,
den Außenrand des Wäldchens erreichte. Da bog sie links ein, und unter
Benutzung einer schräglaufenden Allee, die die »Reeperbahn« hieß, ging
sie mit Roswitha auf die landrätliche Wohnung zu.
Vierzehntes Kapitel
Keine
Viertelstunde, so war die Wohnung erreicht. Als beide hier in den kühlen
Flur traten, war Roswitha beim Anblick all des Sonderbaren, das da
herumhing, wie befangen; Effi aber ließ sie nicht zu weiteren
Betrachtungen kommen und sagte: »Roswitha, nun gehen Sie da hinein. Das
ist das Zimmer, wo wir schlafen. Ich will erst zu meinem Mann nach dem
Landratsamt hinüber – das große Haus da neben dem kleinen, in dem Sie
gewohnt haben – und will ihm sagen, daß ich Sie zur Pflege haben möchte
bei dem Kinde. Er wird wohl mit allem einverstanden sein, aber ich muß
doch erst seine Zustimmung haben. Und wenn ich die habe, dann müssen wir
ihn ausquartieren, und Sie schlafen mit mir in dem Alkoven. Ich denke,
wir werden uns schon vertragen.«
Innstetten, als er erfuhr, um was sich's handle, sagte rasch und in
guter Laune: »Das hast du recht gemacht, Effi, und wenn ihr Gesindebuch
nicht zu schlimme Sachen sagt, so nehmen wir sie auf ihr gutes Gesicht
hin. Es ist doch, Gott sei Dank, selten, daß einen das täuscht.«
Effi
war sehr glücklich, so wenig Schwierigkeiten zu begegnen, und sagte:
»Nun wird es gehen. Ich fürchte mich jetzt nicht mehr.«
»Um
was, Effi?«
»Ach,
du weißt ja ... Aber Einbildungen sind das schlimmste, mitunter
schlimmer als alles.«
Roswitha zog in selbiger Stunde noch mit ihren paar Habseligkeiten in
das landrätliche Haus hinüber und richtete sich in dem kleinen Alkoven
ein. Als der Tag um war, ging sie früh zu Bett und schlief, ermüdet wie
sie war, gleich ein. Am andern Morgen erkundigte sich Effi – die seit
einiger Zeit (denn es war gerade Vollmond) wieder in Ängsten lebte –,
wie Roswitha geschlafen und ob sie nichts gehört habe.
»Was?«
fragte diese.
»Oh,
nichts. Ich meine nur so; so was, wie wenn ein Besen fegt oder wie wenn
einer über die Diele schlittert.«
Roswitha lachte, was auf ihre junge Herrin einen besonders guten
Eindruck machte. Effi war fest protestantisch erzogen und würde sehr
erschrocken gewesen sein, wenn man an und in ihr was Katholisches
entdeckt hätte; trotzdem glaubte sie, daß der Katholizismus uns gegen
solche Dinge »wie da oben« besser schütze; ja, diese Betrachtung hatte
bei dem Plan, Roswitha ins Haus zu nehmen, ganz erheblich mitgewirkt.
Man
lebte sich schnell ein, denn Effi hatte ganz den liebenswürdigen Zug der
meisten märkischen Landfräulein, sich gern allerlei kleine Geschichten
erzählen zu lassen, und die verstorbene Frau Registratorin und ihr Geiz
und ihre Neffen und ihre Frauen boten einen unerschöpflichen Stoff. Auch
Johanna hörte dabei gerne zu.
Diese,
wenn Effi bei den drastischen Stellen oft laut lachte, lächelte freilich
und verwunderte sich im stillen, daß die gnädige Frau an all dem dummen
Zeug soviel Gefallen finde; diese Verwunderung aber, die mit einem
starken Überlegenheitsgefühl Hand in Hand ging, war doch auch wieder ein
Glück und sorgte dafür, daß keine Rangstreitigkeiten aufkommen konnten.
Roswitha war einfach die komische Figur, und Neid gegen sie zu hegen
wäre für Johanna nichts anderes gewesen, wie wenn sie Rollo um seine
Freundschaftsstellung beneidet hätte.
So
verging eine Woche, plauderhaft und beinahe gemütlich, weil Effi dem,
was ihr persönlich bevorstand, ungeängstigter als früher entgegensah.
Auch glaubte sie nicht, daß es so nahe sei. Den neunten Tag aber war es
mit dem Plaudern und den Gemütlichkeiten vorbei; da gab es ein Laufen
und Rennen, Innstetten selbst kam ganz aus seiner gewohnten Reserve
heraus, und am Morgen des 3. Juli stand neben Effis Bett eine Wiege.
Doktor Hannemann patschelte der jungen Frau die Hand und sagte: »Wir
haben heute den Tag von Königgrätz; schade, daß es ein Mädchen ist. Aber
das andere kann ja nachkommen, und die Preußen haben viele Siegestage.«
Roswitha mochte wohl Ähnliches denken, freute sich indessen vorläufig
ganz uneingeschränkt über das, was da war, und nannte das Kind ohne
weiteres »Lütt-Annie«, was der jungen Mutter als ein Zeichen galt. Es
müsse doch wohl eine Eingebung gewesen sein, daß Roswitha gerade auf
diesen Namen gekommen sei. Selbst Innstetten wußte nichts dagegen zu
sagen, und so wurde von Klein Annie gesprochen, lange bevor der Tauftag
da war. Effi, die von Mitte August an bei den Eltern in Hohen-Cremmen
sein wollte, hätte die Taufe gern bis dahin verschoben. Aber es ließ
sich nichts tun; Innstetten konnte nicht Urlaub nehmen, und so wurde
denn der 15. August, trotzdem es der Napoleonstag war (was denn auch von
seiten einiger Familien beanstandet wurde), für diesen Taufakt
festgesetzt, natürlich in der Kirche. Das sich anschließende Festmahl,
weil das landrätliche Haus keinen Saal hatte, fand in dem großen
Ressourcen-Hotel am Bollwerk statt, und der gesamte Nachbaradel war
geladen und auch erschienen. Pastor Lindequist ließ Mutter und Kind in
einem liebenswürdigen und allseitig bewunderten Toaste leben, bei
welcher Gelegenheit Sidonie von Grasenabb zu ihrem Nachbar, einem
adligen Assessor von der strengen Richtung, bemerkte: »Ja, seine
Kasualreden, das geht. Aber seine Predigten kann er vor Gott und
Menschen nicht verantworten; er ist ein Halber, einer von denen, die
verworfen sind, weil sie lau sind. Ich mag das Bibelwort hier nicht
wörtlich zitieren.« Gleich danach nahm auch der alte Herr von Borcke das
Wort, um Innstetten leben zu lassen. »Meine Herrschaften, es sind
schwere Zeiten, in denen wir leben, Auflehnung, Trotz, Indisziplin wohin
wir blicken. Aber solange wir noch Männer haben, und ich darf
hinzusetzen, Frauen und Mütter (und hier verbeugte er sich mit einer
eleganten Handbewegung gegen Effi) ... solange wir noch Männer haben wie
Baron Innstetten, den ich stolz bin, meinen Freund nennen zu dürfen, so
lange geht es noch, so lange hält unser altes Preußen noch. Ja, meine
Freunde, Pommern und Brandenburg, damit zwingen wir's und zertreten dem
Drachen der Revolution das giftige Haupt. Fest und treu, so siegen wir.
Die Katholiken, unsere Brüder, die wir, auch wenn wir sie bekämpfen,
achten müssen, haben den 'Felsen Petri', wir aber haben den 'Rocher de
bronce'. Baron Innstetten, er lebe hoch!« Innstetten dankte ganz kurz.
Effi sagte zu dem neben ihr sitzenden Major von Crampas, das mit dem
»Felsen Petri« sei wahrscheinlich eine Huldigung gegen Roswitha gewesen;
sie werde nachher an den alten Justizrat Gadebusch herantreten und ihn
fragen, ob er nicht Ihrer Meinung sei. Crampas nahm diese Bemerkung
unerklärlicherweise für Ernst und riet von einer Anfrage bei dem
Justizrat ab, was Effi ungemein erheiterte. »Ich habe Sie doch für einen
besseren Seelenleser gehalten.«
Ach,
meine Gnädigste, bei schönen jungen Frauen, die noch nicht achtzehn
sind, scheitert alle Lesekunst.«
»Sie
verderben sich vollends, Major. Sie können mich eine Großmutter nennen,
aber Anspielungen darauf, daß ich noch nicht achtzehn bin, das kann
Ihnen nie verziehen werden.«
Als man
von Tisch aufgestanden war, kam der Spätnachmittagsdampfer die Kessine
herunter und legte an der Landungsbrücke, gegenüber dem Hotel, an. Effi
saß mit Crampas und Gieshübler beim Kaffee, alle Fenster auf, und sah
dem Schauspiel drüben zu. »Morgen früh um neun führt mich dasselbe
Schiff den Fluß hinauf, und zu Mittag bin ich in Berlin, und am Abend
bin ich in Hohen-Cremmen, und Roswitha geht neben mir und hält das Kind
auf dem Arm. Hoffentlich schreit es nicht. Ach, wie mir schon heute
zumute ist! Lieber Gieshübler, sind Sie auch mal so froh gewesen, Ihr
elterliches Haus wiederzusehen?«
»Ja,
ich kenne das auch, gnädigste Frau. Nur bloß, ich brachte kein Anniechen
mit, weil ich keins hatte.«
»Kommt
noch«, sagte Crampas. »Stoßen Sie an, Gieshübler; Sie sind der einzige
vernünftige Mensch hier.«
»Aber,
Herr Major, wir haben ja bloß noch den Kognak.«
»Desto
besser.«
Fünfzehntes Kapitel
Mitte
August war Effi abgereist, Ende September war sie wieder in Kessin.
Manchmal in den zwischenliegenden sechs Wochen hatte sie's
zurückverlangt; als sie aber wieder da war und in den dunklen Flur
eintrat, auf den nur von der Treppenstiege her ein etwas fahles Licht
fiel, wurde ihr mit einemmal wieder bang, und sie sagte leise: »Solch
fahles, gelbes Licht gibt es in Hohen-Cremmen gar nicht.«
Ja, ein
paarmal während ihrer Hohen-Cremmer Tage hatte sie Sehnsucht nach dem
»verwunschenen Hause« gehabt, alles in allem aber war ihr doch das Leben
daheim voller Glück und Zufriedenheit gewesen. Mit Hulda freilich, die's
nicht verwinden konnte, noch immer auf Mann oder Bräutigam warten zu
müssen, hatte sie sich nicht recht stellen können, desto besser dagegen
mit den Zwillingen, und mehr als einmal, wenn sie mit ihnen Ball oder
Krocket gespielt hatte, war ihr's ganz aus dem Sinn gekommen, überhaupt
verheiratet zu sein. Das waren dann glückliche Viertelstunden gewesen.
Am liebsten aber hatte sie wie früher auf dem durch die Luft fliegenden
Schaukelbrett gestanden und in dem Gefühl »jetzt stürz ich« etwas
eigentümlich Prickelndes, einen Schauer süßer Gefahr empfunden. Sprang
sie dann schließlich von der Schaukel ab, so begleitete sie die beiden
Mädchen bis an die Bank vor dem Schulhause und erzählte, wenn sie
dasaßen, dem alsbald hinzukommenden Jahnke von ihrem Leben in Kessin,
das halb hanseatisch und halb skandinavisch und jedenfalls sehr anders
als in Schwantikow und Hohen-Cremmen sei.
Das
waren so die täglichen kleinen Zerstreuungen, an die sich gelegentlich
auch Fahrten in das sommerliche Luch schlossen, meist im Jagdwagen;
allem voran aber standen für Effi doch die Plaudereien, die sie beinahe
jeden Morgen mit der Mama hatte. Sie saßen dann oben in der luftigen
großen Stube, Roswitha wiegte das Kind und sang in einem thüringischen
Platt allerlei Wiegenlieder, die niemand recht verstand, vielleicht sie
selber nicht; Effi und Frau von Briest aber rückten ans offene Fenster
und sahen, während sie sprachen, auf den Park hinunter, auf die
Sonnenuhr oder auf die Libellen, die beinahe regungslos über dem Tisch
standen, oder auch auf den Fliesengang, wo Herr von Briest neben dem
Treppenvorbau saß und die Zeitungen las. Immer wenn er umschlug, nahm er
zuvor den Kneifer ab und grüßte zu Frau und Tochter hinauf. Kam dann das
letzte Blatt an die Reihe, das in der Regel der »Anzeiger fürs
Havelland« war, so ging Effi hinunter, um sich entweder zu ihm zu setzen
oder um mit ihm durch Garten und Park zu schlendern. Einmal bei solcher
Gelegenheit traten sie, von dem Kiesweg her, an ein kleines, zur Seite
stehendes Denkmal heran, das schon Briests Großvater zur Erinnerung an
die Schlacht von Waterloo hatte aufrichten lassen, eine verrostete
Pyramide mit einem gegossenen Blücher in Front und einem dito Wellington
auf der Rückseite.
»Hast
du nun solche Spaziergänge auch in Kessin«, sagte Briest, »und begleitet
dich Innstetten auch und erzählt dir allerlei ?«
»Nein,
Papa, solche Spaziergänge habe ich nicht. Das ist ausgeschlossen denn
wir haben bloß einen kleinen Garten hinter dem Haus, der eigentlich kaum
ein Garten ist, bloß ein paar Buchsbaumrabatten und Gemüsebeete mit
drei, vier Obstbäumen drin. Innstetten hat keinen Sinn dafür und denkt
wohl auch nicht sehr lange mehr in Kessin zu bleiben.«
»Aber
Kind, du mußt doch Bewegung haben und frische Luft, daran bist du doch
gewöhnt.«
»Hab
ich auch. Unser Haus liegt an einem Wäldchen, das sie die Plantage
nennen. Und da geh ich denn viel spazieren und Rollo mit mir.«
»Immer
Rollo«, lachte Briest. »Wenn man's nicht anders wüßte, so sollte man
beinah glauben, Rollo sei dir mehr ans Herz gewachsen als Mann und
Kind.«
»Ach,
Papa, das wäre ja schrecklich, wenn's auch freilich – soviel muß ich
zugeben – eine Zeit gegeben hat, wo's ohne Rollo gar nicht gegangen
wäre. Das war damals ... nun, du weißt schon ... Da hat er mich so gut
wie gerettet, oder ich habe mir's wenigstens eingebildet, und seitdem
ist er mein guter Freund und mein ganz besonderer Verlaß. Aber er ist
doch bloß ein Hund. Und erst kommen doch natürlich die Menschen.«
»Ja,
das sagt man immer, aber ich habe da doch so meine Zweifel. Das mit der
Kreatur, damit hat's doch seine eigene Bewandtnis, und was da das
Richtige ist, darüber sind die Akten noch nicht geschlossen. Glaube mir,
Effi, das ist auch ein weites Feld. Wenn ich mir so denke, da
verunglückt einer auf dem Wasser oder gar auf dem schülbrigen Eis, und
solch ein Hund, sagen wir, so einer wie dein Rollo, ist dabei, ja, der
ruht nicht eher, als bis er den Verunglückten wieder an Land hat. Und
wenn der Verunglückte schon tot ist, dann legt er sich neben den Toten
hin und blafft und winselt so lange, bis wer kommt, und wenn keiner
kommt, dann bleibt er bei dem Toten liegen, bis er selber tot ist. Und
das tut solch Tier immer. Und nun nimm dagegen die Menschheit! Gott,
vergib mir die Sünde, aber mitunter ist mir's doch, als ob die Kreatur
besser wäre als der Mensch.«
»Aber,
Papa, wenn ich das Innstetten wiedererzählte ...«
»Nein,
das tu lieber nicht, Effi ...«
»Rollo
würde mich ja natürlich retten, aber Innstetten würde mich auch retten.
Er ist ja ein Mann von Ehre.«
»Das
ist er.«
»Und
liebt mich.«
»Versteht sich, versteht sich. Und wo Liebe ist, da ist auch Gegenliebe.
Das ist nun mal so. Mich wundert nur, daß er nicht mal Urlaub genommen
hat und rübergeflitzt ist. Wenn man eine so junge Frau hat ...«
Effi
errötete, weil sie geradeso dachte. Sie mochte es aber nicht einräumen.
»Innstetten ist so gewissenhaft und will, glaub ich, gut angeschrieben
sein und hat so seine Pläne für die Zukunft; Kessin ist doch bloß eine
Station. Und dann am Ende, ich lauf ihm ja nicht fort. Er hat mich ja.
Wenn man zu zärtlich ist ... und dazu der Unterschied der Jahre ... da
lächeln die Leute bloß.«
»Ja,
das tun sie, Effi. Aber darauf muß man's ankommen lassen. Übrigens sage
nichts darüber, auch nicht zu Mama. Es ist so schwer, was man tun und
lassen soll. Das ist auch ein weites Feld.«
Gespräche wie diese waren während Effis Besuch im elterlichen Hause mehr
als einmal geführt worden, hatten aber glücklicherweise nicht lange
nachgewirkt, und ebenso war auch der etwas melancholische Eindruck rasch
verflogen, den das erste Wiederbetreten ihres Kessiner Hauses auf Effi
gemacht hatte. Innstetten zeigte sich voll kleiner Aufmerksamkeiten, und
als der Tee genommen und alle Stadt- und Liebesgeschichten in heiterster
Stimmung durchgesprochen waren, hängte sich Effi zärtlich an seinen Arm,
um drüben ihre Plaudereien mit ihm fortzusetzen und noch einige
Anekdoten von der Trippelli zu hören, die neuerdings wieder mit
Gieshübler in einer lebhaften Korrespondenz gestanden hatte, was immer
gleichbedeutend mit einer neuen Belastung ihres nie ausgeglichenen
Kontos war. Effi war bei diesem Gespräch sehr ausgelassen, fühlte sich
ganz als junge Frau und war froh, die nach der Gesindestube hin
ausquartierte Roswitha auf unbestimmte Zeit los zu sein.
Am
anderen Morgen sagte sie: »Das Wetter ist schön und mild, und ich hoffe,
die Veranda nach der Plantage hinaus ist noch in gutem Stande, und wir
können uns ins Freie setzen und da das Frühstück nehmen. In unsere
Zimmer kommen wir ohnehin noch früh genug, und der Kessiner Winter ist
wirklich um vier Wochen zu lang.«
Innstetten war sehr einverstanden. Die Veranda, von der Effi gesprochen
und die vielleicht richtiger ein Zelt genannt worden wäre, war schon im
Sommer hergerichtet worden, drei, vier Wochen vor Effis Abreise nach
Hohen-Cremmen, und bestand aus einem großen, gedielten Podium, vorn
offen, mit einer mächtigen Markise zu Häupten, während links und rechts
breite Leinwandvorhänge waren, die sich mit Hilfe von Ringen an einer
Eisenstange hin und her schieben ließen. Es war ein reizender Platz, den
ganzen Sommer über von allen Badegästen, die hier vorüber mußten,
bewundert.
Effi
hatte sich in einen Schaukelstuhl gelehnt und sagte, während sie das
Kaffeebrett von der Seite her ihrem Manne zuschob: »Geert, du könntest
heute den liebenswürdigen Wirt machen; ich für mein Teil find es so
schön in diesem Schaukelstuhl, daß ich nicht aufstehen mag. Also strenge
dich an, und wenn du dich recht freust, mich wieder hier zu haben, so
werd ich mich auch zu revanchieren wissen.« Und dabei zupfte sie die
weiße Damastdecke zurecht und legte ihre Hand darauf, die Innstetten
nahm und küßte.
»Wie
bist du nur eigentlich ohne mich fertig geworden?«
»Schlecht genug, Effi.«
»Das
sagst du so hin und machst ein betrübtes Gesicht, und ist doch
eigentlich alles nicht wahr.«
»Aber
Effi ...
»Was
ich dir beweisen will. Denn wenn du ein bißchen Sehnsucht nach deinem
Kinde gehabt hättest – von mir selber will ich nicht sprechen, was ist
man am Ende solchem hohen Herrn, der so lange Jahre Junggeselle war und
es nicht eilig hatte ...«
»Nun?«
»Ja,
Geert, wenn du nur ein bißchen Sehnsucht gehabt hättest, so hättest du
mich nicht sechs Wochen mutterwindallein in Hohen-Cremmen sitzen lassen
wie eine Witwe, und nichts da als Niemeyer und Jahnke und mal die
Schwantikower. Und von den Rathenowern ist niemand gekommen, als ob sie
sich vor mir gefürchtet hätten oder als ob ich zu alt geworden sei.«
»Ach,
Effi, wie du nur sprichst. Weißt du, daß du eine kleine Kokette bist?«
»Gott
sei Dank, daß du das sagst. Das ist für euch das Beste, was man sein
kann. Und du bist nichts anderes als die anderen, wenn du auch so
feierlich und ehrsam tust. Ich weiß es recht gut, Geert ... Eigentlich
bist du ...«
»Nun,
was?«
»Nun,
ich will es lieber nicht sagen. Aber ich kenne dich recht gut; du bist
eigentlich, wie der Schwantikower Onkel mal sagte, ein
Zärtlichkeitsmensch und unterm Liebesstern geboren, und Onkel Belling
hatte ganz recht, als er das sagte. Du willst es bloß nicht zeigen und
denkst, es schickt sich nicht und verdirbt einem die Karriere. Hab ich's
getroffen?«
Innstetten lachte. »Ein bißchen getroffen hast du's. Weißt du was, Effi,
du kommst mir ganz anders vor. Bis Anniechen da war, warst du ein Kind.
Aber mit einemmal ...«
»Nun?«
»Mit
einemmal bist du wie vertauscht. Aber es steht dir, du gefällst mir
sehr, Effi. Weißt du was?«
»Nun?«
»Du
hast was Verführerisches.«
»Ach,
mein einziger Geert, das ist ja herrlich, was du da sagst; nun wird mir
erst recht wohl ums Herz ... Gib mir noch eine halbe Tasse ... Weißt du
denn, daß ich mir das immer gewünscht habe? Wir müssen verführerisch
sein, sonst sind wir gar nichts ...«
»Hast
du das aus dir?«
»Ich
könnt es wohl auch aus mir haben. Aber ich hab es von Niemeyer ...«
»Von
Niemeyer! O du himmlischer Vater, ist das ein Pastor. Nein, solche gibt
es hier nicht. Aber wie kam denn der dazu? Das ist ja, als ob es
irgendein Don Juan oder Herzensbrecher gesprochen hätte.«
»Ja,
wer weiß«, lachte Effi ... »Aber kommt da nicht Crampas? Und vom Strand
her. Er wird doch nicht gebadet haben? Am 27. September ...«
»Er
macht öfter solche Sachen. Reine Renommisterei.«
Derweilen war Crampas bis in nächste Nähe gekommen und grüßte.
»Guten
Morgen«, rief Innstetten ihm zu. »Nur näher, nur näher. «
Crampas
trat heran. Er war in Zivil und küßte der in ihrem Schaukelstuhl sich
weiter wiegenden Effi die Hand. »Entschuldigen Sie mich, Major, daß ich
so schlecht die Honneurs des Hauses mache; aber die Veranda ist kein
Haus, und zehn Uhr früh ist eigentlich gar keine Zeit. Da wird man
formlos oder, wenn Sie wollen, intim. Und nun setzen Sie sich, und geben
Sie Rechenschaft von Ihrem Tun. Denn an Ihrem Haar (ich wünschte Ihnen,
daß es mehr wäre) sieht man deutlich, daß Sie gebadet haben.«
Er
nickte.
»Unverantwortlich«, sagte Innstetten, halb ernst-, halb scherzhaft. »Da
haben Sie nun selber vor vier Wochen die Geschichte mit dem Bankier
Heinersdorf erlebt, der auch dachte, das Meer und der grandiose
Wellenschlag würden ihn um seiner Million willen respektieren. Aber die
Götter sind eifersüchtig untereinander, und Neptun stellte sich ohne
weiteres gegen Pluto oder doch wenigstens gegen Heinersdorf. «
Crampas
lachte.
»Ja,
eine Million Mark! Lieber Innstetten, wenn ich die hätte, da hätt ich es
am Ende nicht gewagt; denn so schön das Wetter ist, das Wasser hatte nur
neun Grad. Aber unsereins mit seiner Million Unterbilanz, gestatten Sie
mir diese kleine Renommage, unsereins kann sich so was ohne Furcht vor
der Götter Eifersucht erlauben. Und dann muß einen das Sprichwort
trösten: 'Wer für den Strick geboren ist, kann im Wasser nicht
umkommen.'«
»Aber,
Major, Sie werden sich doch nicht etwas so Urprosaisches, ich möchte
beinah sagen, an den Hals reden wollen. Allerdings glauben manche, daß
... ich meine das, wovon Sie eben gesprochen haben ... daß ihn jeder
mehr oder weniger verdiene. Trotzdem, Major ... für einen Major ...«
»Ist es
keine herkömmliche Todesart. Zugegeben, meine Gnädigste. Nicht
herkömmlich und in meinem Fall auch nicht einmal sehr wahrscheinlich –
also alles bloß Zitat oder noch richtiger façon de parler. Und doch
steckt etwas Aufrichtiggemeintes dahinter, wenn ich da eben sagte, die
See werde mir nichts anhaben. Es steht mir nämlich fest, daß ich einen
richtigen und hoffentlich ehrlichen Soldatentod sterben werde. Zunächst
bloß Zigeunerprophezeiung, aber mit Resonanz im eigenen Gewissen.«
Innstetten lachte. »Das wird seine Schwierigkeiten haben, Crampas, wenn
Sie nicht vorhaben, beim Großtürken oder unterm chinesischen Drachen
Dienst zu nehmen. Da schlägt man sich jetzt herum. Hier ist die
Geschichte, glauben Sie mir, auf dreißig Jahre vorbei, und wer seinen
Soldatentod sterben will ...«
»Der
muß sich erst bei Bismarck einen Krieg bestellen. Weiß ich alles,
Innstetten. Aber das ist doch für Sie eine Kleinigkeit. Jetzt haben wir
Ende September; in zehn Wochen spätestens ist der Fürst wieder in
Varzin, und da er ein liking für Sie hat – mit der volkstümlicheren
Wendung will ich zurückhalten, um nicht direkt vor Ihren Pistolenlauf zu
kommen –, so werden Sie einem alten Kameraden von Vionville her doch
wohl ein bißchen Krieg besorgen können. Der Fürst ist auch nur ein
Mensch, und Zureden hilft.«
Effi
hatte während dieses Gesprächs einige Brotkügelchen gedreht, würfelte
damit und legte sie zu Figuren zusammen, um so anzuzeigen, daß ihr ein
Wechsel des Themas wünschenswert wäre. Trotzdem schien Innstetten auf
Crampas scherzhafte Bemerkungen antworten zu wollen, was denn Effi
bestimmte, lieber direkt einzugreifen. »Ich sehe nicht ein, Major, warum
wir uns mit Ihrer Todesart beschäftigen sollen; das Leben ist uns näher
und zunächst auch eine viel ernstere Sache.«
Crampas
nickte.
»Das
ist recht, daß Sie mir recht geben. Wie soll man hier leben? Das ist
vorläufig die Frage, das ist wichtiger als alles andere. Gieshübler hat
mir darüber geschrieben, und wenn es nicht indiskret und eitel wäre,
denn es steht noch allerlei nebenher darin, so zeigte ich Ihnen den
Brief ... Innstetten braucht ihn nicht zu lesen, der hat keinen Sinn für
dergleichen ... beiläufig eine Handschrift wie gestochen und
Ausdrucksformen, als wäre unser Freund statt am Kessiner Alten Markt an
einem altfranzösischen Hofe erzogen worden. Und daß er verwachsen ist
und weiße Jabots trägt wie kein anderer Mensch mehr – ich weiß nur
nicht, wo er die Plätterin hernimmt –, das paßt alles so vorzüglich.
Nun, also Gieshübler hat mir von Plänen für die Ressourcenabende
geschrieben und von einem Entrepreneur namens Crampas. Sehen Sie, Major,
das gefällt mir besser als der Soldatentod oder gar der andere.«
»Mir
persönlich nicht minder. Und es muß ein Prachtwinter werden, wenn wir
uns der Unterstützung der gnädigen Frau versichert halten dürften. Die
Trippelli kommt.«
»Die
Trippelli? Dann bin ich überflüssig.«
»Mitnichten, gnädigste Frau. Die Trippelli kann nicht von Sonntag bis
wieder Sonntag singen, es wäre zuviel für sie und für uns; Abwechslung
ist des Lebens Reiz, eine Wahrheit, die freilich jede glückliche Ehe zu
widerlegen scheint.«
»Wenn
es glückliche Ehen gibt, die meinige ausgenommen ...«, und sie reichte
Innstetten die Hand.
»Abwechslung also«, fuhr Crampas fort. »Und diese für uns und unsere
Ressource zu gewinnen, deren Vizevorstand zu sein ich zur Zeit die Ehre
habe, dazu braucht es aller bewährten Kräfte. Wenn wir uns zusammentun,
so müssen wir das ganze Nest auf den Kopf stellen. Die Theaterstücke
sind schon ausgesucht: 'Krieg im Frieden', 'Monsieur Herkules',
'Jugendliebe' von Wildbrandt, vielleicht auch 'Euphrosyne' von Gensichen.
Sie die Euphrosyne, ich der alte Goethe. Sie sollen staunen, wie gut ich
den Dichterfürsten tragiere ... wenn 'tragieren' das richtige Wort ist.«
»Kein
Zweifel. Hab ich doch inzwischen aus dem Brief meines alchimistischen
Geheimkorrespondenten erfahren, daß Sie neben vielem anderen
gelegentlich auch Dichter sind. Anfangs habe ich mich gewundert. ...«
»Denn
Sie haben es mir nicht angesehen.«
»Nein.
Aber seit ich weiß, daß Sie bei neun Grad baden, bin ich anderen Sinnes
geworden ... neun Grad Ostsee, das geht über den kastalischen Quell ...«
»Dessen
Temperatur unbekannt ist.«
»Nicht
für mich; wenigstens wird mich niemand widerlegen. Aber nun muß ich
aufstehen. Da kommt ja Roswitha mit Lütt-Annie.«
Und sie
erhob sich rasch und ging auf Roswitha zu, nahm ihr das Kind aus dem Arm
und hielt es stolz und glücklich in die Höhe.
Sechzehntes Kapitel
Die
Tage waren schön und blieben es bis in den Oktober hinein. Eine Folge
davon war, daß die halbzeltartige Veranda draußen zu ihrem Recht kam, so
sehr, daß sich wenigstens die Vormittagsstunden regelmäßig darin
abspielten. Gegen elf kam dann wohl der Major, um sich zunächst nach dem
Befinden der gnädigen Frau zu erkundigen und mit ihr ein wenig zu
medisieren, was er wundervoll verstand, danach aber mit Innstetten einen
Ausritt zu verabreden, oft landeinwärts, die Kessine hinauf bis an den
Breitling, noch häufiger auf die Molen zu. Effi, wenn die Herren fort
waren, spielte mit dem Kind oder durchblätterte die von Gieshübler nach
wie vor ihr zugeschickten Zeitungen und Journale, schrieb auch wohl
einen Brief an die Mama oder sagte: »Roswitha, wir wollen mit Annie
spazierenfahren«, und dann spannte sich Roswitha vor den Korbwagen und
fuhr, während Effi hinterherging, ein paar hundert Schritt in das
Wäldchen hinein, auf eine Stelle zu, wo Kastanien ausgestreut lagen, die
man nun auflas, um sie dem Kind als Spielzeug zu geben. In die Stadt kam
Effi wenig; es war niemand recht da, mit dem sie hätte plaudern können,
nachdem ein Versuch, mit der Frau von Crampas auf einen Umgangsfuß zu
kommen, aufs neue gescheitert war. Die Majorin war und blieb
menschenscheu.
Das
ging so wochenlang, bis Effi plötzlich den Wunsch äußerte, mit ausreiten
zu dürfen; sie habe nun mal die Passion, und es sei doch zuviel
verlangt, bloß um des Geredes der Kessiner willen auf etwas zu
verzichten, das einem so viel wert sei. Der Major fand die Sache
kapital, und Innstetten, dem es augenscheinlich weniger paßte so wenig,
daß er immer wieder hervorhob, es werde sich kein Damenpferd finden
lassen –, Innstetten mußte nachgeben, als Crampas versicherte, das solle
seine Sorge sein. Und richtig, was man wünschte, fand sich auch, und
Effi war selig, am Strand hinjagen zu können, jetzt wo »Damenbad« und
»Herrenbad« keine scheidenden Schreckensworte mehr waren. Meist war auch
Rollo mit von der Partie, und weil es sich ein paarmal ereignet hatte,
daß man am Strand zu rasten oder auch eine Strecke Wegs zu Fuß zu machen
wünschte, so kam man überein, sich von entsprechender Dienerschaft
begleiten zu lassen, zu welchem Behufe des Majors Bursche, ein alter
Treptower Ulan, der Knut hieß, und Innstettens Kutscher Kruse zu
Reitknechten umgewandelt wurden, allerdings ziemlich unvollkommen, indem
sie, zu Effis Leidwesen, in eine Phantasielivree gesteckt wurden, darin
der eigentliche Beruf beider noch nachspukte.
Mitte
Oktober war schon heran, als man, so herausstaffiert, zum erstenmal in
voller Kavalkade aufbrach, in Front Innstetten und Crampas, Effi
zwischen ihnen, dann Kruse und Knut und zuletzt Rollo, der aber bald,
weil ihm das Nachtrotten mißfiel, allen vorauf war. Als man das jetzt
öde Strandhotel passiert und bald danach, sich rechts haltend, auf dem
von einer mäßigen Brandung überschäumten Strandwege den diesseitigen
Molendamm erreicht hatte, verspürte man Lust, abzusteigen und einen
Spaziergang bis an den Kopf der Mole zu machen. Effi war die erste aus
dem Sattel. Zwischen den beiden Steindämmen floß die Kessine breit und
ruhig dem Meere zu, das wie eine sonnenbeschienene Fläche, darauf nur
hier und da eine leichte Welle kräuselte, vor ihnen lag.
Effi
war noch nie hier draußen gewesen, denn als sie vorigen November in
Kessin eintraf, war schon Sturmzeit, und als der Sommer kam, war sie
nicht mehr imstande, weite Gänge zu machen. Sie war jetzt entzückt, fand
alles groß und herrlich, erging sich in kränkenden Vergleichen zwischen
dem Luch und dem Meer und ergriff, sooft die Gelegenheit dazu sich bot,
ein Stück angeschwemmtes Holz, um es nach links hin in die See oder nach
rechts hin in die Kessine zu werfen. Rollo war immer glücklich, im
Dienste seiner Herrin sich nachstürzen zu können; mit einemmal aber
wurde seine Aufmerksamkeit nach einer ganz anderen Seite hin abgezogen,
und sich vorsichtig, ja beinahe ängstlich vorwärts schleichend, sprang
er plötzlich auf einen in Front sichtbar werdenden Gegenstand zu,
freilich vergeblich, denn im selben Augenblick glitt von einem
sonnenbeschienenen und mit grünem Tang überwachsenen Stein eine Robbe
glatt und geräuschlos in das nur etwa fünf Schritt entfernte Meer
hinunter. Eine kurze Weile noch sah man den Kopf, dann tauchte auch
dieser unter.
Alle
waren erregt, und Crampas phantasierte von Robbenjagd und daß man das
nächste Mal die Büchse mitnehmen müsse, »denn die Dinger haben ein
festes Fell«.
» Geht
nicht«, sagte Innstetten; »Hafenpolizei. «
»Wenn
ich so was höre«, lachte der Major. »Hafenpolizei! Die drei Behörden,
die wir hier haben, werden doch wohl untereinander die Augen zudrücken
können. Muß denn alles so furchtbar gesetzlich sein? Gesetzlichkeiten
sind langweilig.«
Effi
klatschte in die Hände.
»Ja,
Crampas, Sie kleidet das, und Effi, wie Sie sehen, klatscht Ihnen
Beifall. Natürlich; die Weiber schreien sofort nach einem Schutzmann,
aber von Gesetz wollen sie nichts wissen. «
»Das
ist so Frauenrecht von alter Zeit her, und wir werden's nicht ändern,
Innstetten.«
»Nein«,
lachte dieser, »und ich will es auch nicht. Auf Mohrenwäsche lasse ich
mich nicht ein. Aber einer wie Sie, Crampas, der unter der Fahne der
Disziplin großgeworden ist und recht gut weiß, daß es ohne Zucht und
Ordnung nicht geht, ein Mann wie Sie, der sollte doch eigentlich so was
nicht reden, auch nicht einmal im Spaß. Indessen, ich weiß schon, Sie
haben einen himmlischen Kehr-mich-nicht-Drang und denken, der Himmel
wird nicht gleich einstürzen. Nein, gleich nicht. Aber mal kommt es.«
Crampas
wurde einen Augenblick verlegen, weil er glaubte, das alles sei mit
einer gewissen Absicht gesprochen, was aber nicht der Fall war.
Innstetten hielt nur einen seiner kleinen moralischen Vorträge, zu denen
er überhaupt hinneigte. »Da lob ich mir Gieshübler«, sagte er
einlenkend, »immer Kavalier und dabei doch Grundsätze.«
Der
Major hatte sich mittlerweile wieder zurechtgefunden und sagte in seinem
alten Ton: »Ja, Gieshübler; der beste Kerl von der Welt und, wenn
möglich, noch bessere Grundsätze. Aber am Ende woher? Warum? Weil er
einen 'Verdruß' hat. Wer gerade gewachsen ist, ist für Leichtsinn.
Überhaupt ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen Schuß Pulver wert.«
»Nun
hören Sie, Crampas, gerade so viel kommt mitunter dabei heraus.« Und
dabei sah er auf des Majors linken, etwas gekürzten Arm. Effi hatte von
diesem Gespräch wenig gehört. Sie war dicht an die Stelle getreten, wo
die Robbe gelegen, und Rollo stand neben ihr. Dann sahen beide, von dem
Stein weg, auf das Meer und warteten, ob die »Seejungfrau« noch einmal
sichtbar werden würde.
Ende
Oktober begann die Wahlkampagne, was Innstetten hinderte, sich ferner an
den Ausflügen zu beteiligen und auch Crampas und Effi hätten jetzt um
der lieben Kessiner willen wohl verzichten müssen, wenn nicht Knut und
Kruse als eine Art Ehrengarde gewesen wären. So kam es, daß sich die
Spazierritte bis in den November hinein fortsetzten
Ein
Wetterumschlag war freilich eingetreten, ein andauern der Nordwest trieb
Wolkenmassen heran, und das Meer schäumte mächtig, aber Regen und Kälte
fehlten noch und so waren diese Ausflüge bei grauem Himmel und lärmender
Brandung fast noch schöner, als sie vorher bei Sonnenschein und stiller
See gewesen waren. Rollo jagte vorauf, dann und wann von der Gischt
überspritzt, und der Schleier von Effis Reithut flatterte im Wind. Dabei
zu sprechen war fast unmöglich; wenn man dann aber, vom Meer fort, in
die schutzgebenden Dünen oder noch besser in den weiter zurückgelegenen
Kiefernwald einlenkte, so wurd es still, Effis Schleier flatterte nicht
mehr, und die Enge des Wegs zwang die beiden Reiter dicht nebeneinander.
Das war dann die Zeit, wo man – schon um der Knorren und Wurzeln willen
im Schritt reitend – die Gespräche, die der Brandungslärm unterbrochen
hatte, wieder aufnehmen konnte. Crampas, ein guter Causeur, erzählte
dann Kriegs- und Regimentsgeschichten, auch Anekdoten und kleine
Charakterzüge von Innstetten, der mit seinem Ernst und seiner
Zugeknöpftheit in den übermütigen Kreis der Kameraden nie recht
hineingepaßt habe, so daß er eigentlich immer mehr respektiert als
geliebt worden sei.
»Das
kann ich mir denken«, sagte Effi, »ein Glück nur, daß der Respekt die
Hauptsache ist.«
»Ja, zu
seiner Zeit. Aber er paßt doch nicht immer. Und zu dem allen kam noch
eine mystische Richtung, die mitunter Anstoß gab, einmal weil Soldaten
überhaupt nicht sehr für derlei Dinge sind, und dann weil wir die
Vorstellung unterhalten, vielleicht mit Unrecht, daß er doch nicht ganz
so dazu stände, wie er's uns einreden wollte.«
»Mystische Richtung?« sagte Effi. »Ja, Major, was verstehen Sie
darunter? Er kann doch keine Konventikel abgehalten und den Propheten
gespielt haben. Auch nicht einmal den aus der Oper ... ich habe seinen
Namen vergessen.«
»Nein,
so weit ging er nicht. Aber es ist vielleicht besser, davon abzubrechen.
Ich möchte nicht hinter seinem Rücken etwas sagen, was falsch ausgelegt
werden könnte. Zudem sind es Dinge, die sich sehr gut auch in seiner
Gegenwart verhandeln lassen. Dinge, die nur, man mag wollen oder nicht,
zu was Sonderbarem aufgebauscht werden, wenn er nicht dabei ist und
nicht jeden Augenblick eingreifen und uns widerlegen oder meinetwegen
auch auslachen kann.«
»Aber
das ist ja grausam, Major. Wie können Sie meine Neugier so auf die
Folter spannen. Erst ist es was, und dann ist es wieder nichts. Und
Mystik! Ist er denn ein Geisterseher?«
»Ein
Geisterseher! Das will ich nicht gerade sagen. Aber er hatte eine
Vorliebe, uns Spukgeschichten zu erzählen. Und wenn er uns dann in große
Aufregung versetzt und manchen auch wohl geängstigt hatte, dann war es
mit einem Male wieder, als habe er sich über alle die Leichtgläubigen
bloß mokieren wollen. Und kurz und gut, einmal kam es, daß ich ihm auf
den Kopf zusagte: 'Ach was, Innstetten, das ist ja alles bloß Komödie.
Mich täuschen Sie nicht. Sie treiben Ihr Spiel mit uns. Eigentlich
glauben Sie's gradsowenig wie wir, aber Sie wollen sich interessant
machen und haben eine Vorstellung davon, daß Ungewöhnlichkeiten nach
oben hin besser empfehlen. In höheren Karrieren will man keine
Alltagsmenschen. Und da Sie so was vorhaben, so haben Sie sich was
Apartes ausgesucht und sind bei der Gelegenheit auf den Spuk gefallen.'«
Effi
sagte kein Wort, was dem Major zuletzt bedrücklich wurde. »Sie
schweigen, gnädigste Frau.«
»Ja.«
»Darf
ich fragen warum? Hab ich Anstoß gegeben? Oder finden Sie's
unritterlich, einen abwesenden Freund, ich muß das trotz aller
Verwahrungen einräumen, ein klein wenig zu hecheln? Aber da tun Sie mir
trotz alledem Unrecht. Das alles soll ganz ungeniert seine Fortsetzung
vor seinen Ohren haben, und ich will ihm dabei jedes Wort wiederholen,
was ich jetzt eben gesagt habe.«
»Glaub
es.« Und nun brach Effi ihr Schweigen und erzählte, was sie alles in
ihrem Hause erlebt und wie sonderlich sich Innstetten damals dazu
gestellt habe. »Er sagte nicht ja und nicht nein, und ich bin nicht klug
aus ihm geworden.«
»Also
ganz der alte«, lachte Crampas. »So war er damals auch schon, als wir in
Liancourt und dann später in Beauvais mit ihm in Quartier lagen. Er
wohnte da in einem alten bischöflichen Palast – beiläufig, was Sie
vielleicht interessieren wird, war es ein Bischof von Beauvais,
glücklicherweise 'Cochon' mit Namen, der die Jungfrau von Orleans zum
Feuertod verurteilte –, und da verging denn kein Tag, das heißt keine
Nacht, wo Innstetten nicht Unglaubliches erlebt hatte. Freilich immer
nur so halb. Es konnte auch nichts sein. Und nach diesem Prinzip
arbeitet er noch, wie ich sehe.«
»Gut,
gut. Und nun ein ernstes Wort, Crampas, auf das ich mir eine ernste
Antwort erbitte: Wie erklären Sie sich dies alles?«
»Ja,
meine gnädigste Frau ...«
»Keine
Ausweichungen, Major. Dies alles ist sehr wichtig für mich. Er ist Ihr
Freund, und ich bin Ihre Freundin. Ich will wissen, wie hängt dies
zusammen? Was denkt er sich dabei?«
»Ja,
meine gnädigste Frau, Gott sieht ins Herz, aber ein Major vom
Landwehrbezirkskommando, der sieht in gar nichts. Wie soll ich solche
psychologischen Rätsel lösen? Ich bin ein einfacher Mann.«
»Ach,
Crampas, reden Sie nicht so töricht. Ich bin zu jung, um eine große
Menschenkennerin zu sein; aber ich müßte noch vor der Einsegnung und
beinah vor der Taufe stehen, um Sie für einen einfachen Mann zu halten.
Sie sind das Gegenteil davon, Sie sind gefährlich ...«
»Das
Schmeichelhafteste, was einem guten Vierziger mit einem a.D. auf der
Karte gesagt werden kann. Und nun also, was sich Innstetten dabei denkt
...«
Effi
nickte.
»Ja,
wenn ich durchaus sprechen soll, er denkt sich dabei, daß ein Mann wie
Landrat Baron Innstetten, der jeden Tag Ministerialdirektor oder
dergleichen werden kann (denn glauben Sie mir, er ist hoch hinaus), daß
ein Mann wie Baron Innstetten nicht in einem gewöhnlichen Hause wohnen
kann, nicht in einer solchen Kate, wie die landrätliche Wohnung, ich
bitte um Vergebung, gnädigste Frau, doch eigentlich ist. Da hilft er
denn nach. Ein Spukhaus ist nie was Gewöhnliches ... Das ist das eine.«
»Das
eine? Mein Gott, haben Sie noch etwas?«
Ja.«
»Nun
denn, ich bin ganz Ohr. Aber wenn es sein kann, lassen Sie's was Gutes
sein.«
»Dessen
bin ich nicht ganz sicher. Es ist etwas Heikles, beinah Gewagtes, und
ganz besonders vor Ihren Ohren, gnädigste Frau.«
»Das
macht mich nur um so neugieriger.«
»Gut
denn. Also Innstetten, meine gnädigste Frau, hat außer seinem brennenden
Verlangen, es koste, was es wolle, ja, wenn es sein muß, unter
Heranziehung eines Spuks, seine Karriere zu machen, noch eine zweite
Passion: Er operiert nämlich immer erzieherisch, ist der geborene
Pädagog, und hätte, links Basedow und rechts Pestalozzi (aber doch
kirchlicher als beide), eigentlich nach Schnepfenthal oder Bunzlau
hingepaßt.«
»Und
will er mich auch erziehen? Erziehen durch Spuk?«
»Erziehen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber doch erziehen auf
einem Umweg.«
»Ich
verstehe Sie nicht.«
»Eine
junge Frau ist eine junge Frau, und ein Landrat ist ein Landrat. Er
kutschiert oft im Kreise umher, und dann ist das Haus allein und
unbewohnt. Aber solch Spuk ist wie ein Cherub mit dem Schwert ...«
»Ah, da
sind wir wieder aus dem Wald heraus«, sagte Effi.
»Und da
ist Utpatels Mühle. Wir müssen nur noch an dem Kirchhof vorüber.«
Gleich
danach passierten sie den Hohlweg zwischen dem Kirchhof und der
eingegitterten Stelle, und Effi sah nach dem Stein und der Tanne
hinüber, wo der Chinese lag.
Siebzehntes Kapitel
Es
schlug zwei Uhr, als man zurück war. Crampas verabschiedete sich und
ritt in die Stadt hinein, bis er vor seiner am Marktplatz gelegenen
Wohnung hielt. Effi ihrerseits kleidete sich um und versuchte zu
schlafen; es wollte aber nicht glücken, denn ihre Verstimmung war noch
größer als ihre Müdigkeit. Daß Innstetten sich seinen Spuk parat hielt,
um ein nicht ganz gewöhnliches Haus zu bewohnen, das mochte hingehen,
das stimmte zu seinem Hange, sich von der großen Menge zu unterscheiden;
aber das andere, daß er den Spuk als Erziehungsmittel brauchte, das war
doch arg und beinahe beleidigend. Und »Erziehungsmittel«, darüber war
sie sich klar, sagte nur die kleinere Hälfte; was Crampas gemeint hatte,
war viel, viel mehr, war eine Art Angstapparat aus Kalkül. Es fehlte
jede Herzensgüte darin und grenzte schon fast an Grausamkeit. Das Blut
stieg ihr zu Kopf, und sie ballte ihre kleine Hand und wollte Pläne
schmieden; aber mit einem Male mußte sie wieder lachen. »Ich Kindskopf!
Wer bürgt mir denn dafür, daß Crampas recht hat! Crampas ist
unterhaltlich, weil er medisant ist, aber er ist unzuverlässig und ein
bloßer Haselant, der schließlich Innstetten nicht das Wasser reicht.«
In
diesem Augenblick fuhr Innstetten vor, der heute früher zurückkam als
gewöhnlich. Effi sprang auf, um ihn schon im Flur zu begrüßen, und war
um so zärtlicher, je mehr sie das Gefühl hatte, etwas gutmachen zu
müssen. Aber ganz konnte sie das, was Crampas gesagt hatte, doch nicht
verwinden, und inmitten ihrer Zärtlichkeiten und während sie mit
anscheinendem Interesse zuhörte, klang es in ihr immer wieder: »Also
Spuk aus Berechnung, Spuk, um dich in Ordnung zu halten.«
Zuletzt
indessen vergaß sie's und ließ sich unbefangen von ihm erzählen.
Inzwischen war Mitte November herangekommen, und der bis zum Sturm sich
steigernde Nordwester stand anderthalb Tage lang so hart auf die Molen,
daß die mehr und mehr zurückgestaute Kessine das Bollwerk überstieg und
in die Straßen trat. Aber nachdem sich's ausgetobt, legte sich das
Unwetter, und es kamen noch ein paar sonnige Spätherbsttage.
»Wer
weiß, wie lange sie dauern«, sagte Effi zu Crampas, und so beschloß man,
am nächsten Vormittag noch einmal auszureiten; auch Innstetten, der
einen freien Tag hatte, wollte mit. Es sollte zunächst wieder bis an die
Mole gehen; da wollte man dann absteigen, ein wenig am Strand
promenieren und schließlich im Schutz der Dünen, wo's windstill war, ein
Frühstück nehmen.
Um die
festgesetzte Stunde ritt Crampas vor dem landrätlichen Hause vor; Kruse
hielt schon das Pferd der gnädigen Frau, die sich rasch in den Sattel
hob und noch im Aufsteigen Innstetten entschuldigte, der nun doch
verhindert sei: Letzte Nacht wieder großes Feuer in Morgenitz – das
dritte seit drei Wochen, also angelegt –, da habe er hingemußt, sehr zu
seinem Leidwesen, denn er habe sich auf diesen Ausritt, der wohl der
letzte in diesem Herbst sein werde, wirklich gefreut.
Crampas
sprach sein Bedauern aus, vielleicht nur, um was zu sagen, vielleicht
aber auch aufrichtig, denn so rücksichtslos er im Punkte chevaleresker
Liebesabenteuer war, so sehr war er auch wieder guter Kamerad. Natürlich
alles ganz oberflächlich. Einem Freunde helfen und fünf Minuten später
ihn betrügen, das waren Dinge, die sich mit seinem Ehrbegriff sehr wohl
vertrugen. Er tat das eine und das andere mit unglaublicher Bonhomie.
Der
Ritt ging wie gewöhnlich durch die Plantage hin. Rollo war wieder
vorauf, dann kamen Crampas und Effi, dann Kruse.
Knut
fehlte.
»Wo
haben Sie Knut gelassen?«
Er hat
einen Ziegenpeter.«
»Merkwürdig«, lachte Effi. »Eigentlich sah er schon immer so aus.«
»Sehr
richtig. Aber Sie sollten ihn jetzt sehen! Oder doch lieber nicht.
Ziegenpeter ist ansteckend, schon bloß durch Anblick.«
»Glaub
ich nicht.«
»Junge
Frauen glauben vieles nicht.«
»Und
dann glauben sie wieder vieles, was sie besser nicht glaubten. «
»An
meine Adresse?«
Nein.«
»Schade.«
»Wie
dies 'schade' Sie kleidet. Ich glaube wirklich, Major, Sie hielten es
für ganz in Ordnung, wenn ich Ihnen eine Liebeserklärung machte. «
»So
weit will ich nicht gehen. Aber ich möchte den sehen, der sich
dergleichen nicht wünschte. Gedanken und Wünsche sind zollfrei.«
»Das
fragt sich. Und dann ist doch immer noch ein Unterschied zwischen
Gedanken und Wünschen. Gedanken sind in der Regel etwas, das noch im
Hintergrund liegt, Wünsche aber liegen meist schon auf der Lippe.«
»Nur
nicht gerade diesen Vergleich.«
»Ach,
Crampas, Sie sind ... Sie sind ...«
»Ein
Narr.«
»Nein.
Auch darin übertreiben Sie wieder. Aber Sie sind etwas anderes. In
Hohen-Cremmen sagten wir immer, und ich mit, das Eitelste, was es gäbe,
das sei ein Husarenfähnrich von achtzehn ...«
»Und
jetzt?«
»Und
jetzt sag ich, das Eitelste, was es gibt, ist ein Landwehrbezirksmajor
von zweiundvierzig.«
»...
wobei die zwei Jahre, die Sie mir gnädigst erlassen, alles
wiedergutmachen – küss' die Hand.«
»Ja,
küss' die Hand. Das ist so recht das Wort, das für Sie paßt. Das ist
wienerisch. Und die Wiener, die hab ich kennengelernt in Karlsbad, vor
vier Jahren, wo sie mir vierzehnjährigem Dinge den Hof machten. Was ich
da alles gehört habe!«
»Gewiß
nicht mehr, als recht war.«
»Wenn
das zuträfe, wäre das, was mir schmeicheln soll, ziemlich ungezogen ...
Aber sehen Sie da die Bojen, wie die schwimmen und tanzen. Die kleinen
roten Fahnen sind eingezogen. Immer wenn ich diesen Sommer die paar Mal,
wo ich mich bis an den Strand hinauswagte, die roten Fahnen sah, sagte
ich mir: Da liegt Vineta, da muß es liegen, das sind die Turmspitzen
...«
»Das
macht, weil Sie das Heinesche Gedicht kennen.«
Welches?«
»Nun,
das von Vineta.«
»Nein,
das kenne ich nicht; ich kenne überhaupt nur wenig. Leider.«
»Und
haben doch Gieshübler und den Journalzirkel! Übrigens hat Heine dem
Gedicht einen anderen Namen gegeben, ich glaube 'Seegespenst' oder so
ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er selber – verzeihen Sie, wenn
ich Ihnen so ohne weiteres den Inhalt hier wiedergebe –, der Dichter
also, während er die Stelle passiert, liegt auf einem Schiffsdeck und
sieht hinunter und sieht da schmale, mittelalterliche Straßen und
trippelnde Frauen in Kapotthüten, und alle haben ein Gesangbuch in
Händen und wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und als er das
hört, da faßt ihn eine Sehnsucht, auch mit in die Kirche zu gehen, wenn
auch bloß um der Kapotthüte willen, und vor Verlangen schreit er auf und
will sich hinunterstürzen. Aber im selben Augenblick packt ihn der
Kapitän am Bein und ruft ihm zu: 'Doktor, sind Sie des Teufels?«
»Das
ist ja allerliebst. Das möcht ich lesen. Ist es lang?«
»Nein,
es ist eigentlich kurz, etwas länger als 'Du hast Diamanten und Perlen'
oder 'Deine weichen Lilienfinger' ...«,
und er
berührte leise ihre Hand. »Aber lang oder kurz, welche
Schilderungskraft, welche Anschaulichkeit! Er ist mein Lieblingsdichter,
und ich kann ihn auswendig, sowenig ich mir sonst, trotz gelegentlich
eigener Versündigungen, aus der Dichterei mache. Bei Heine liegt es aber
anders: Alles ist Leben, und vor allem versteht er sich auf die Liebe,
die doch die Hauptsache bleibt. Er ist übrigens nicht einseitig darin
...«
»Wie
meinen Sie das?«
»Ich
meine, er ist nicht bloß für die Liebe ...«
»Nun,
wenn er diese Einseitigkeit auch hätte, das wäre am Ende noch nicht das
schlimmste. Wofür ist er denn sonst noch?«
»Er ist
auch sehr für das Romantische, was freilich gleich nach der Liebe kommt
und nach Meinung einiger sogar damit zusammenfällt. Was ich aber nicht
glaube. Denn in seinen späteren Gedichten, die man denn auch die
'romantischen' genannt hat, oder eigentlich hat er es selber getan, in
diesen romantischen Dichtungen wird in einem fort hingerichtet,
allerdings vielfach aus Liebe. Aber doch meist aus anderen gröberen
Motiven, wohin ich in erster Reihe die Politik. die fast immer gröblich
ist, rechne. Karl Stuart zum Beispiel trägt in einer dieser Romanzen
seinen Kopf unterm Arm, und noch fataler ist die Geschichte vom
Vitzliputzli ...«
»Von
wem?«
»Vom
Vitzliputzli. Vitzliputzli ist nämlich ein mexikanischer Gott, und als
die Mexikaner zwanzig oder dreißig Spanier gefangengenommen hatten,
mußten diese zwanzig oder dreißig dem Vitzliputzli geopfert werden. Das
war da nicht anders, Landessitte, Kultus, und ging auch alles im
Handumdrehen, Bauch auf, Herz raus ...«
»Nein,
Crampas, so dürfen Sie nicht weitersprechen. Das ist indezent und
degoutant zugleich. Und das alles so ziemlich in demselben Augenblick,
wo wir frühstücken wollen.«
»Ich
für meine Person sehe mich dadurch unbeeinflußt und stelle meinen
Appetit überhaupt nur in Abhängigkeit vom Menü.«
Während
dieser Worte waren sie, ganz wie's das Programm wollte, vom Strand her
bis an eine schon halb im Schutz der Dünen aufgeschlagene Bank, mit
einem äußerst primitiven Tisch davor, gekommen, zwei Pfosten mit einem
Brett darüber. Kruse, der voraufgeritten, hatte hier bereits serviert;
Teebrötchen und Aufschnitt von kaltem Braten, dazu Rotwein und neben der
Flasche zwei hübsche, zierliche Trinkgläser, klein und mit Goldrand, wie
man sie in Badeorten kauft oder von Glashütten als Erinnerung mitbringt.
Und nun
stieg man ab. Kruse, der die Zügel seines eigenen Pferdes um eine
Krüppelkiefer geschlungen hatte, ging mit den beiden anderen Pferden auf
und ab, während sich Crampas und Effi, die durch eine schmale
Dünenöffnung einen freien Blick auf Strand und Mole hatten, vor dem
gedeckten Tisch niederließen.
Über
das von den Sturmtagen her noch bewegte Meer goß die schon halb
winterliche Novembersonne ihr fahles Licht aus, und die Brandung ging
hoch. Dann und wann kam ein Windzug und trieb den Schaum bis dicht an
sie heran. Strandhafer stand umher, und das helle Gelb der Immortellen
hob sich, trotz der Farbenverwandtschaft, von dem gelben Sand, darauf
sie wuchsen, scharf ab. Effi machte die Wirtin. »Es tut mir leid, Major,
Ihnen diese Brötchen in einem Korbdeckel präsentieren zu müssen ...«
»Ein
Korbdeckel ist kein Korb ...«
» ...
indessen Kruse hat es so gewollt. Da bist du ja auch, Rollo. Auf dich
ist unser Vorrat aber nicht eingerichtet. Was machen wir mit Rollo?«
»Ich
denke, wir geben ihm alles; ich meinerseits schon aus Dankbarkeit. Denn
sehen Sie, teuerste Effi ...«
Effi
sah ihn an.
Denn
sehen Sie, gnädigste Frau, Rollo erinnert mich wieder an das, was ich
Ihnen noch als Fortsetzung oder Seitenstück zum Vitzliputzli erzählen
wollte – nur viel pikanter, weil Liebesgeschichte. Haben Sie mal von
einem gewissen Pedro dem Grausamen gehört?«
»So
dunkel.«
»Eine
Art Blaubartskönig.«
»Das
ist gut. Von so einem hört man immer am liebsten, und ich weiß noch, daß
wir von meiner Freundin Hulda Niemeyer, deren Namen Sie ja kennen, immer
behaupteten, sie wisse nichts von Geschichte, mit Ausnahme der sechs
Frauen von Heinrich dem Achten, diesem englischen Blaubart, wenn das
Wort für ihn reicht. Und wirklich, diese sechs kannte sie auswendig. Und
dabei hätten Sie hören sollen, wie sie die Namen aussprach, namentlich
den von der Mutter der Elisabeth – so schrecklich verlegen, als wäre sie
nun an der Reihe ... Aber nun bitte, die Geschichte von Don Pedro ...«
»Nun
also, an Don Pedros Hofe war ein schöner, schwarzer spanischer Ritter,
der das Kreuz von Kalatrava – was ungefähr soviel bedeutet wie Schwarzer
Adler und Pour-le-mérite zusammengenommen – auf seiner Brust trug. Dies
Kreuz gehörte mit dazu, das mußten sie immer tragen, und dieser
Kalatravaritter, den die Königin natürlich heimlich liebte ...«
»Warum
natürlich?«
»Weil
wir in Spanien sind.«
Ach
so.«
»Und
dieser Kalatravaritter, sag ich, hatte einen wunderschönen Hund, einen
Neufundländer, wiewohl es die noch gar nicht gab, denn es war grade
hundert Jahre vor der Entdeckung von Amerika. Einen wunderschönen Hund
also, sagen wir wie Rollo ...«
Rollo
schlug an, als er seinen Namen hörte, und wedelte mit dem Schweif.
»Das
ging so machen Tag. Aber das mit der heimlichen Liebe, die wohl nicht
ganz heimlich blieb, das wurde dem König doch zuviel, und weil er den
schönen Kalatravaritter überhaupt nicht recht leiden mochte – denn er
war nicht bloß grausam, er war auch ein Neidhammel, oder wenn das Wort
für einen König und noch mehr für meine liebenswürdige Zuhörerin, Frau
Effi, nicht recht passen sollte, wenigstens ein Neidling –, so beschloß
er, den Kalatravaritter für die heimliche Liebe heimlich hinrichten zu
lassen.«
»Kann
ich ihm nicht verdenken.«
»Ich
weiß doch nicht, meine Gnädigste. Hören Sie nur weiter. Etwas geht
schon, aber es war zuviel; der König, find ich, ging um ein
Erkleckliches zu weit. Er heuchelte nämlich, daß er dem Ritter wegen
seiner Kriegs- und Heldentaten ein Fest veranstalten wolle, und da gab
es denn eine lange, lange Tafel, und alle Granden des Reichs saßen an
dieser Tafel, und in der Mitte saß der König, und ihm gegenüber war der
Platz für den, dem dies alles galt, also für den Kalatravaritter, für
den an diesem Tage zu Feiernden. Und weil der, trotzdem man schon eine
ganze Weile seiner gewartet hatte, noch immer nicht kommen wollte, so
mußte schließlich die Festlichkeit ohne ihn begonnen werden, und es
blieb ein leerer Platz – ein leerer Platz gerade gegenüber dem König.«
Und
nun?«
»Und
nun denken Sie, meine gnädigste Frau, wie der König, dieser Pedro, sich
eben erheben will, um gleisnerisch sein Bedauern auszusprechen, daß sein
'lieber Gast' noch immer fehle, da hört man auf der Treppe draußen einen
Aufschrei der entsetzten Dienerschaften, und ehe noch irgendwer weiß,
was geschehen ist, jagt etwas an der langen Festtafel entlang, und nun
springt es auf den Stuhl und setzt ein abgeschlagenes Haupt auf den
leergebliebenen Platz, und über ebendieses Haupt hinweg starrt Rollo auf
sein Gegenüber, den König. Rollo hatte seinen Herrn auf seinem letzten
Gang begleitet, und im selben Augenblick, wo das Beil fiel, hatte das
treue Tier das fallende Haupt gepackt, und da war er nun, unser Freund
Rollo, an der langen Festtafel und verklagte den königlichen Mörder.«
Effi
war ganz still geworden. Endlich sagte sie: »Crampas, das ist in seiner
Art sehr schön, und weil es sehr schön ist, will ich es Ihnen verzeihen.
Aber Sie könnten doch Besseres und zugleich mir Lieberes tun, wenn Sie
mir andere Geschichten erzählten. Auch von Heine. Heine wird doch nicht
bloß von Vitzliputzli und Don Pedro und Ihrem Rollo – denn meiner hätte
so was nicht getan – gedichtet haben. Komm, Rollo! Armes Tier, ich kann
dich gar nicht mehr ansehen, ohne an den Kalatravaritter zu denken, den
die Königin heimlich liebte ... Rufen Sie, bitte, Kruse, daß er die
Sachen hier wieder in die Halfter steckt, und wenn wir zurückreiten,
müssen Sie mir was anderes erzählen, ganz was anderes. «
Kruse
kam. Als er aber die Gläser nehmen wollte, sagte Crampas: »Kruse, das
eine Glas, das da, das lassen Sie stehen. Das werde ich selber nehmen.«
»Zu
Befehl, Herr Major.«
Effi,
die dies mit angehört hatte, schüttelte den Kopf. Dann lachte sie. »Crampas,
was fällt Ihnen nur eigentlich ein? Kruse ist dumm genug, über die Sache
nicht weiter nachzudenken, und wenn er darüber nachdenkt, so findet er
glücklicherweise nichts. Aber das berechtigt Sie doch nicht, dies Glas,
dies Dreißigpfennigglas aus der Josefinenhütte ...«
»Daß
Sie so spöttisch den Preis nennen, läßt mich seinen Wert um so tiefer
empfinden.«
»Immer
derselbe. Sie haben so viel von einem Humoristen, aber doch von ganz
sonderbarer Art. Wenn ich Sie recht verstehe, so haben Sie vor – es ist
zum Lachen, und ich geniere mich fast, es auszusprechen –, so haben Sie
vor, sich vor der Zeit auf den König von Thule hin auszuspielen.«
Er
nickte mit einem Anflug von Schelmerei.
»Nun
denn, meinetwegen. Jeder trägt seine Kappe; Sie wissen, welche. Nur das
muß ich Ihnen doch sagen dürfen, die Rolle, die Sie mir dabei
zudiktieren, ist mir zu wenig schmeichelhaft. Ich mag nicht als Reimwort
auf Ihren König von Thule herumlaufen. Behalten Sie das Glas, aber
bitte, ziehen Sie nicht Schlüsse daraus, die mich kompromittieren. Ich
werde Innstetten davon erzählen.«
»Das
werden Sie nicht tun, meine gnädigste Frau.«
Warum
nicht?«
»Innstetten
ist nicht der Mann, solche Dinge so zu sehen, wie sie gesehen sein
wollen.«
Sie sah
ihn einen Augenblick scharf an. Dann aber schlug sie verwirrt und fast
verlegen die Augen nieder.
Achtzehntes Kapitel
Effi
war unzufrieden mit sich und freute sich, daß es nunmehr feststand,
diese gemeinschaftlichen Ausflüge für die ganze Winterdauer auf sich
beruhen zu lassen. Überlegte sie, was während all dieser Wochen und Tage
gesprochen, berührt und angedeutet war, so fand sie nichts, um
dessentwillen sie sich direkte Vorwürfe zu machen gehabt hätte. Crampas
war ein kluger Mann, welterfahren, humoristisch, frei, frei auch im
Guten, und es wäre kleinlich und kümmerlich gewesen, wenn sie sich ihm
gegenüber aufgesteift und jeden Augenblick die Regeln strengen Anstandes
befolgt hätte. Nein, sie konnte sich nicht tadeln, auf seinen Ton
eingegangen zu sein, und doch hatte sie ganz leise das Gefühl einer
überstandenen Gefahr und beglückwünschte sich, daß das alles nun
mutmaßlich hinter ihr läge. Denn an ein häufigeres Sichsehen en famille
war nicht wohl zu denken, das war durch die Crampasschen Hauszustände so
gut wie ausgeschlossen, und Begegnungen bei den benachbarten adligen
Familien, die freilich für den Winter in Sicht standen, konnten immer
nur sehr vereinzelt und sehr flüchtige sein. Effi rechnete sich dies
alles mit wachsender Befriedigung heraus und fand schließlich, daß ihr
der Verzicht auf das, was sie dem Verkehr mit dem Major verdankte, nicht
allzu schwer ankommen würde. Dazu kam noch, daß Innstetten ihr
mitteilte, seine Fahrten nach Varzin würden in diesem Jahre fortfallen:
der Fürst gehe nach Friedrichsruh, das ihm immer lieber zu werden
scheine; nach der einen Seite hin bedauere er das, nach der anderen sei
es ihm lieb – er könne sich nun ganz seinem Hause widmen, und wenn es
ihr recht wäre, so wollten sie die italienische Reise, an der Hand
seiner Aufzeichnungen, noch einmal durchmachen. Eine solche
Rekapitulation sei eigentlich die Hauptsache, dadurch mache man sich
alles erst dauernd zu eigen, und selbst Dinge, die man nur flüchtig
gesehen und von denen man kaum wisse, daß man sie in seiner Seele
beherberge, kämen einem durch solche nachträglichen Studien erst voll zu
Bewußtsein und Besitz. Er führte das noch weiter aus und fügte hinzu,
daß ihn Gieshübler, der den ganzen »italienischen Stiefel« bis Palermo
kenne, gebeten habe, mit dabeisein zu dürfen. Effi, der ein ganz
gewöhnlicher Plauderabend ohne den »italienischen Stiefel« (es sollten
sogar Fotografien herumgereicht werden) viel, viel lieber gewesen wäre,
antwortete mit einer gewissen Gezwungenheit; Innstetten indessen, ganz
erfüllt von seinem Plan, merkte nichts und fuhr fort: »Natürlich ist
nicht bloß Gieshübler zugegen, auch Roswitha und Annie müssen dabeisein,
und wenn ich mir dann denke, daß wir den Canale grande hinauffahren und
hören dabei ganz in der Ferne die Gondoliere singen, während drei
Schritt von uns Roswitha sich über Annie beugt und 'Buhküken von
Halberstadt' oder so was Ähnliches zum besten gibt, so können das schöne
Winterabende werden, und du sitzt dabei und strickst mir eine große
Winterkappe. Was meinst du dazu, Effi ?«
Solche
Abende wurden nicht bloß geplant, sie nahmen auch ihren Anfang, und sie
würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach über viele Wochen hin
ausgedehnt haben, wenn nicht der unschuldige, harmlose Gieshübler, trotz
größter Abgeneigtheit gegen zweideutiges Handeln, dennoch im Dienste
zweier Herren gestanden hätte. Der eine, dem er diente, war Innstetten,
der andere war Crampas, und wenn er der Innstettenschen Aufforderung zu
den italienischen Abenden, schon um Effis willen, auch mit
aufrichtigster Freude Folge leistete, so war die Freude, mit der er
Crampas gehorchte, doch noch eine größere. Nach einem Crampasschen Plan
nämlich sollte noch vor Weihnachten »Ein Schritt vom Wege« aufgeführt
werden, und als man vor dem dritten italienischen Abend stand, nahm
Gieshübler die Gelegenheit wahr, mit Effi, die die Rolle der Ella
spielen sollte, darüber zu sprechen.
Effi
war wie elektrisiert; was wollten Padua, Vicenza daneben bedeuten! Effi
war nicht für Aufgewärmtheiten; Frisches war es, wonach sie sich sehnte,
Wechsel der Dinge. Aber als ob eine Stimme ihr zugerufen hätte: »Sieh
dich vor!«, so fragte sie doch, inmitten ihrer freudigen Erregung:
»Ist es
der Major, der den Plan aufgebracht hat?«
»Ja.
Sie wissen, gnädigste Frau, daß er einstimmig in das Vergnügungskomitee
gewählt wurde. Wir dürfen uns endlich einen hübschen Winter in der
Ressource versprechen. Er ist ja wie geschaffen dazu.«
»Und
wird er auch mitspielen?«
»Nein,
das hat er abgelehnt. Ich muß sagen, leider. Denn er kann ja alles und
würde den Arthur von Schmettwitz ganz vorzüglich geben. Er hat nur die
Regie übernommen.«
»Desto
schlimmer.«
»Desto
schlimmer?« wiederholte Gieshübler.
»Oh,
Sie dürfen das nicht so feierlich nehmen; das ist nur so eine Redensart,
die eigentlich das Gegenteil bedeutet. Auf der anderen Seite freilich,
der Major hat so was Gewaltsames, er nimmt einem die Dinge gern über den
Kopf fort. Und man muß dann spielen, wie er will, und nicht, wie man
selber will.«
Sie
sprach noch so weiter und verwickelte sich immer mehr in Widersprüche.
Der
»Schritt vom Wege« kam wirklich zustande, und gerade weil man nur noch
gute vierzehn Tage hatte (die letzte Woche vor Weihnachten war
ausgeschlossen), so strengte sich alles an, und es ging vorzüglich; die
Mitspielenden, vor allem Effi, ernteten reichen Beifall. Crampas hatte
sich wirklich mit der Regie begnügt, und so streng er gegen alle anderen
war, so wenig hatte er auf den Proben in Effis Spiel hineingeredet.
Entweder waren ihm von seiten Gieshüblers Mitteilungen über das mit Effi
gehabte Gespräch gemacht worden, oder er hatte es auch aus sich selber
bemerkt, daß Effi beflissen war, sich von ihm zurückzuziehen. Und er war
klug und Frauenkenner genug, um den natürlichen Entwicklungsgang, den er
nach seinen Erfahrungen nur zu gut kannte, nicht zu stören.
Am
Theaterabend in der Ressource trennte man sich spät, und Mitternacht war
vorüber, als Innstetten und Effi wieder zu Hause bei sich eintrafen.
Johanna war noch auf, um behilflich zu sein, und Innstetten, der auf
seine junge Frau nicht wenig eitel war, erzählte Johanna, wie reizend
die gnädige Frau ausgesehen und wie gut sie gespielt habe. Schade, daß
er nicht vorher daran gedacht, Christel und sie selber und auch die alte
Unke, die Kruse, hätten von der Musikgalerie her sehr gut zusehen
können; es seien viele dagewesen. Dann ging Johanna, und Effi, die müde
war, legte sich nieder. Innstetten aber, der noch plaudern wollte, schob
einen Stuhl heran und setzte sich an das Bett seiner Frau, diese
freundlich ansehend und ihre Hand in der seinen haltend.
»Ja,
Effi, das war ein hübscher Abend. Ich habe mich amüsiert über das
hübsche Stück. Und denke dir, der Dichter ist ein Kammergerichtsrat,
eigentlich kaum zu glauben. Und noch dazu aus Königsberg. Aber worüber
ich mich am meisten gefreut, das war doch meine entzückende kleine Frau,
die allen die Köpfe verdreht hat.«
»Ach,
Geert, sprich nicht so. Ich bin schon gerade eitel genug.«
»Eitel
genug, das wird wohl richtig sein. Aber doch lange nicht so eitel wie
die anderen. Und das ist zu deinen sieben Schönheiten ...«
»Sieben
Schönheiten haben alle.«
» ...
Ich habe mich auch bloß versprochen, du kannst die Zahl gut mit sich
selbst multiplizieren.«
»Wie
galant du bist, Geert. Wenn ich dich nicht kennte, könnt ich mich
fürchten. Oder lauert wirklich was dahinter?«
Hast du
ein schlechtes Gewissen? Selber hinter der Tür gestanden?«
»Ach,
Geert, ich ängstige mich wirklich.« Und sie richtete sich im Bett in die
Höh und sah ihn starr an. »Soll ich noch nach Johanna klingeln, daß sie
uns Tee bringt? Du hast es so gern vor dem Schlafengehen.«
Er
küßte ihr die Hand. »Nein, Effi. Nach Mitternacht kann auch der Kaiser
keine Tasse Tee mehr verlangen, und du weißt, ich mag die Leute nicht
mehr in Anspruch nehmen als nötig. Nein, ich will nichts, als dich
ansehen und mich freuen, daß ich dich habe. So manchmal empfindet man's
doch stärker, welchen Schatz man hat. Du könntest ja auch so sein wie
die arme Frau Crampas; das ist eine schreckliche Frau, gegen keinen
freundlich, und dich hätte sie vom Erdboden vertilgen mögen.«
»Ach,
ich bitte dich, Geert, das bildest du dir wieder ein. Die arme Frau! Mir
ist nichts aufgefallen.«
»Weil
du für derlei keine Augen hast. Aber es war so, wie ich dir sage, und
der arme Crampas war wie befangen dadurch und mied dich immer und sah
dich kaum an. Was doch ganz unnatürlich ist; denn erstens ist er
überhaupt ein Damenmann, und nun gar Damen wie du, das ist seine
besondere Passion. Und ich wette auch, daß es keiner besser weiß als
meine kleine Frau selber. Wenn ich daran denke, wie, Pardon, das
Geschnatter hin und her ging, wenn er morgens in die Veranda kam oder
wenn wir am Strande ritten oder auf der Mole spazierengingen. Es ist,
wie ich dir sage, er traute sich heute nicht, er fürchtete sich vor
seiner Frau. Und ich kann es ihm nicht verdenken. Die Majorin ist so
etwas wie unsere Frau Kruse, und wenn ich zwischen beiden wählen müßte,
ich wüßte nicht wen.«
»Ich
wüßt es schon; es ist doch ein Unterschied zwischen den beiden. Die arme
Majorin ist unglücklich, die Kruse ist unheimlich.«
»Und da
bist du doch mehr für das Unglückliche?«
Ganz
entschieden.«
»Nun
höre, das ist Geschmackssache. Man merkt, daß du noch nicht unglücklich
warst. Übrigens hat Crampas ein Talent, die arme Frau zu eskamotieren.
Er erfindet immer etwas, sie zu Hause zu lassen.«
»Aber
heute war sie doch da.«
»Ja,
heute. Da ging es nicht anders. Aber ich habe mit ihm eine Partie zu
Oberförster Ring verabredet, er, Gieshübler und der Pastor, auf den
dritten Feiertag, und da hättest du sehen sollen, mit welcher
Geschicklichkeit er bewies, daß sie, die Frau, zu Hause bleiben müsse.«
»Sind
es denn nur Herren?«
»O
bewahre. Da würd ich mich auch bedanken. Du bist mit dabei und noch
zwei, drei andere Damen, die von den Gütern ungerechnet. «
»Aber
dann ist es doch auch häßlich von ihm, ich meine von Crampas, und so was
bestraft sich immer.«
»Ja,
mal kommt es. Aber ich glaube, unser Freund hält zu denen, die sich über
das, was kommt, keine grauen Haare wachsen lassen.«
»Hältst
du ihn für schlecht?«
»Nein,
für schlecht nicht. Beinah im Gegenteil, jedenfalls hat er gute Seiten.
Aber er ist so'n halber Pole, kein rechter Verlaß, eigentlich in nichts,
am wenigsten mit Frauen. Eine Spielernatur. Er spielt nicht am
Spieltisch, aber er hasardiert im Leben in einem fort, und man muß ihm
auf die Finger sehen.«
»Es ist
mir doch lieb, daß du mir das sagst. Ich werde mich vorsehen mit ihm.«
»Das
tu. Aber nicht zu sehr; dann hilft es nichts. Unbefangenheit ist immer
das beste, natürlich das allerbeste ist Charakter und Festigkeit und,
wenn ich solch steifleinenes Wort brauchen darf, eine reine Seele.«
Sie sah
ihn groß an. Dann sagte sie: »Ja, gewiß. Aber nun sprich nicht mehr, und
noch dazu lauter Dinge, die mich nicht recht froh machen können. Weißt
du, mir ist, als hörte ich oben das Tanzen. Sonderbar, daß es immer
wiederkommt. Ich dachte, du hättest mit dem allem nur so gespaßt.«
»Das
will ich doch nicht sagen, Effi. Aber so oder so, man muß nur in Ordnung
sein und sich nicht zu fürchten brauchen. «
Effi
nickte und dachte mit einem Male wieder an die Worte, die ihr Crampas
über ihren Mann als »Erzieher« gesagt hatte.
Der
Heilige Abend kam und verging ähnlich wie das Jahr vorher; aus
Hohen-Cremmen kamen Geschenke und Briefe; Gieshübler war wieder mit
einem Huldigungsvers zur Stelle, und Vetter Briest sandte eine Karte:
Schneelandschaft mit Telegrafenstangen, auf deren Draht geduckt ein
Vögelchen saß. Auch für Annie war aufgebaut: ein Baum mit Lichtern, und
das Kind griff mit seinen Händchen danach. Innstetten, unbefangen und
heiter, schien sich seines häuslichen Glücks zu freuen und beschäftigte
sich viel mit dem Kinde. Roswitha war erstaunt, den gnädigen Herrn so
zärtlich und zugleich so aufgeräumt zu sehen. Auch Effi sprach viel und
lachte viel, es kam ihr aber nicht aus innerster Seele. Sie fühlte sich
bedrückt und wußte nur nicht, wen sie dafür verantwortlich machen
sollte, Innstetten oder sich selber. Von Crampas war kein Weihnachtsgruß
eingetroffen; eigentlich war es ihr lieb, aber auch wieder nicht, seine
Huldigungen erfüllten sie mit einem gewissen Bangen, und seine
Gleichgültigkeiten verstimmten sie; sie sah ein, es war nicht alles so,
wie's sein sollte.
»Du
bist so unruhig«, sagte Innstetten nach einer Weile.
»Ja.
Alle Welt hat es so gut mit mir gemeint, am meisten du; das bedrückt
mich, weil ich fühle, daß ich es nicht verdiene.«
»Damit
darf man sich nicht quälen, Effi. Zuletzt ist es doch so: Was man
empfängt, das hat man auch verdient.«
Effi
hörte scharf hin, und ihr schlechtes Gewissen ließ sie selber fragen, ob
er das absichtlich in so zweideutiger Form gesagt habe.
Spät
gegen Abend kam Pastor Lindequist, um zu gratulieren und noch wegen der
Partie nach der Oberförsterei Uvagla hin anzufragen, die natürlich eine
Schlittenpartie werden müsse. Crampas habe ihm einen Platz in seinem
Schlitten angeboten, aber weder der Major noch sein Bursche, der, wie
alles, auch das Kutschieren übernehmen solle, kenne den Weg, und so
würde es sich vielleicht empfehlen, die Fahrt gemeinschaftlich zu
machen, wobei dann der landrätliche Schlitten die Tete zu nehmen und der
Crampassche zu folgen hätte. Wahrscheinlich auch der Gieshüblersche.
Denn mit der Wegkenntnis Mirambos, dem sich unerklärlicherweise Freund
Alonzo, der doch sonst so vorsichtig, anvertrauen wolle, stehe es
wahrscheinlich noch schlechter als mit der des sommersprossigen
Treptower Ulanen. Innstetten, den diese kleinen Verlegenheiten
erheiterten, war mit Lindequists Vorschlag durchaus einverstanden und
ordnete die Sache dahin, daß er pünktlich um zwei Uhr über den
Marktplatz fahren und ohne alles Säumen die Führung des Zuges in die
Hand nehmen werde.
Nach
diesem Übereinkommen wurde denn auch verfahren, und als Innstetten Punkt
zwei Uhr den Marktplatz passierte, grüßte Crampas zunächst von seinem
Schlitten aus zu Effi hinüber und schloß sich dann dem Innstettenschen
an. Der Pastor saß neben ihm. Gieshüblers Schlitten, mit Gieshübler
selbst und Doktor Hannemann, folgte, jener in einem eleganten Büffelrock
und Marderbesatz, dieser in einem Bärenpelz, dem man ansah, daß er
wenigstens dreißig Dienstjahre zählte. Hannemann war nämlich in seiner
Jugend Schiffschirurgus auf einem Grönlandfahrer gewesen. Mirambo saß
vorn, etwas aufgeregt wegen Unkenntnis im Kutschieren, ganz wie
Lindequist vermutet hatte.
Schon
nach zwei Minuten war man an Utpatels Mühle vorbei.
Zwischen Kessin und Uvagla (wo der Sage nach ein Wendentempel gestanden)
lag ein nur etwa tausend Schritt breiter, aber wohl anderthalb Meilen
langer Waldstreifen, der an seiner rechten Längsseite das Meer, an
seiner linken, bis weit an den Horizont hin, ein großes, überaus
fruchtbares und gut angebautes Stück Land hatte. Hier, an der
Binnenseite, flogen jetzt die drei Schlitten hin, in einiger Entfernung
ein paar alte Kutschwagen vor sich, in denen aller Wahrscheinlichkeit
nach andere nach der Oberförsterei hin eingeladene Gäste saßen. Einer
dieser Wagen war an seinen altmodisch hohen Rädern deutlich zu erkennen,
es war der Papenhagensche. Natürlich. Güldenklee galt als der beste
Redner des Kreises (noch besser als Borcke, ja selbst besser als
Grasenabb) und durfte bei Festlichkeiten nicht leicht fehlen. Die Fahrt
ging rasch – auch die herrschaftlichen Kutscher strengten sich an und
wollten sich nicht überholen lassen –, so daß man schon um drei vor der
Oberförsterei hielt. Ring, ein stattlicher, militärisch dreinschauender
Herr von Mitte Fünfzig, der den ersten Feldzug in Schleswig noch unter
Wrangel und Bonin mitgemacht und sich bei Erstürmung des Danewerks
ausgezeichnet hatte, stand in der Tür und empfing seine Gäste, die,
nachdem sie abgelegt und die Frau des Hauses begrüßt hatten, zunächst
vor einem langgedeckten Kaffeetisch Platz nahmen, auf dem kunstvoll
aufgeschichtete Kuchenpyramiden standen. Die Oberförsterin, eine von
Natur sehr ängstliche, zum mindesten aber sehr befangene Frau, zeigte
sich auch als Wirtin so, was den überaus eitlen Oberförster, der für
Sicherheit und Schneidigkeit war, ganz augenscheinlich verdroß. Zum
Glück kam sein Unmut zu keinem Ausbruch, denn von dem, was seine Frau
vermissen ließ, hatten seine Töchter desto mehr, bildhübsche Backfische
von vierzehn und dreizehn, die ganz nach dem Vater schlugen. Besonders
die ältere, Cora, kokettierte sofort mit Innstetten und Crampas, und
beide gingen auch darauf ein. Effi ärgerte sich darüber und schämte sich
dann wieder, daß sie sich geärgert habe. Sie saß neben Sidonie von
Grasenabb und sagte: »Sonderbar, so bin ich auch gewesen, als ich
vierzehn war.«
Effi
rechnete darauf, daß Sidonie dies bestreiten oder doch wenigstens
Einschränkungen machen würde. Statt dessen sagte diese: »Das kann ich
mir denken.«
»Und
wie der Vater sie verzieht«, fuhr Effi halb verlegen und nur, um doch
was zu sagen, fort.
Sidonie
nickte. »Da liegt es. Keine Zucht. Das ist die Signatur unserer Zeit.«
Effi
brach nun ab.
Der
Kaffee war bald genommen, und man stand auf, um noch einen halbstündigen
Spaziergang in den umliegenden Wald zu machen, zunächst auf ein Gehege
zu, drin Wild eingezäunt war. Cora öffnete das Gatter, und kaum, daß sie
eingetreten, so kamen auch schon die Rehe auf sie zu. Es war eigentlich
reizend, ganz wie ein Märchen. Aber die Eitelkeit des jungen Dinges, das
sich bewußt war, ein lebendes Bild zu stellen, ließ doch einen reinen
Eindruck nicht aufkommen, am wenigsten bei Effi. »Nein«, sagte sie zu
sich selber, »so bin ich doch nicht gewesen. Vielleicht hat es mir auch
an Zucht gefehlt, wie diese furchtbare Sidonie mir eben andeutete,
vielleicht auch anderes noch. Man war zu Haus zu gütig gegen mich, man
liebte mich zu sehr. Aber das darf ich doch wohl sagen, ich habe mich
nie geziert. Das war immer Huldas Sache. Darum gefiel sie mir auch
nicht, als ich diesen Sommer sie wiedersah.
Auf dem
Rückwege vom Wald nach der Oberförsterei begann es zu schneien. Crampas
gesellte sich zu Effi und sprach ihr sein Bedauern aus, daß er noch
nicht Gelegenheit gehabt habe, sie zu begrüßen. Zugleich wies er auf die
großen, schweren Schneeflocken, die fielen, und sagte: »Wenn das so
weitergeht, so schneien wir hier ein.«
»Das
wäre nicht das Schlimmste. Mit dem Eingeschneitwerden verbinde ich von
langer Zeit her eine freundliche Vorstellung, eine Vorstellung von
Schutz und Beistand.«
»Das
ist mir neu, meine gnädigste Frau.«
»Ja«,
fuhr Effi fort und versuchte zu lachen, »mit den Vorstellungen ist es
ein eigen Ding, man macht sie sich nicht bloß nach dem, was man
persönlich erfahren hat, auch nach dem, was man irgendwo gehört oder
ganz zufällig weiß. Sie sind so belesen, Major, aber mit einem Gedicht –
freilich keinem Heineschen, keinem 'Seegespenst' und keinem 'Vitzliputzli'
– bin ich Ihnen, wie mir scheint, doch voraus. Dies Gedicht heißt die
'Gottesmauer', und ich hab es bei unserm Hohen-Cremmer Pastor vor
vielen, vielen Jahren, als ich noch ganz klein war, auswendig gelernt.«
»Gottesmauer«, wiederholte Crampas. »Ein hübscher Titel, und wie verhält
es sich damit?«
»Eine
kleine Geschichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo Krieg, ein
Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde mächtig
fürchtete, betete zu Gott, er möge doch 'eine Mauer um sie bauen', um
sie vor dem Landesfeinde zu schützen. Und da ließ Gott das Haus
einschneien, und der Feind zog daran vorüber.«
Crampas
war sichtlich betroffen und wechselte das Gespräch.
Als es
dunkelte, waren alle wieder in der Oberförsterei zurück.
Neunzehntes Kapitel
Gleich
nach sieben ging man zu Tisch, und alles freute sich, daß der
Weihnachtsbaum, eine mit zahllosen Silberkugeln bedeckte Tanne, noch
einmal angesteckt wurde. Crampas, der das Ringsche Haus noch nicht
kannte, war helle Bewunderung. Der Damast, die Weinkühler, das reiche
Silbergeschirr, alles wirkte herrschaftlich, weit über oberförsterliche
Durchschnittsverhältnisse hinaus, was darin seinen Grund hatte, daß
Rings Frau, so scheu und verlegen sie war, aus einem reichen Danziger
Kornhändlerhause stammte. Von daher rührten auch die meisten der
ringsumher hängenden Bilder: der Kornhändler und seine Frau, der
Marienburger Remter und eine gute Kopie nach dem berühmten Memlingschen
Altarbild in der Danziger Marienkirche. Kloster Olivia war zweimal da,
einmal in Öl und einmal in Kork geschnitzt. Außerdem befand sich über
dem Büfett ein sehr nachgedunkeltes Porträt des alten Nettelbeck, das
noch aus dem bescheidenen Mobiliar des erst vor anderthalb Jahren
verstorbenen Ringschen Amtsvorgängers herrührte. Niemand hatte damals
bei der gewöhnlich stattfindenden Auktion das Bild des Alten haben
wollen, bis Innstetten, der sich über diese Mißachtung ärgerte, darauf
geboten hatte. Da hatte sich denn auch Ring patriotisch besonnen, und
der alte Kolbergverteidiger war der Oberförsterei verblieben.
Das
Nettelbeckbild ließ ziemlich viel zu wünschen übrig; sonst aber verriet
alles, wie schon angedeutet, eine beinahe an Glanz streifende
Wohlhabenheit, und dem entsprach denn auch das Mahl, das aufgetragen
wurde. Jeder hatte mehr oder weniger seine Freude daran, mit Ausnahme
Sidoniens. Diese saß zwischen Innstetten und Lindequist und sagte, als
sie Coras ansichtig wurde: »Da ist ja wieder dies unausstehliche Balg,
diese Cora. Sehen Sie nur, Innstetten, wie sie die kleinen Weingläser
präsentiert, ein wahres Kunststück, sie könnte jeden Augenblick
Kellnerin werden. Ganz unerträglich. Und dazu die Blicke von Ihrem
Freund Crampas! Das ist so die rechte Saat! Ich frage Sie, was soll
dabei herauskommen?«
Innstetten, der ihr eigentlich zustimmte, fand trotzdem den Ton, in dem
das alles gesagt wurde, so verletzend herbe daß er spöttisch bemerkte:
»Ja, meine Gnädigste, was dabei herauskommen soll? Ich weiß es auch
nicht« – worauf sich Sidonie von ihm ab- und ihrem Nachbarn zur Linken
zuwandte:
»Sagen
Sie, Pastor, ist diese vierzehnjährige Kokette schon im Unterricht bei
Ihnen?«
»Ja,
mein gnädiges Fräulein.«
»Dann
müssen Sie mir die Bemerkung verzeihen, daß Sie sie nicht in die
richtige Schule genommen haben. Ich weiß wohl, es hält das heutzutage
sehr schwer, aber ich weiß auch, daß die, denen die Fürsorge für junge
Seelen obliegt, es vielfach an dem rechten Ernst fehlen lassen. Es
bleibt dabei, die Hauptschuld tragen die Eltern und Erzieher.«
Lindequist, denselben Ton anschlagend wie Innstetten, antwortete, daß
das alles sehr richtig, der Geist der Zeit aber zu mächtig sei.
»Geist
der Zeit!« sagte Sidonie. »Kommen Sie mir nicht damit. Das kann ich
nicht hören, das ist der Ausdruck höchster Schwäche, Bankrotterklärung.
Ich kenne das; nie scharf zufassen wollen, immer dem Unbequemen aus dem
Wege gehen. Denn Pflicht ist unbequem. Und so wird nur allzuleicht
vergessen, daß das uns anvertraute Gut auch mal von uns zurückgefordert
wird. Eingreifen, lieber Pastor, Zucht. Das Fleisch ist schwach, gewiß,
aber ...«
In
diesem Augenblick kam ein englisches Roastbeef, von dem Sidonie ziemlich
ausgiebig nahm, ohne Lindequists Lächeln dabei zu bemerken. Und weil
sie's nicht bemerkte, so durfte es auch nicht wundernehmen, daß sie mit
viel Unbefangenheit fortfuhr: »Es kann übrigens alles, was Sie hier
sehen, nicht wohl anders sein; alles ist schief und verfahren von Anfang
an. Ring, Ring – wenn ich nicht irre, hat es drüben in Schweden oder da
herum mal einen Sagenkönig dieses Namens gegeben. Nun sehen Sie, benimmt
er sich nicht, als ob er von dem abstamme? Und seine Mutter, die ich
noch gekannt habe, war eine Plättfrau in Köslin.«
»Ich
kann darin nichts Schlimmes finden.«
»Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und jedenfalls gibt es Schlimmeres.
Aber soviel muß ich doch von Ihnen, als einem geweihten Diener der
Kirche, gewärtigen dürfen, daß Sie die gesellschaftlichen Ordnungen
gelten lassen. Ein Oberförster ist ein bißchen mehr als ein Förster, und
ein Förster hat nicht solche Weinkühler und solch Silberzeug; das alles
ist ungehörig und zieht dann solche Kinder groß wie dies Fräulein Cora.
«
Sidonie, jedesmal bereit, irgendwas Schreckliches zu prophezeien, wenn
sie, vom Geist überkommen, die Schalen ihres Zorns ausschüttete, würde
sich auch heute bis zum Kassandrablick in die Zukunft gesteigert haben,
wenn nicht in ebendiesem Augenblick die dampfende Punschbowle – womit
die Weihnachtsreunions bei Ring immer abschlossen – auf der Tafel
erschienen wäre, dazu Krausgebackenes, das, geschickt
übereinandergetürmt, noch weit über die vor einigen Stunden aufgetragene
Kaffeekuchenpyramide hinauswuchs. Und nun trat auch Ring selbst, der
sich bis dahin etwas zurückgehalten hatte, mit einer gewissen
strahlenden Feierlichkeit in Aktion und begann die vor ihm stehenden
Gläser, große geschliffene Römer, in virtuosem Bogensturz zu füllen, ein
Einschenkekunststück, das die stets schlagfertige Frau von Padden, die
heute leider fehlte, mal als »Ringsche Füllung en cascade« bezeichnet
hatte. Rotgolden wölbte sich dabei der Strahl, und kein Tropfen durfte
verlorengehen. So war es auch heute wieder. Zuletzt aber, als jeder, was
ihm zukam, in Händen hielt – auch Cora, die sich mittlerweile mit ihrem
rotblonden Wellenhaar auf »Onkel Crampas'« Schoß gesetzt hatte –, erhob
sich der alte Papenhagner, um, wie herkömmlich bei Festlichkeiten der
Art, einen Toast auf seinen lieben Oberförster auszubringen. Es gäbe
viele Ringe, so etwa begann er, Jahresringe, Gardinenringe, Trauringe,
und was nun gar – denn auch davon dürfe sich am Ende wohl sprechen
lassen – die Verlobungsringe angehe, so sei glücklicherweise die Gewähr
gegeben, daß einer davon in kürzester Frist in diesem Hause sichtbar
werden und den Ringfinger (und zwar hier in einem doppelten Sinne den
Ringfinger) eines kleinen hübschen Pätschelchens zieren werde...
»Unerhört«, raunte Sidonie dem Pastor zu.
»Ja,
meine Freunde«, fuhr Güldenklee mit gehobener Stimme fort, »viele Ringe
gibt es, und es gibt sogar eine Geschichte, die wir alle kennen, die die
Geschichte von den 'drei Ringen' heißt, eine Judengeschichte, die, wie
der ganze liberale Krimskrams, nichts wie Verwirrung und Unheil
gestiftet hat und noch stiftet. Gott bessere es. Und nun lassen Sie mich
schließen, um Ihre Geduld und Nachsicht nicht über Gebühr in Anspruch zu
nehmen. Ich bin nicht für diese drei Ringe, meine Lieben, ich bin
vielmehr für einen Ring, für einen Ring, der so recht ein Ring ist, wie
er sein soll, ein Ring, der alles Gute, was wir in unsrem altpommerschen
Kessiner Kreise haben, alles, was noch mit Gott für König und Vaterland
einsteht – und es sind ihrer noch einige (lauter Jubel) –, an diesem
seinem gastlichen Tisch vereinigt sieht. Für diesen Ring bin ich. Er
lebe hoch!«
Alles
stimmte ein und umdrängte Ring, der, solange das dauerte, das Amt des
»Einschenkens en cascade« an den ihm gegenübersitzenden Crampas abtreten
mußte; der Hauslehrer aber stürzte von seinem Platz am unteren Ende der
Tafel an das Klavier und schlug die ersten Takte des Preußenliedes an,
worauf alles stehend und feierlich einfiel: »Ich bin ein Preuße ... will
ein Preuße sein.«
»Es ist
doch etwas Schönes«, sagte gleich nach der ersten Strophe der alte
Borcke zu Innstetten, »so was hat man in anderen Ländern nicht.«
»Nein«,
antwortete Innstetten, der von solchem Patriotismus nicht viel hielt,
»in anderen Ländern hat man was anderes.«
Man
sang alle Strophen durch, dann hieß es, die Wagen seien vorgefahren, und
gleich danach erhob sich alles, um die Pferde nicht warten zu lassen.
Denn diese Rücksicht »auf die Pferde« ging auch im Kreise Kessin allem
anderen vor. Im Hausflur standen zwei hübsche Mägde, Ring hielt auf
dergleichen, um den Herrschaften beim Anziehen ihrer Pelze behilflich zu
sein. Alles war heiter angeregt, einige mehr als das, und das Einsteigen
in die verschiedenen Gefährte schien sich schnell und ohne Störung
vollziehen zu sollen, als es mit einemmal hieß, der Gieshüblersche
Schlitten sei nicht da. Gieshübler selbst war viel zu artig, um gleich
Unruhe zu zeigen oder gar Lärm zu machen; endlich aber, weil doch wer
das Wort nehmen mußte, fragte Crampas, was es denn eigentlich sei.
»Mirambo kann nicht fahren«, sagte der Hofknecht; »das linke Pferd hat
ihn beim Anspannen vor das Schienbein geschlagen. Er liegt im Stall und
schreit.«
Nun
wurde natürlich nach Doktor Hannemann gerufen, der denn auch hinausging
und nach fünf Minuten mit echter Chirurgenruhe versicherte: ja, Mirambo
müsse zurückbleiben; es sei vorläufig in der Sache nichts zu machen als
stilliegen und kühlen. Übrigens von Bedenklichem keine Rede. Das war nun
einigermaßen ein Trost, aber schaffte doch die Verlegenheit, wie der
Gieshüblersche Schlitten zurückzufahren sei, nicht aus der Welt, bis
Innstetten erklärte, daß er für Mirambo einzutreten und das Zwiegestirn
von Doktor und Apotheker persönlich glücklich heimzusteuern gedenke.
Lachend und unter ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den
verbindlichsten aller Landräte, der sich, um hilfreich zu sein, sogar
von seiner jungen Frau trennen wolle, wurde dem Vorschlag zugestimmt,
und Innstetten, mit Gieshübler und dem Doktor im Fond, nahm jetzt wieder
die Tete. Crampas und Lindequist folgten unmittelbar. Und als gleich
danach auch Kruse mit dem landrätlichen Schlitten vorfuhr, trat Sidonie
lächelnd an Effi heran und bat diese, da ja nun ein Platz frei sei, mit
ihr fahren zu dürfen. »In unserer Kutsche ist es immer so stickig; mein
Vater liebt das. Und außerdem, ich möchte so gerne mit Ihnen plaudern.
Aber nur bis Quappendorf. Wo der Morgnitzer Weg abzweigt, steig ich aus
und muß dann wieder in unseren unbequemen Kasten. Und Papa raucht auch
noch.«
Effi
war wenig erfreut über diese Begleitung und hätte die Fahrt lieber
allein gemacht; aber ihr blieb keine Wahl, und so stieg denn das
Fräulein ein, und kaum daß beide Damen ihre Plätze genommen hatten, so
gab Kruse den Pferden auch schon einen Peitschenknips, und von der
oberförsterlichen Rampe her, von der man einen prächtigen Ausblick auf
das Meer hatte, ging es die ziemlich steile Düne hinunter auf den
Strandweg zu, der, eine Meile lang, in beinahe gerader Linie bis an das
Kessiner Strandhotel und von dort aus, rechts einbiegend, durch die
Plantage hin in die Stadt führte.
Der
Schneefall hatte schon seit ein paar Stunden aufgehört, die Luft war
frisch, und auf das weite dunkelnde Meer fiel der matte Schein der
Mondsichel. Kruse fuhr hart am Wasser hin, mitunter den Schaum der
Brandung durchschneidend, und Effi, die etwas fröstelte, wickelte sich
fester in ihren Mantel und schwieg noch immer und mit Absicht. Sie wußte
recht gut, daß das mit der »stickigen Kutsche« bloß ein Vorwand gewesen
und daß sich Sidonie nur zu ihr gesetzt hatte, um ihr etwas Unangenehmes
zu sagen. Und das kam immer noch früh genug. Zudem war sie wirklich
müde, vielleicht von dem Spaziergange im Walde, vielleicht auch von dem
oberförsterlichen Punsch, dem sie, auf Zureden der neben ihr sitzenden
Frau von Flemming, tapfer zugesprochen hatte. Sie tat denn auch, als ob
sie schliefe, schloß die Augen und neigte den Kopf immer mehr nach
links.
»Sie
sollten sich nicht so sehr nach links beugen, meine gnädigste Frau.
Fährt der Schlitten auf einen Stein, so fliegen Sie hinaus. Ihr
Schlitten hat ohnehin kein Schutzleder und, wie ich sehe, auch nicht
einmal die Haken dazu.«
»Ich
kann die Schutzleder nicht leiden; sie haben so was Prosaisches. Und
dann, wenn ich hinausflöge, mir wär es recht, am liebsten gleich in die
Brandung. Freilich ein etwas kaltes Bad, aber was tut's ... Übrigens,
hören Sie nichts?«
»Nein.
«
»Hören
Sie nicht etwas wie Musik?«
Orgel?«
»Nein,
nicht Orgel. Da würd ich denken, es sei das Meer. Aber es ist etwas
anderes, ein unendlich feiner Ton, fast wie menschliche Stimme ...«
»Das
sind Sinnestäuschungen«, sagte Sidonie, die jetzt den richtigen
Einsetzmoment gekommen glaubte. »Sie sind nervenkrank. Sie hören
Stimmen. Gebe Gott, daß Sie auch die richtige Stimme hören.«
»Ich
höre ... nun, gewiß, es ist Torheit, ich weiß, sonst würd ich mir
einbilden, ich hätte die Meerfrauen singen hören ... Aber, ich bitte
Sie, was ist das? Es blitzt ja bis hoch in den Himmel hinauf. Das muß
ein Nordlicht sein.«
»Ja«,
sagte Sidonie. »Gnädigste Frau tun ja, als ob es ein Weltwunder wäre.
Das ist es nicht. Und wenn es dergleichen wäre, wir haben uns vor
Naturkultus zu hüten. Übrigens ein wahres Glück, daß wir außer Gefahr
sind, unsern Freund Oberförster, diesen eitelsten aller Sterblichen,
über dies Nordlicht sprechen zu hören. Ich wette, daß er sich einbilden
würde, das tue ihm der Himmel zu Gefallen, um sein Fest noch festlicher
zu machen. Er ist ein Narr. Güldenklee konnte Besseres tun, als ihn
feiern. Und dabei spielt er sich auf den Kirchlichen aus und hat auch
neulich eine Altardecke geschenkt. Vielleicht, daß Cora daran
mitgestickt hat. Diese Unechten sind schuld an allem, denn ihre
Weltlichkeit liegt immer obenauf und wird denen mit angerechnet, die's
ernst mit dem Heil ihrer Seele meinen.«
»Es ist
so schwer, ins Herz zu sehen!«
»Ja.
Das ist es. Aber bei manchem ist es auch ganz leicht.« Und dabei sah sie
die junge Frau mit beinahe ungezogener Eindringlichkeit an. Effi schwieg
und wandte sich ungeduldig zur Seite.
»Bei
manchem, sag ich, ist es ganz leicht«, wiederholte Sidonie, die ihren
Zweck erreicht hatte und deshalb ruhig lächelnd fortfuhr. »Und zu diesen
leichten Rätseln gehört unser Oberförster. Wer seine Kinder so erzieht,
den beklag ich, aber das eine Gute hat es, es liegt bei ihm alles klar
da. Und wie bei ihm selbst, so bei den Töchtern. Cora geht nach Amerika
und wird Millionärin oder Methodistenpredigerin; in jedem Fall ist sie
verloren. Ich habe noch keine Vierzehnjährige gesehen ...«
In
diesem Augenblick hielt der Schlitten, und als sich beide Damen umsahen,
um in Erfahrung zu bringen, was es denn eigentlich sei, bemerkten sie,
daß rechts von ihnen, in etwa dreißig Schritt Abstand, auch die beiden
anderen Schlitten hielten – am weitesten nach rechts der von Innstetten
geführte, näher heran der Crampassche.
»Was
ist?« fragte Effi.
Kruse
wandte sich halb herum und sagte: »Der Schloon, gnäd'ge Frau.«
»Der
Schloon? Was ist das? Ich sehe nichts.«
Kruse
wiegte den Kopf hin und her, wie wenn er ausdrücken wollte, daß die
Frage leichter gestellt als beantwortet sei.
Worin
er auch recht hatte. Denn was der Schloon sei, das war nicht so mit drei
Worten zu sagen. Kruse fand aber in seiner Verlegenheit alsbald Hilfe
bei dem gnädigen Fräulein, das hier mit allem Bescheid wußte und
natürlich auch mit dem Schloon.
»Ja,
meine gnädigste Frau«, sagte Sidonie, »da steht es schlimm. Für mich hat
es nicht viel auf sich, ich komme bequem durch; denn wenn erst die Wagen
heran sind, die haben hohe Räder, und unsere Pferde sind außerdem daran
gewöhnt. Aber mit solchem Schlitten ist es was anderes; die versinken im
Schloon, und Sie werden wohl oder übel einen Umweg machen müssen.«
»Versinken! Ich bitte Sie, mein gnädigstes Fräulein, ich sehe noch immer
nicht klar. Ist denn der Schloon ein Abgrund oder irgendwas, drin man
mit Mann und Maus zugrunde gehen muß? Ich kann mir so was hierzulande
gar nicht denken.«
»Und
doch ist es so was, nur freilich im kleinen; dieser Schloon ist
eigentlich bloß ein kümmerliches Rinnsal, das hier rechts vom Gothener
See herunterkommt und sich durch die Dünen schleicht. Und im Sommer
trocknet es mitunter ganz aus, und Sie fahren dann ruhig drüber hin und
wissen es nicht einmal.«
»Und im
Winter?«
»Ja, im
Winter, da ist es was anderes; nicht immer, aber doch oft. Da wird es
dann ein Sog.«
»Mein
Gott, was sind das nur alles für Namen und Wörter!«
»... Da
wird es ein Sog, und am stärksten immer dann, wenn der Wind nach dem
Lande hin steht. Dann drückt der Wind das Meerwasser in das kleine
Rinnsal hinein, aber nicht so, daß man es sehen kann. Und das ist das
Schlimmste von der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr. Alles
geht nämlich unterirdisch vor sich, und der ganze Strandsand ist dann
bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann
über solche Sandstelle weg will, die keine mehr ist, dann sinkt man ein,
als ob es ein Sumpf oder ein Moor wäre.«
»Das
kenn ich«, sagte Effi lebhaft. »Das ist wie in unsrem Luch«, und
inmitten all ihrer Ängstlichkeit wurde ihr mit einem Male ganz wehmütig
freudig zu Sinn.
Während
das Gespräch noch so ging und sich fortsetzte, war Crampas aus seinem
Schlitten ausgestiegen und auf den am äußersten Flügel haltenden
Gieshüblerschen zugeschritten, um hier mit Innstetten zu verabreden, was
nun wohl eigentlich zu tun sei. Knut, so meldete er, wolle die
Durchfahrt riskieren, aber Knut sei dumm und verstehe nichts von der
Sache; nur solche, die hier zu Hause seien, müßten die Entscheidung
treffen. Innstetten – sehr zu Crampas' Überraschung – war auch fürs
»Riskieren«, es müsse durchaus noch mal versucht werden ... er wisse
schon, die Geschichte wiederholte sich jedesmal: Die Leute hier hätten
einen Aberglauben und vorweg eine Furcht, während es doch eigentlich
wenig zu bedeuten habe. Nicht Knut, der wisse nicht Bescheid, wohl aber
Kruse solle noch einmal einen Anlauf nehmen und Crampas derweilen bei
den Damen einsteigen (ein kleiner Rücksitz sei ja noch da), um bei der
Hand zu sein, wenn der Schlitten umkippe. Das sei doch schließlich das
Schlimmste, was geschehen könne.
Mit
dieser Innstettenschen Botschaft erschien jetzt Crampas bei den beiden
Damen und nahm, als er lachend seinen Auftrag ausgeführt hatte, ganz
nach empfangener Order den kleinen Sitzplatz ein, der eigentlich nichts
als eine mit Tuch überzogene Leiste war, und rief Kruse zu: »Nun,
vorwärts, Kruse. «
Dieser
hatte denn auch die Pferde bereits um hundert Schritte zurückgezoppt und
hoffte, scharf anfahrend, den Schlitten glücklich durchbringen zu
können; im selben Augenblick aber, wo die Pferde den Schloon auch nur
berührten, sanken sie bis über die Knöchel in den Sand ein, so daß sie
nur mit Mühe nach rückwärts wieder heraus konnten.
»Es
geht nicht«, sagte Crampas, und Kruse nickte.
Während
sich dies abspielte, waren endlich auch die Kutschen herangekommen, die
Grasenabbsche vorauf, und als Sidonie, nach kurzem Dank gegen Effi, sich
verabschiedet und dem seine türkische Pfeife rauchenden Vater gegenüber
ihren Rückplatz eingenommen hatte, ging es mit dem Wagen ohne weiteres
auf den Schloon zu; die Pferde sanken tief ein, aber die Räder ließen
alle Gefahr leicht überwinden, und ehe eine halbe Minute vorüber war,
trabten auch schon die Grasenabbs drüben weiter. Die andern Kutschen
folgten. Effi sah ihnen nicht ohne Neid nach. Indessen nicht lange, denn
auch für die Schlittenfahrer war in der zwischenliegenden Zeit Rat
geschafft worden, und zwar einfach dadurch, daß sich Innstetten
entschlossen hatte, statt aller weiteren Forcierung das friedlichere
Mittel eines Umwegs zu wählen. Also genau das, was Sidonie gleich
anfangs in Sicht gestellt hatte. Vom rechten Flügel her klang des
Landrats bestimmte Weisung herüber, vorläufig diesseits zu bleiben und
ihm durch die Dünen hin bis an eine weiter hinauf gelegene Bohlenbrücke
zu folgen. Als beide Kutscher, Knut und Kruse, so verständigt waren,
trat der Major, der, um Sidonie zu helfen, gleichzeitig mit dieser
ausgestiegen war, wieder an Effi heran und sagte: »Ich kann Sie nicht
allein lassen, gnäd'ge Frau.«
Effi
war einen Augenblick unschlüssig, rückte dann aber rasch von der einen
Seite nach der anderen hinüber, und Crampas nahm links neben ihr Platz.
All
dies hätte vielleicht mißdeutet werden können, Crampas selbst aber war
zu sehr Frauenkenner, um es sich bloß in Eitelkeit zurechtzulegen. Er
sah deutlich, daß Effi nur tat, was nach Lage der Sache das einzig
Richtige war. Es war unmöglich für sie, sich seine Gegenwart zu
verbitten. Und so ging es denn im Fluge den beiden anderen Schlitten
nach, immer dicht an dem Wasserlauf hin, an dessen anderem Ufer dunkle
Waldmassen aufragten. Effi sah hinüber und nahm an, daß schließlich an
dem landeinwärts gelegenen Außenrand des Waldes hin die Weiterfahrt
gehen würde, genau also den Weg entlang, auf dem man in früher
Nachmittagsstunde gekommen war. Innstetten aber hatte sich inzwischen
einen anderen Plan gemacht, und im selben Augenblick, wo sein Schlitten
die Bohlenbrücke passierte, bog er, statt den Außenweg zu wählen, in
einen schmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte Waldmasse
hindurchführte. Effi schrak zusammen. Bis dahin waren Luft und Licht um
sie her gewesen, aber jetzt war es damit vorbei, und die dunklen Kronen
wölbten sich über ihr. Ein Zittern überkam sie, und sie schob die Finger
fest ineinander, um sich einen Halt zu geben Gedanken und Bilder jagten
sich, und eines dieser Bilder war das Mütterchen in dem Gedichte, das
die »Gottesmauer« hieß, und wie das Mütterchen, so betete auch sie
jetzt, daß Gott eine Mauer um sie her bauen möge. Zwei, drei Male kam es
auch über ihre Lippen, aber mit einemmal fühlte sie, daß es tote Worte
waren. Sie fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann
und wollte auch nicht heraus.
»Effi«,
klang es jetzt leise an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme
zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch
immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war
ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an.
Als sie
die Augen wieder öffnete, war man aus dem Wald heraus, und in geringer
Entfernung vor sich hörte sie das Geläut der vorauseilenden Schlitten.
Immer vernehmlicher klang es, und als man, dicht vor Utpatels Mühle, von
den Dünen her in die Stadt einbog, lagen rechts die kleinen Häuser mit
ihren Schneedächern neben ihnen.
Effi
blickte sich um, und im nächsten Augenblick hielt der Schlitten vor dem
landrätlichen Hause.
Zwanzigstes Kapitel
Innstetten, der Effi, als er sie aus dem Schlitten hob, scharf
beobachtete, aber doch ein Sprechen über die sonderbare Fahrt zu zweien
vermieden hatte, war am anderen Morgen früh auf und suchte seiner
Verstimmung, die noch nachwirkte, so gut es ging, Herr zu werden.
»Du
hast gut geschlafen?« sagte er, als Effi zum Frühstück kam.
»Ja.«
»Wohl
dir. Ich kann dasselbe von mir nicht sagen. Ich träumte, daß du mit dem
Schlitten im Schloon verunglückt seist, und Crampas mühte sich, dich zu
retten; ich muß es so nennen, aber er versank mit dir.«
»Du
sprichst das alles so sonderbar, Geert. Es verbirgt sich ein Vorwurf
dahinter, und ich ahne, weshalb.«
»Sehr
merkwürdig.«
»Du
bist nicht einverstanden damit, daß Crampas kam und uns seine Hilfe
anbot.«
»Uns?«
»Ja,
uns. Sidonien und mir. Du mußt durchaus vergessen haben, daß der Major
in deinem Auftrag kam. Und als er mir erst gegenübersaß, beiläufig
jämmerlich genug auf der elenden schmalen Leiste, sollte ich ihn da
ausweisen, als die Grasenabbs kamen und mit einem Male die Fahrt
weiterging? Ich hätte mich lächerlich gemacht, und dagegen bist du doch
so empfindlich. Erinnere dich, daß wir unter deiner Zustimmung viele
Male gemeinschaftlich spazierengeritten sind, und nun sollte ich nicht
gemeinschaftlich mit ihm fahren? Es ist falsch, so hieß es bei uns zu
Haus, einem Edelmanne Mißtrauen zu zeigen.«
»Einem
Edelmanne«, sagte Innstetten mit Betonung.
»Ist er
keiner? Du hast ihn selbst einen Kavalier genannt, sogar einen perfekten
Kavalier.«
»Ja«,
fuhr Innstetten fort, und seine Stimme wurde freundlicher, trotzdem ein
leiser Spott noch darin nachklang. »Kavalier, das ist er, und ein
perfekter Kavalier, das ist er nun schon ganz gewiß. Aber Edelmann!
Meine liebe Effi, ein Edelmann sieht anders aus. Hast du schon etwas
Edles an ihm bemerkt? Ich nicht.«
Effi
sah vor sich hin und schwieg.
»Es
scheint, wir sind gleicher Meinung. Im übrigen, wie du schon sagtest,
bin ich selber schuld; von einem Fauxpas mag ich nicht sprechen, das ist
in diesem Zusammenhang kein gutes Wort. Also selber schuld, und es soll
nicht wieder vorkommen, soweit ich's hindern kann. Aber auch du, wenn
ich dir raten darf, sei auf deiner Hut. Er ist ein Mann der
Rücksichtslosigkeiten und hat so seine Ansichten über junge Frauen. Ich
kenne ihn von früher.«
»Ich
werde mir deine Worte gesagt sein lassen. Nur soviel, ich glaube, du
verkennst ihn.«
»Ich
verkenne ihn nicht.«
»Oder
mich«, sagte sie mit einer Kraftanstrengung und versuchte seinem Blick
zu begegnen.
»Auch
dich nicht, meine liebe Effi Du bist eine reizende kleine Frau, aber
Festigkeit ist nicht eben deine Spezialität.«
Er
erhob sich, um zu gehen. Als er bis an die Tür gegangen war, trat
Friedrich ein, um ein Gieshüblersches Billett abzugeben, das natürlich
an die gnädige Frau gerichtet war.
Effi
nahm es. »Eine Geheimkorrespondenz mit Gieshüb1er«, sagte sie; »Stoff zu
neuer Eifersucht für meinen gestrengen Herrn. Oder nicht?«
»Nein,
nicht ganz, meine liebe Effi. Ich begehe die Torheit, zwischen Crampas
und Gieshübler einen Unterschied zu machen. Sie sind sozusagen nicht von
gleichem Karat; nach Karat berechnet man nämlich den reinen Goldeswert,
unter Umständen auch der Menschen. Mir persönlich, um auch das noch zu
sagen, ist Gieshüblers weißes Jabot, trotzdem kein Mensch mehr Jabots
trägt, erheblich lieber als Crampas' rot-blonder Sappeurbart. Aber ich
bezweifle, daß dies weiblicher Geschmack ist.«
»Du
hältst uns für schwächer, als wir sind.«
»Eine
Tröstung von praktisch außerordentlicher Geringfügigkeit. Aber lassen
wir das. Lies lieber.«
Und
Effi las: »Darf ich mich nach der gnäd'gen Frau Befinden erkundigen? Ich
weiß nur, daß Sie dem Schloon glücklich entronnen sind; aber es blieb
auch durch den Wald immer noch Fährlichkeit genug. Eben kommt Doktor
Hannemann von Uvagla zurück und beruhigt mich über Mirambo; gestern habe
er die Sache für bedenklicher angesehen, als er uns habe sagen wollen,
heute nicht mehr. Es war eine reizende Fahrt. – In drei Tagen feiern wir
Silvester. Auf eine Festlichkeit wie die vorjährige müssen wir
verzichten; aber einen Ball haben wir natürlich, und Sie erscheinen zu
sehen würde die Tanzwelt beglücken und nicht am wenigsten Ihren
respektvollst ergebenen Alonzo G.«
Effi
lachte. »Nun, was sagst du?«
»Nach
wie vor nur das eine, daß ich dich lieber mit Gieshübler als mit Crampas
sehe.«
»Weil
du den Crampas zu schwer und den Gieshübler zu leicht nimmst.«
Innstetten drohte ihr scherzhaft mit dem Finger.
Drei
Tage später war Silvester. Effi erschien in einer reizenden
Balltoilette, einem Geschenk, das ihr der Weihnachtstisch gebracht
hatte; sie tanzte aber nicht, sondern nahm ihren Platz bei den alten
Damen, für die, ganz in der Nähe der Musikempore, die Fauteuils gestellt
waren. Von den adligen Familien, mit denen Innstettens vorzugsweise
verkehrten, war niemand da, weil kurz vorher ein kleines Zerwürfnis mit
dem städtischen Ressourcenvorstand, der, namentlich seitens des alten
Güldenklee, mal wieder »destruktiver Tendenzen« beschuldigt worden war,
stattgefunden hatte; drei, vier andere adlige Familien aber, die nicht
Mitglieder der Ressource, sondern immer nur geladene Gäste waren und
deren Güter an der anderen Seite der Kessine lagen, waren aus zum Teil
weiter Entfernung über das Flußeis gekommen und freuten sich, an dem
Fest teilnehmen zu können. Effi saß zwischen der alten
Ritterschaftsrätin von Padden und einer etwas jüngeren Frau von
Titzewitz.
Die
Ritterschaftsrätin, eine vorzügliche alte Dame, war in allen Stücken ein
Original und suchte das, was die Natur, besonders durch starke
Backenknochenbildung, nach der wendisch-heidnischen Seite hin für sie
getan hatte, durch christlich-germanische Glaubensstrenge wieder in
Ausgleich zu bringen.
In
dieser Strenge ging sie so weit, daß selbst Sidonie von Grasenabb eine
Art Esprit fort neben ihr war, wogegen sie freilich – vielleicht weil
sich die Radegaster und die Swantowiter Linie des Hauses in ihr
vereinigten – über jenen alten Paddenhumor verfügte, der von langer Zeit
her wie ein Segen auf der Familie ruhte und jeden, der mit derselben in
Berührung kam, auch wenn es Gegner in Politik und Kirche waren, herzlich
erfreute.
»Nun,
Kind«, sagte die Ritterschaftsrätin, »wie geht es Ihnen denn
eigentlich?«
»Gut,
gnädigste Frau; ich habe einen sehr ausgezeichneten Mann. «
»Weiß
ich. Aber das hilft nicht immer. Ich hatte auch einen ausgezeichneten
Mann. Wie steht es hier? Keine Anfechtungen?«
Effi
erschrak und war zugleich wie gerührt.
Es lag
etwas ungemein Erquickliches in dem freien und natürlichen Ton, in dem
die alte Dame sprach, und daß es eine so fromme Frau war, das machte die
Sache nur noch erquicklicher.
»Ach,
gnädigste Frau ...«
»Da
kommt es schon. Ich kenne das. Immer dasselbe. Darin ändern die Zeiten
nichts. Und vielleicht ist es auch recht gut so. Denn worauf es ankommt,
meine liebe junge Frau, das ist das Kämpfen. Man muß immer ringen mit
dem natürlichen Menschen. Und wenn man sich dann so unter hat und beinah
schreien möchte, weil's weh tut, dann jubeln die lieben Engel!«
»Ach,
gnädigste Frau. Es ist oft recht schwer.«
»Freilich ist es schwer. Aber je schwerer, desto besser. Darüber müssen
Sie sich freuen. Das mit dem Fleisch, das bleibt, und ich habe Enkel und
Enkelinnen, da seh ich es jeden Tag. Aber im Glauben sich unterkriegen,
meine liebe Frau, darauf kommt es an, das ist das Wahre. Das hat uns
unser alter Martin Luther zur Erkenntnis gebracht, der Gottesmann.
Kennen Sie seine Tischreden?«
»Nein,
gnädigste Frau.«
»Die
werde ich Ihnen schicken.«
In
diesem Augenblick trat Major Crampas an Effi heran und bat, sich nach
ihrem Befinden erkundigen zu dürfen. Effi war wie mit Blut übergossen;
aber ehe sie noch antworten konnte, sagte Crampas: »Darf ich Sie bitten,
gnädigste Frau, mich den Damen vorstellen zu wollen?«
Effi
nannte nun Crampas' Namen, der seinerseits schon vorher vollkommen
orientiert war und in leichtem Geplauder alle Paddens und Titzewitze,
von denen er je gehört hatte, Revue passieren ließ. Zugleich
entschuldigte er sich, den Herrschaften jenseits der Kessine noch immer
nicht seinen Besuch gemacht und seine Frau vorgestellt zu haben; aber es
sei sonderbar, welche trennende Macht das Wasser habe. Es sei dasselbe
wie mit dem Canal La Manche ...
»Wie?«
fragte die alte Titzewitz.
Crampas
seinerseits hielt es für unangebracht, Aufklärungen zu geben, die doch
zu nichts geführt haben würden, und fuhr fort: »Auf zwanzig Deutsche,
die nach Frankreich gehen, kommt noch nicht einer, der nach England
geht. Das macht das Wasser; ich wiederhole, das Wasser hat eine
scheidende Kraft.«
Frau
von Padden, die darin mit feinem Instinkt etwas Anzügliches witterte,
wollte für das Wasser eintreten, Crampas aber sprach mit immer
wachsendem Redefluß weiter und lenkte die Aufmerksamkeit der Damen auf
ein schönes Fräulein von Stojentin, »das ohne Zweifel die Ballkönigin«
sei, wobei sein Blick übrigens Effi bewundernd streifte. Dann empfahl er
sich rasch unter Verbeugung gegen alle drei. »Schöner Mann«, sagte die
Padden. »Verkehrt er in Ihrem Hause?«
»Flüchtig.«
»Wirklich«, wiederholte die Padden, »ein schöner Mann. Ein bißchen zu
sicher. Und Hochmut kommt vor dem Fall ... Aber sehen Sie nur, da tritt
er wirklich mit der Grete Stojentin an. Eigentlich ist er doch zu alt;
wenigstens Mitte Vierzig.«
»Er
wird vierundvierzig.«
»Ei,
ei, Sie scheinen ihn ja gut zu kennen.«
Es kam
Effi sehr zupaß, daß das neue Jahr gleich in seinem Anfang allerlei
Aufregungen brachte. Seit Silvesternacht ging ein scharfer Nordost, der
sich in den nächsten Tagen fast bis zum Sturm steigerte, und am 3.
Januar nachmittags hieß es, daß ein Schiff draußen mit der Einfahrt
nicht zustande gekommen und hundert Schritt vor der Mole gescheitert
sei; es sei ein englisches, von Sunderland her, und soweit sich erkennen
lasse, sieben Mann an Bord; die Lotsen könnten beim Ausfahren, trotz
aller Anstrengung, nicht um die Mole herum, und vom Strand aus ein Boot
abzulassen, daran sei nun vollends nicht zu denken, die Brandung sei
viel zu stark. Das klang traurig genug. Aber Johanna, die die Nachricht
brachte, hatte doch auch Trost bei der Hand: Konsul Eschrich, mit dem
Rettungsapparat und der Raketenbatterie, sei schon unterwegs, und es
würde gewiß glücken; die Entfernung sei nicht voll so weit wie Anno 75,
wo's doch auch gegangen, und sie hätten damals sogar den Pudel mit
gerettet, und es wäre ordentlich rührend gewesen, wie sich das Tier
gefreut und die Kapitänsfrau und das liebe kleine Kind, nicht viel
größer als Anniechen, immer wieder mit seiner roten Zunge geleckt habe.
»Geert,
da muß ich mit hinaus, das muß ich sehen«, hatte Effi sofort erklärt,
und beide waren aufgebrochen, um nicht zu spät zu kommen, und hatten
denn auch den rechten Moment abgepaßt; denn im Augenblick, als sie von
der Plantage her den Strand erreichten, fiel der erste Schuß, und sie
sahen ganz deutlich, wie die Rakete mit dem Fangseil unter dem
Sturmgewölk hinflog und über das Schiff hinweg jenseits niederfiel. Alle
Hände regten sich sofort an Bord, und nun holten sie mit Hilfe der
kleinen Leine das dickere Tau samt dem Korb heran, und nicht lange, so
kam der Korb in einer Art Kreislauf wieder zurück, und einer der
Matrosen, ein schlanker, bildhübscher Mensch mit einer wachsleinenen
Kappe, war geborgen an Land und wurde neugierig ausgefragt, während der
Korb aufs neue seinen Weg machte, zunächst den zweiten und dann den
dritten heranzuholen und so fort. Alle wurden gerettet, und Effi hätte
sich, als sie nach einer halben Stunde mit ihrem Manne wieder heimging,
in die Dünen werfen und sich ausweinen mögen. Ein schönes Gefühl hatte
wieder Platz in ihrem Herzen gefunden, und es beglückte sie unendlich,
daß es so war.
Das war
am 3. gewesen. Schon am 5. kam ihr eine neue Aufregung, freilich ganz
anderer Art. Innstetten hatte Gieshübler, der natürlich auch Stadtrat
und Magistratsmitglied war, beim Herauskommen aus dem Rathaus getroffen
und im Gespräch mit ihm erfahren, daß seitens des Kriegsministeriums
angefragt worden sei, wie sich die Stadtbehörden eventuell zur
Garnisonsfrage zu stellen gedächten. Bei nötigem Entgegenkommen, also
bei Bereitwilligkeit zu Stall- und Kasernenbauten, könnten ihnen zwei
Schwadronen Husaren zugesagt werden. »Nun, Effi, was sagst du dazu?«
Effi war wie benommen. All das unschuldige Glück ihrer Kinderjahre stand
mit einemmal wieder vor ihrer Seele, und im Augenblick war es ihr, als
ob rote Husaren – denn es waren auch rote wie daheim in Hohen-Cremmen –
so recht eigentlich die Hüter von Paradies und Unschuld seien. Und dabei
schwieg sie noch immer.
»Du
sagst ja nichts, Effi.«
»Ja,
sonderbar, Geert. Aber es beglückt mich so, daß ich vor Freude nichts
sagen kann. Wird es denn auch sein? Werden sie denn auch kommen?«
»Damit
hat's freilich noch gute Wege, ja, Gieshübler meinte sogar, die Väter
der Stadt, seine Kollegen, verdienten es gar nicht. Statt einfach über
die Ehre, und wenn nicht über die Ehre, so doch wenigstens über den
Vorteil einig und glücklich zu sein, wären sie mit allerlei 'Wenns' und
'Abers' gekommen und hätten geknausert wegen der neuen Bauten: Ja,
Pefferküchler Michelsen habe sogar gesagt, es verderbe die Sitten der
Stadt, und wer eine Tochter habe, der möge sich vorsehen und
Gitterfenster anschaffen.
»Es ist
nicht zu glauben. Ich habe nie manierlichere Leute gesehen als unsere
Husaren; wirklich, Geert. Nun, du weißt es ja selbst. Und nun will
dieser Michelsen alles vergittern. Hat er denn Töchter?«
»Gewiß;
sogar drei. Aber sie sind sämtlich hors concours.« Effi lachte so
herzlich, wie sie seit langem nicht mehr gelacht hatte. Doch es war von
keiner Dauer, und als Innstetten ging und sie allein ließ, setzte sie
sich an die Wiege des Kindes, und ihre Tränen fielen auf die Kissen. Es
brach wieder über sie herein, und sie fühlte, daß sie wie eine Gefangene
sei und nicht mehr heraus könne.
Sie
litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl sie starker
Empfindungen fähig war, so war sie doch keine starke Natur; ihr fehlte
die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen wieder vorüber.
So trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht ändern konnte, morgen,
weil sie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte
seine Macht über sie.
So kam
es, daß sie sich, von Natur frei und offen, in ein verstecktes
Komödienspiel mehr und mehr hineinlebte. Mitunter erschrak sie, wie
leicht es ihr wurde. Nur in einem blieb sie sich gleich: Sie sah alles
klar und beschönigte nichts. Einmal trat sie spätabends vor den Spiegel
in ihrer Schlafstube; die Lichter und Schatten flogen hin und her, und
Rollo schlug draußen an, und im selben Augenblick war es ihr, als sähe
ihr wer über die Schulter. Aber sie besann sich rasch. »Ich weiß schon,
was es ist; es war nicht der«, und sie wies mit dem Finger nach dem
Spukzimmer oben. »Es war was anderes ... mein Gewissen ... Effi, du bist
verloren.«
Es ging
aber doch weiter so, die Kugel war im Rollen, und was an einem Tage
geschah, machte das Tun des andern zur Notwendigkeit. Um die Mitte des
Monats kamen Einladungen aufs Land. Über die dabei innezuhaltende
Reihenfolge hatten sich die vier Familien, mit denen Innstettens
vorzugsweise verkehrten, geeinigt: Die Borckes sollten beginnen, die
Flemmings und Grasenabbs folgten, die Güldenklees schlossen ab. Immer
eine Woche dazwischen. Alle vier Einladungen kamen am selben Tag; sie
sollten ersichtlich den Eindruck des Ordentlichen und Wohlerwogenen
machen, auch wohl den einer besonderen freundschaftlichen
Zusammengehörigkeit.
»Ich
werde nicht dabeisein, Geert, und du mußt mich der Kur halber, in der
ich nun seit Wochen stehe, von vornherein entschuldigen.«
Innstetten lachte. »Kur. Ich soll es auf die Kur schieben. Das ist das
Vorgebliche; das Eigentliche heißt: du willst nicht.«
Nein,
es ist doch mehr Ehrlichkeit dabei, als du zugeben willst. Du hast
selbst gewollt, daß ich den Doktor zu Rate ziehe. Das hab ich getan, und
nun muß ich doch seinem Rat folgen. Der gute Doktor, er hält mich für
bleichsüchtig, sonderbar genug, und du weißt, daß ich jeden Tag von dem
Eisenwasser trinke. Wenn du dir ein Borckesches Diner dazu vorstellst,
vielleicht mit Preßkopf und Aal in Aspik, so mußt du den Eindruck haben,
es wäre mein Tod. Und so wirst du dich doch zu deiner Effi nicht stellen
wollen. Freilich, mitunter ist es mir ...«
»Ich
bitte dich, Effi ...«
»...
Übrigens freu ich mich, und das ist das einzige Gute dabei, dich
jedesmal, wenn du fährst, eine Strecke Wegs begleiten zu können, bis an
die Mühle gewiß oder bis an den Kirchhof oder auch bis an die Waldecke,
da, wo der Morgnitzer Querweg einmündet. Und dann steig ich ab und
schlendere wieder zurück. In den Dünen ist es immer am schönsten. «
Innstetten war einverstanden, und als drei Tage später der Wagen
vorfuhr, stieg Effi mit auf und gab ihrem Manne das Geleit bis an die
Waldecke. »Hier laß halten, Geert. Du fährst nun links weiter, ich gehe
rechts bis an den Strand und durch die Plantage zurück. Es ist etwas
weit, aber doch nicht zu weit. Doktor Hannemann sagt mir jeden Tag,
Bewegung sei alles, Bewegung und frische Luft. Und ich glaube beinah,
daß er recht hat. Empfiehl mich all den Herrschaften; nur bei Sidonie
kannst du schweigen.«
Die
Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis an die Waldecke begleitete,
wiederholten sich allwöchentlich; aber auch in der zwischenliegenden
Zeit hielt Effi darauf, daß sie der ärztlichen Verordnung streng
nachkam. Es verging kein Tag, wo sie nicht ihren vorgeschriebenen
Spaziergang gemacht hätte, meist nachmittags, wenn sich Innstetten in
seine Zeitungen zu vertiefen begann. Das Wetter war schön, eine milde,
frische Luft, der Himmel bedeckt. Sie ging in der Regel allein und sagte
zu Roswitha: »Roswitha, ich gehe nun also die Chaussee hinunter und dann
rechts an den Platz mit dem Karussell; da will ich auf dich warten, da
hole mich ab. Und dann gehen wir durch die Birkenallee oder durch die
Reeperbahn wieder zurück. Aber komme nur, wenn Annie schläft. Und wenn
sie nicht schläft, so schicke Johanna. Oder laß es lieber ganz; es ist
nicht nötig, ich finde mich schon zurecht.«
Den
ersten Tag, als es so verabredet war, trafen sie sich auch wirklich.
Effi saß auf einer an einem langen Holzschuppen sich hinziehenden Bank
und sah nach einem niedrigen Fachwerkhaus hinüber, gelb mit
schwarzgestrichenen Balken, einer Wirtschaft für kleine Bürger, die hier
ihr Glas Bier tranken oder Solo spielten. Es dunkelte noch kaum, die
Fenster aber waren schon hell, und ihr Lichtschimmer fiel auf die
Schneemassen und etliche zur Seite stehende Bäume. »Sieh, Roswitha, wie
schön das aussieht.«
Ein
paar Tage wiederholte sich das. Meist aber, wenn Roswitha bei dem
Karussell und dem Holzschuppen ankam, war niemand da, und wenn sie dann
zurückkam und in den Hausflur eintrat, kam ihr Effi schon entgegen und
sagte:
»Wo du
nur bleibst, Roswitha, ich bin schon lange wieder hier.«
In
dieser Art ging es durch Wochen hin. Das mit den Husaren hatte sich
wegen der Schwierigkeiten, die die Bürgerschaft machte, so gut wie
zerschlagen; aber da die Verhandlungen noch nicht geradezu abgeschlossen
waren und neuerdings durch eine andere Behörde, das Generalkommando,
gingen, so war Crampas nach Stettin berufen worden, wo man seine Meinung
in dieser Angelegenheit hören wollte. Von dort schrieb er den zweiten
Tag an Innstetten:
»Pardon, Innstetten, daß ich mich auf französisch empfohlen. Es kam
alles so schnell. Ich werde übrigens die Sache hinauszuspinnen suchen,
denn man ist froh, einmal draußen zu sein. Empfehlen Sie mich der
gnädigen Frau, meiner liebenswürdigen Gönnerin.«
Er las
es Effi vor. Diese blieb ruhig. Endlich sagte sie: »Es ist recht gut
so.«
»Wie
meinst du das?«
»Daß er
fort ist. Er sagt eigentlich immer dasselbe. Wenn er wieder da ist, wird
er wenigstens vorübergehend was Neues zu sagen haben.«
Innstettens Blick flog scharf über sie hin. Aber er sah nichts, und sein
Verdacht beruhigte sich wieder. »Ich will auch fort«, sagte er nach
einer Weile, »sogar nach Berlin; vielleicht kann ich dann, wie Crampas,
auch mal was Neues mitbringen. Meine liebe Effi will immer gern was
Neues hören; sie langweilt sich in unserm guten Kessin. Ich werde gegen
acht Tage fort sein, vielleicht noch einen Tag länger. Und ängstige dich
nicht ... es wird ja wohl nicht wiederkommen ... du weißt schon, das da
oben ... Und wenn doch, du hast ja Rollo und Roswitha.«
Effi
lächelte vor sich hin, und es mischte sich etwas von Wehmut mit ein. Sie
mußte des Tages gedenken, wo Crampas ihr zum erstenmal gesagt hatte, daß
er mit dem Spuk und ihrer Furcht eine Komödie spiele. Der große
Erzieher! Aber hatte er nicht recht? War die Komödie nicht am Platz? Und
allerhand Widerstreitendes, Gutes und Böses, ging ihr durch den Kopf.
Den
dritten Tag reiste Innstetten ab.
Über
das, was er in Berlin vorhabe, hatte er nichts gesagt.
Einundzwanzigstes Kapitel
Innstetten war erst vier Tage fort, als Crampas von Stettin wieder
eintraf und die Nachricht brachte, man hätte höheren Orts die Absicht,
zwei Schwadronen nach Kessin zu legen, endgültig fallenlassen; es gäbe
so viele kleine Städte, die sich um eine Kavalleriegarnison, und nun gar
um Blüchersche Husaren, bewürben, daß man gewohnt sei, bei solchem
Anerbieten einem herzlichen Entgegenkommen, aber nicht einem zögernden
zu begegnen. Als Crampas das mitteilte, machte der Magistrat ein
ziemlich verlegenes Gesicht; nur Gieshübler, weil er der Philisterei
seiner Kollegen eine Niederlage gönnte, triumphierte. Seitens der
kleinen Leute griff beim Bekanntwerden der Nachricht eine gewisse
Verstimmung Platz, ja selbst einige Konsuls mit Töchtern waren momentan
unzufrieden; im ganzen aber kam man rasch über die Sache hin, vielleicht
weil die nebenherlaufende Frage, was Innstetten in Berlin vorhabe, die
Kessiner Bevölkerung oder doch wenigstens die Honoratiorenschaft der
Stadt mehr interessierte. Diese wollte den überaus wohl gelittenen
Landrat nicht gern verlieren, und doch gingen darüber ganz
ausschweifende Gerüchte, die von Gieshübler, wenn er nicht ihr Erfinder
war, wenigstens genährt und weiterverbreitet wurden. Unter anderem hieß
es, Innstetten würde als Führer einer Gesandtschaft nach Marokko gehen,
und zwar mit Geschenken, unter denen nicht bloß die herkömmliche Vase
mit Sanssouci und dem Neuen Palais, sondern vor allem auch eine große
Eismaschine sei. Das letztere erschien mit Rücksicht auf die
marokkanischen Temperaturverhältnisse so wahrscheinlich, daß das Ganze
geglaubt wurde.
Effi
hörte auch davon. Die Tage, wo sie sich darüber erheitert hätte, lagen
noch nicht allzuweit zurück; aber in der Seelenstimmung, in der sie sich
seit Schluß des Jahres befand, war sie nicht mehr fähig, unbefangen und
ausgelassen über derlei Dinge zu lachen. Ihre Gesichtszüge hatten einen
ganz anderen Ausdruck angenommen, und das halb rührend, halb schelmisch
Kindliche, was sie noch als Frau gehabt hatte, war hin. Die Spaziergänge
nach dem Strand und der Plantage, die sie, während Crampas in Stettin
war, aufgegeben hatte, nahm sie nach seiner Rückkehr wieder auf und ließ
sich auch durch ungünstige Witterung nicht davon abhalten. Es wurde wie
früher bestimmt, daß ihr Roswitha bis an den Ausgang der Reeperbahn oder
bis in die Nähe des Kirchhofs entgegenkommen solle, sie verfehlten sich
aber noch häufiger als früher. »Ich könnte dich schelten, Roswitha, daß
du mich nie findest. Aber es hat nichts auf sich; ich ängstige mich
nicht mehr, auch nicht einmal am Kirchhof, und im Wald bin ich noch
keiner Menschenseele begegnet.«
Es war
am Tage vor Innstettens Rückkehr von Berlin, daß Effi das sagte.
Roswitha machte nicht viel davon und beschäftigte sich lieber damit,
Girlanden über den Türen anzubringen; auch der Haifisch bekam einen
Fichtenzweig und sah noch merkwürdiger aus als gewöhnlich. Effi sagte:
»Das ist recht, Roswitha; er wird sich freuen über all das Grün, wenn er
morgen wieder da ist. Ob ich heute wohl noch gehe? Doktor Hannemann
besteht darauf und meint in einem fort, ich nähme es nicht ernst genug,
sonst müßte ich besser aussehen; ich habe aber keine rechte Lust heut,
es nieselt, und der Himmel ist so grau.«
»Ich
werde der gnäd'gen Frau den Regenmantel bringen.«
»Das
tu! Aber komme heute nicht nach, wir treffen uns ja doch nicht«, und sie
lachte. »Wirklich, du bist gar nicht findig, Roswitha. Und ich mag
nicht, daß du dich erkältest, und alles um nichts. «
Roswitha blieb denn auch zu Haus, und weil Annie schlief, ging sie zu
Kruses, um mit der Frau zu plaudern. »Liebe Frau Kruse«, sagte sie, »Sie
wollten mir ja das mit dem Chinesen noch erzählen. Gestern kam die
Johanna dazwischen, die tut immer so vornehm, für die ist so was nichts.
Ich glaube aber doch, daß es was gewesen ist, ich meine mit dem Chinesen
und mit Thomsens Nichte, wenn es nicht seine Enkelin war.«
Die
Kruse nickte.
»Entweder«, fuhr Roswitha fort, »war es eine unglückliche Liebe (die
Kruse nickte wieder), oder es kann auch eine glückliche gewesen sein,
und der Chinese konnte es bloß nicht aushalten, daß es alles mit
einemmal so wieder vorbei sein sollte. Denn die Chinesen sind doch auch
Menschen, und es wird wohl alles ebenso mit ihnen sein wie mit uns.«
Alles«,
versicherte die Kruse und wollte dies eben durch ihre Geschichte
bestätigen, als ihr Mann eintrat und sagte: »Mutter, du könntest mir die
Flasche mit dem Lederlack geben; ich muß doch das Sielenzeug blank
haben, wenn der Herr morgen wieder da ist; der sieht alles, und wenn er
auch nichts sagt, so merkt man doch, daß er's gesehen hat.«
»Ich
bringe es Ihnen raus, Kruse«, sagte Roswitha. »Ihre Frau will mir bloß
noch was erzählen; aber es ist gleich aus, und dann komm ich und bring
es.«
Roswitha, die Flasche mit dem Lack in der Hand, kam denn auch ein paar
Minuten danach auf den Hof hinaus und stellte sich neben das Sielenzeug,
das Kruse eben über den Gartenzaun gelegt hatte. »Gott«, sagte er,
während er ihr die Flasche aus der Hand nahm, »viel hilft es ja nicht,
es nieselt in einem weg, und die Blänke vergeht doch wieder. Aber ich
denke, alles muß seine Ordnung haben.«
»Das
muß es. Und dann, Kruse, es ist ja doch auch ein richtiger Lack, das
kann ich gleich sehen, und was ein richtiger Lack ist, der klebt nicht
lange, der muß gleich trocknen. Und wenn es dann morgen nebelt oder naß
fällt, dann schadet es nichts mehr. Aber das muß ich doch sagen, das mit
dem Chinesen ist eine merkwürdige Geschichte.«
Kruse
lachte. »Unsinn is es, Roswitha. Und meine Frau, statt aufs Richtige zu
sehen, erzählt immer so was, un wenn ich ein reines Hemd anziehen will,
fehlt ein Knopp. Un so is es nu schon, solange wir hier sind. Sie hat
immer bloß solche Geschichten in ihrem Kopp und dazu das schwarze Huhn.
Un das schwarze Huhn legt nich mal Eier. Un am Ende, wovon soll es auch
Eier legen? Es kommt ja nich ,raus, und vons bloße Kikeriki kann doch so
was nich kommen. Das is von keinem Huhn nich zu verlangen.«
»Hören
Sie, Kruse, das werde ich Ihrer Frau wiedererzählen. Ich habe Sie immer
für einen anständigen Menschen gehalten, und nun sagen Sie so was wie
das da von Kikeriki. Die Mannsleute sind doch immer noch schlimmer, als
man denkt. Un eigentlich müßt ich nu gleich den Pinsel hier nehmen und
Ihnen einen schwarzen Schnurrbart anmalen.«
»Nu,
von Ihnen, Roswitha, kann man sich das schon gefallen lassen«, und
Kruse, der meist den Würdigen spielte, schien in einen mehr und mehr
schäkrigen Ton übergehen zu wollen, als er plötzlich der gnädigen Frau
ansichtig wurde, die heute von der anderen Seite der Plantage herkam und
in ebendiesem Augenblicke den Gartenzaun passierte.
»Guten
Tag, Roswitha, du bist ja so ausgelassen. Was macht denn Annie?«
»Sie
schläft, gnäd'ge Frau.«
Aber
Roswitha, als sie das sagte, war doch rot geworden und ging, rasch
abbrechend, auf das Haus zu, um der gnädigen Frau beim Umkleiden
behilflich zu sein. Denn ob Johanna da war, das war die Frage. Die
steckte jetzt viel auf dem »Amt« drüben, weil es zu Haus weniger zu tun
gab, und Friedrich und Christel waren ihr zu langweilig und wußten nie
was.
Annie
schlief noch. Effi beugte sich über die Wiege, ließ sich dann Hut und
Regenmantel abnehmen und setzte sich auf das kleine Sofa in ihrer
Schlafstube. Das feuchte Haar strich sie langsam zurück, legte die Füße
auf einen niedrigen Stuhl, den Roswitha herangeschoben, und sagte,
während sie sichtlich das Ruhebehagen nach einem ziemlich langen
Spaziergang genoß: »Ich muß dich darauf aufmerksam machen, Roswitha, daß
Kruse verheiratet ist.«
»Ich
weiß, gnäd'ge Frau.«
»Ja,
was weiß man nicht alles und handelt doch, als ob man es nicht wüßte.
Das kann nie was werden.«
»Es
soll ja auch nichts werden, gnäd'ge Frau ...«
»Denn
wenn du denkst, sie sei krank, da machst du die Rechnung ohne den Wirt.
Die Kranken leben am längsten. Und dann hat sie das schwarze Huhn. Vor
dem hüte dich, das weiß alles und plaudert alles aus. Ich weiß nicht,
ich habe einen Schauder davor. Und ich wette, daß das alles da oben mit
dem Huhn zusammenhängt.«
»Ach,
das glaub ich nicht. Aber schrecklich ist es doch. Und Kruse, der immer
gegen seine Frau ist, kann es mir nicht ausreden.«
»Was
sagte der?«
»Er
sagte, es seien bloß Mäuse.«
»Nun,
Mäuse, das ist auch gerade schlimm genug. Ich kann keine Mäuse leiden.
Aber ich sah ja deutlich, wie du mit dem Kruse schwatztest und
vertraulich tatst, und ich glaube sogar, du wolltest ihm einen
Schnurrbart anmalen. Das ist doch schon sehr viel. Und nachher sitzt du
da. Du bist ja noch eine schmucke Person und hast so was. Aber sieh dich
vor, soviel kann ich dir bloß sagen. Wie war es denn eigentlich das
erstemal mit dir? Ist es so, daß du mir's erzählen kannst?«
»Ach,
ich kann schon. Aber schrecklich war es. Und weil es so schrecklich war,
drum können gnäd'ge Frau auch ganz ruhig sein, von wegen dem Kruse. Wem
es so gegangen ist wie mir, der hat genug davon und paßt auf. Mitunter
träume ich noch davon, und dann bin ich den andern Tag wie zerschlagen.
Solche grausame Angst ...«
Effi
hatte sich aufgerichtet und stützte den Kopf auf ihren Arm. »Nun
erzähle. Wie kann es denn gewesen sein? Es ist ja mit euch, das weiß ich
noch von Hause her, immer dieselbe Geschichte ...«
»Ja,
zuerst is es wohl immer dasselbe, und ich will mir auch nicht einbilden,
daß es mit mir was Besonderes war, ganz und gar nicht. Aber wie sie's
mir dann auf den Kopf zusagten und ich mit einem Male sagen mußte: 'ja,
es ist so', ja, das war schrecklich. Die Mutter, na, das ging noch, aber
der Vater, der die Dorfschmiede hatte, der war streng und wütend, und
als er's hörte, da kam er mit einer Stange auf mich los, die er eben aus
dem Feuer genommen hatte, und wollte mich umbringen. Und ich schrie laut
auf und lief auf den Boden und versteckte mich, und da lag ich und
zitterte und kam erst wieder nach unten, als sie mich riefen und sagten,
ich solle nur kommen. Und dann hatte ich noch eine jüngere Schwester,
die wies immer auf mich hin und sagte 'Pfui'. Und dann, wie das Kind
kommen sollte, ging ich in eine Scheune nebenan, weil ich mir's bei uns
nicht getraute. Da fanden mich fremde Leute halb tot und trugen mich ins
Haus und in mein Bett. Und den dritten Tag nahmen sie mir das Kind fort,
und als ich nachher fragte, wo es sei, da hieß es, es sei gut
aufgehoben. Ach, gnädigste Frau, die heil'ge Mutter Gottes bewahre Sie
vor solchem Elend.«
Effi
fuhr auf und sah Roswitha mit großen Augen an. Aber sie war doch mehr
erschrocken als empört. »Was du nur sprichst! Ich bin ja doch eine
verheiratete Frau. So was darfst du nicht sagen, das ist ungehörig, das
paßt sich nicht.«
»Ach,
gnädigste Frau ...«
»Erzähle mir lieber, was aus dir wurde. Das Kind hatten sie dir
genommen. Soweit warst du ...«
»Und
dann, nach ein paar Tagen, da kam wer aus Erfurt, der fuhr bei dem
Schulzen vor und fragte, ob da nicht eine Amme sei. Da sagte der Schulze
'ja'. Gott lohne es ihm, und der fremde Herr nahm mich gleich mit, und
von da an hab ich bessere Tage gehabt; selbst bei der Registratorin war
es doch immer noch zum Aushalten, und zuletzt bin ich zu Ihnen gekommen,
gnädigste Frau. Und das war das Beste, das Allerbeste.« Und als sie das
sagte, trat sie an das Sofa heran und küßte Effi die Hand.
»Roswitha, du mußt mir nicht immer die Hand küssen, ich mag das nicht.
Und nimm dich nur in acht mit dem Kruse. Du bist doch sonst eine so gute
und verständige Person ... Mit einem Ehemann ... das tut nie gut.«
»Ach,
gnäd'ge Frau, Gott und seine Heiligen führen uns wunderbar, und das
Unglück, das uns trifft, das hat doch auch sein Glück. Und wen es nicht
bessert, dem is nich zu helfen ... Ich kann eigentlich die Mannsleute
gut leiden ...«
»Siehst
du, Roswitha, siehst du.«
»Aber
wenn es mal wieder so über mich käme, mit dem Kruse, das is ja nichts,
und ich könnte nicht mehr anders, da lief ich gleich ins Wasser. Es war
zu schrecklich. Alles. Und was nur aus dem armen Wurm geworden is? Ich
glaube nicht, daß es noch lebt; sie haben es umkommen lassen, aber ich
bin doch schuld.« Und sie warf sich vor Annies Wiege nieder und wiegte
das Kind hin und her und sang in einem fort ihr »Buhküken von
Halberstadt«.
»Laß«,
sagte Effi. »Singe nicht mehr; ich habe Kopfweh. Aber bringe mir die
Zeitungen. Oder hat Gieshübler vielleicht die Journale geschickt?«
»Das
hat er. Und die Modezeitung lag obenauf. Da haben wir drin geblättert,
ich und Johanna, eh sie rüber ging. Johanna ärgert sich immer, daß sie
so was nicht haben kann. Soll ich die Modezeitung bringen?«
»Ja,
die bringe und bring auch die Lampe.«
Roswitha ging, und Effi, als sie allein war, sagte: »Womit man sich
nicht alles hilft? Eine hübsche Dame mit einem Muff und eine mit einem
Halbschleier; Modepuppen. Aber es ist das Beste, mich auf andre Gedanken
zu bringen.«
Im
Laufe des andern Vormittags kam ein Telegramm von Innstetten, worin er
mitteilte, daß er erst mit dem zweiten Zug kommen, also nicht vor Abend
in Kessin eintreffen werde.
Der Tag
verging in ewiger Unruhe; glücklicherweise kam Gieshübler im Laufe des
Nachmittags und half über eine Stunde weg. Endlich um sieben Uhr fuhr
der Wagen vor, Effi trat hinaus, und man begrüßte sich. Innstetten war
in einer ihm sonst fremden Erregung, und so kam es, daß er die
Verlegenheit nicht sah, die sich in Effis Herzlichkeit mischte. Drinnen
im Flur brannten die Lampen und Lichter, und das Teezeug, das Friedrich
schon auf einen der zwischen den Schränken stehenden Tische gestellt
hatte, reflektierte den Lichterglanz.
»Das
sieht ja ganz so aus wie damals, als wir hier ankamen. Weißt du noch,
Effi?«
Sie
nickte.
»Nur
der Haifisch mit seinem Fichtenzweig verhält sich heute ruhiger, und
auch Rollo spielt den Zurückhaltenden und legt mir nicht mehr die Pfoten
auf die Schulter. Was ist das mit dir, Rollo?«
Rollo
strich an seinem Herrn vorbei und wedelte.
»Der
ist nicht recht zufrieden, entweder mit mir nicht oder mit andern. Nun,
ich will annehmen, mit mir. Jedenfalls laß uns eintreten.« Und er trat
in sein Zimmer und bat Effi, während er sich aufs Sofa niederließ, neben
ihm Platz zu nehmen. »Es war so hübsch in Berlin, über Erwarten; aber in
all meiner Freude habe ich mich immer zurückgesehnt. Und wie gut du
aussiehst! Ein bißchen blaß und ein bißchen verändert, aber es kleidet
dich.«
Effi
wurde rot.
»Und
nun wirst du auch noch rot. Aber es ist, wie ich dir sage. Du hattest so
was von einem verwöhnten Kind, mit einemmal siehst du aus wie eine
Frau.«
»Das
hör ich gern, Geert, aber ich glaube, du sagst es nur so.«
»Nein,
nein, du kannst es dir gutschreiben, wenn es etwas Gutes ist ...«
»Ich
dächte doch.«
»Und
nun rate, von wem ich dir Grüße bringe.«
»Das
ist nicht schwer, Geert. Außerdem, wir Frauen, zu denen ich mich,
seitdem du wieder da bist, ja rechnen darf (und sie reichte ihm die Hand
und lachte), wir Frauen, wir raten leicht. Wir sind nicht so
schwerfällig wie ihr.«
»Nun,
von wem?«
»Nun,
natürlich von Vetter Briest. Er ist ja der einzige, den ich in Berlin
kenne, die Tanten abgerechnet, die du nicht aufgesucht haben wirst und
die viel zu neidisch sind, um mich grüßen zu lassen. Hast du nicht auch
gefunden, alle alten Tanten sind neidisch?«
»Ja,
Effi, das ist wahr. Und daß du das sagst, das ist ganz meine alte Effi
wieder. Denn du mußt wissen, die alte Effi, die noch aussah wie ein
Kind, nun, die war auch nach meinem Geschmack. Gradeso wie die jetzige
gnäd'ge Frau.«
Meinst
du? Und wenn du dich zwischen beiden entscheiden solltest ...«
»Das
ist eine Doktorfrage, darauf lasse ich mich nicht ein. Aber da bringt
Friedrich den Tee. Wie hat's mich nach dieser Stunde verlangt! Und hab
es auch ausgesprochen, sogar zu deinem Vetter Briest, als wir bei
Dressel saßen und in Champagner dein Wohl tranken ... Die Ohren müssen
dir geklungen haben ... Und weißt du, was dein Vetter dabei sagte?«
»Gewiß
was Albernes. Darin ist er groß.«
»Das
ist der schwärzeste Undank, den ich all mein Lebtag erlebt habe. 'Lassen
wir Effi leben', sagte er, 'meine schöne Cousine ... Wissen Sie,
Innstetten, daß ich Sie am liebsten fordern und totschießen möchte? Denn
Effi ist ein Engel, und Sie haben mich um diesen Engel gebracht.' Und
dabei sah er so ernst und wehmütig aus, daß man's beinah hätte glauben
können.«
»Oh,
diese Stimmung kenne ich an ihm. Bei der wievielten wart ihr?«
»Ich
hab es nicht mehr gegenwärtig, und vielleicht hätte ich es auch damals
nicht mehr sagen können. Aber das glaub ich, daß es ihm ganz ernst war.
Und vielleicht wäre es auch das Richtige gewesen. Glaubst du nicht, daß
du mit ihm hättest leben können?«
»Leben
können. Das ist wenig, Geert. Aber beinah möcht ich sagen, ich hätte
auch nicht einmal mit ihm leben können.«
»Warum
nicht? Er ist wirklich ein liebenswürdiger und netter Mensch und auch
ganz gescheit.«
»Ja,
das ist er ...«
»Aber
...«
»Aber
er ist dalbrig. Und das ist keine Eigenschaft, die wir Frauen lieben,
auch nicht einmal dann, wenn wir noch halbe Kinder sind, wohin du mich
immer gerechnet hast und vielleicht, trotz meiner Fortschritte, auch
jetzt noch rechnest. Das Dalbrige, das ist nicht unsre Sache. Männer
müssen Männer sein.«
»Gut,
daß du das sagst. Alle Teufel, da muß man sich ja zusammennehmen. Und
ich kann von Glück sagen, daß ich von so was, das wie Zusammennehmen
aussieht oder wenigstens ein Zusammennehmen in Zukunft fordert, so gut
wie direkt herkomme ... Sag, wie denkst du dir ein Ministerium?«
»Ein
Ministerium? Nun, das kann zweierlei sein. Es können Menschen sein,
kluge, vornehme Herren, die den Staat regieren, und es kann auch bloß
ein Haus sein, ein Palazzo, ein Palazzo Strozzi oder Pitti oder, wenn
die nicht passen, irgendein andrer. Du siehst, ich habe meine
italienische Reise nicht umsonst gemacht.«
»Und
könntest du dich entschließen, in solchem Palazzo zu wohnen? Ich meine
in solchem Ministerium?«
»Um
Gottes willen, Geert, sie haben dich doch nicht zum Minister gemacht?
Gieshübler sagte so was. Und der Fürst kann alles. Gott, der hat es am
Ende durchgesetzt, und ich bin erst achtzehn.«
Innstetten lachte. »Nein, Effi, nicht Minister, so weit sind wir noch
nicht. Aber vielleicht kommen noch allerhand Gaben in mir heraus, und
dann ist es nicht unmöglich.«
Also
jetzt noch nicht, noch nicht Minister?«
»Nein.
Und wir werden, die Wahrheit zu sagen, auch nicht einmal in einem
Ministerium wohnen, aber ich werde täglich ins Ministerium gehen, wie
ich jetzt in unser Landratsamt gehe, und werde dem Minister Vortrag
halten und mit ihm reisen, wenn er die Provinzialbehörden inspiziert.
Und du wirst eine Ministerialrätin sein und in Berlin leben, und in
einem halben Jahre wirst du kaum noch wissen, daß du hier in Kessin
gewesen bist und nichts gehabt hast als Gieshübler und die Dünen und die
Plantage.«
Effi
sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer größer; um ihre
Mundwinkel war ein nervöses Zucken, und ihr ganzer zarter Körper
zitterte. Mit einem Male aber glitt sie von ihrem Sitz vor Innstetten
nieder, umklammerte seine Knie und sagte in einem Ton, wie wenn sie
betete: »Gott sei Dank!«
Innstetten verfärbte sich. Was war das? Etwas, was seit Wochen flüchtig,
aber doch immer sich erneuernd über ihn kam, war wieder da und sprach so
deutlich aus seinem Auge, daß Effi davor erschrak. Sie hatte sich durch
ein schönes Gefühl, das nicht viel was andres als ein Bekenntnis ihrer
Schuld war, hinreißen lassen und dabei mehr gesagt, als sie sagen
durfte. Sie mußte das wieder ausgleichen, mußte was finden, irgendeinen
Ausweg, es koste, was es wolle.
»Steh
auf, Effi. Was hast du?«
Effi
erhob sich rasch. Aber sie nahm ihren Platz auf dem Sofa nicht wieder
ein, sondern schob einen Stuhl mit hoher Lehne heran, augenscheinlich
weil sie nicht Kraft genug fühlte, sich ohne Stütze zu halten.
»Was
hast du?« wiederholte Innstetten. »Ich dachte, du hättest hier
glückliche Tage verlebt. Und nun rufst du 'Gott sei Dank', als ob dir
hier alles nur ein Schrecknis gewesen wäre. War ich dir ein Schrecknis?
Oder war es was andres? Sprich?«
»Daß du
noch fragen kannst, Geert«, sagte sie, während sie mit einer äußersten
Anstrengung das Zittern ihrer Stimme zu bezwingen suchte. »Glückliche
Tage! Ja, gewiß, glückliche Tage, aber doch auch andre. Nie bin ich die
Angst hier ganz losgeworden, nie. Noch keine vierzehn Tage, daß es mir
wieder über die Schulter sah, dasselbe Gesicht, derselbe fahle Teint.
Und diese letzten Nächte, wo du fort warst, war es auch wieder da, nicht
das Gesicht, aber es schlurrte wieder, und Rollo schlug wieder an, und
Roswitha, die's auch gehört, kam an mein Bett und setzte sich zu mir,
und erst, als es schon dämmerte, schliefen wir wieder ein. Es ist ein
Spukhaus, und ich hab es auch glauben sollen, das mit dem Spuk -denn du
bist ein Erzieher. Ja, Geert, das bist du. Aber laß es sein, wie's will,
soviel weiß ich, ich habe mich ein ganzes Jahr lang und länger in diesem
Hause gefürchtet, und wenn ich von hier fortkomme, so wird es, denke
ich, von mir abfallen, und ich werde wieder frei sein.«
Innstetten hatte kein Auge von ihr gelassen und war jedem Worte gefolgt.
Was sollte das heißen: »du bist ein Erzieher«? Und dann das andere, was
vorausging: »und ich hab es auch glauben sollen, das mit dem Spuk«. Was
war das alles? Wo kam das her? Und er fühlte seinen leisen Argwohn sich
wieder regen und fester einnisten. Aber er hatte lange genug gelebt, um
zu wissen, daß alle Zeichen trügen und daß wir in unsrer Eifersucht,
trotz ihrer hundert Augen, oft noch mehr in die Irre gehen als in der
Blindheit unseres Vertrauens. Es konnte ja so sein, wie sie sagte.
Und
wenn es so war, warum sollte sie nicht ausrufen: »Gott sei Dank!«
Und so,
rasch alle Möglichkeiten ins Auge fassend, wurde er seines Argwohns
wieder Herr und reichte ihr die Hand über en Tisch hin: »Verzeih mir,
Effi, aber ich war so sehr überrascht von dem allen. Freilich wohl meine
Schuld. Ich bin immer zu sehr mit mir beschäftigt gewesen. Wir Männer
sind alle Egoisten. Aber das soll nun anders werden. Ein Gutes hat
Berlin gewiß: Spukhäuser gibt es da nicht. Wo sollen die auch herkommen?
Und nun laß uns hinübergehen, daß ich Annie sehe; Roswitha verklagt mich
sonst als einen unzärtlichen Vater.«
Effi
war unter diesen Worten allmählich ruhiger geworden, und das Gefühl, aus
einer selbstgeschaffenen Gefahr sich glücklich befreit zu haben, gab ihr
die Spannkraft und gute Haltung wieder zurück.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Am
andern Morgen nahmen beide gemeinschaftlich ihr etwas verspätetes
Frühstück. Innstetten hatte seine Mißstimmung und Schlimmeres
überwunden, und Effi lebte so ganz dem Gefühl ihrer Befreiung, daß sie
nicht bloß die Fähigkeit einer gewissen erkünstelten Laune, sondern fast
auch ihre frühere Unbefangenheit wiedergewonnen hatte. Sie war noch in
Kessin, und doch war ihr schon zumute, als läge es weit hinter ihr.
»Ich
habe mir's überlegt, Effi«, sagte Innstetten, »du hast nicht so ganz
unrecht mit allem, was du gegen unser Haus hier gesagt hast. Für Kapitän
Thomsen war es gerade gut genug, aber nicht für eine junge verwöhnte
Frau; alles altmodisch, kein Platz. Da sollst du's in Berlin besser
haben, auch einen Saal, aber einen andern als hier, und auf Flur und
Treppe hohe bunte Glasfenster, Kaiser Wilhelm mit Zepter und Krone oder
auch was Kirchliches, heilige Elisabeth oder Jungfrau Maria. Sagen wir
Jungfrau Maria, das sind wir Roswitha schuldig.«
Effi
lachte. »So soll es sein. Aber wer sucht uns eine Wohnung? Ich kann doch
nicht Vetter Briest auf die Suche schicken. Oder gar die Tanten! Die
finden alles gut genug.«
Ja, das
Wohnungssuchen. Das macht einem keiner zu Dank. Ich denke, da mußt du
selber hin.«
»Und
wann meinst du?«
Mitte
März.«
»Oh,
das ist viel zu spät, Geert, dann ist ja alles fort. Die guten Wohnungen
werden schwerlich auf uns warten!«
Ist
schon recht. Aber ich bin erst seit gestern wieder hier und kann doch
nicht sagen 'reise morgen'. Das würde mich schlecht kleiden und paßt mir
auch wenig; ich bin froh, daß ich dich wiederhabe.«
»Nein«,
sagte sie, während sie das Kaffeegeschirr, um eine aufsteigende
Verlegenheit zu verbergen, ziemlich geräuschvoll zusammenrückte, »nein,
so soll's auch nicht sein, nicht heut und nicht morgen, aber doch in den
nächsten Tagen. Und wenn ich etwas finde, so bin ich rasch wieder
zurück. Aber noch eins, Roswitha und Annie müssen mit. Am schönsten wär
es, du auch. Aber ich sehe ein, das geht nicht. Und ich denke, die
Trennung soll nicht lange dauern. Ich weiß auch schon, wo ich miete ...«
»Nun?«
»Das
bleibt mein Geheimnis. Ich will auch ein Geheimnis haben. Damit will ich
dich dann überraschen.« In diesem Augenblick trat Friedrich ein, um die
Postsachen abzugeben. Das meiste war Dienstliches und Zeitungen. »Ah, da
ist auch ein Brief für dich«, sagte Innstetten. »Und wenn ich nicht
irre, die Handschrift der Mama.« Effi nahm den Brief. »Ja, von der Mama.
Aber das ist ja nicht der Friesacker Poststempel; sieh nur, das heißt ja
deutlich Berlin.«
»Freilich«, lachte Innstetten. »Du tust, als ob es ein Wunder wäre. Die
Mama wird in Berlin sein und hat ihrem Liebling von ihrem Hotel aus
einen Brief geschrieben.«
Ja«,
sagte Effi, »so wird es sein. Aber ich ängstige mich doch beinah und
kann keinen rechten Trost darin finden, daß Hulda Niemeyer immer sagte:
Wenn man sich ängstigt, ist es besser, als wenn man hofft. Was meinst du
dazu?«
»Für
eine Pastorstochter nicht ganz auf der Höhe. Aber nun lies den Brief.
Hier ist ein Papiermesser.«
Effi
schnitt das Kuvert auf und las: »Meine liebe Effi. Seit 24 Stunden bin
ich hier in Berlin; Konsultationen bei Schweigger. Als er mich sieht,
beglückwünscht er mich, und als ich erstaunt ihn frage, wozu, erfahre
ich, daß Ministerialdirektor Wüllersdorf bei ihm gewesen und ihm erzählt
habe: Innstetten sei ins Ministerium berufen. Ich bin ein wenig
ärgerlich, daß man dergleichen von einem Dritten erfahren muß. Aber in
meinem Stolz und meiner Freude sei Euch verziehen. Ich habe es übrigens
immer gewußt (schon als 1. noch bei den Rathenowern war), daß etwas aus
ihm werden würde. Nun kommt es Dir zugute. Natürlich müßt Ihr eine
Wohnung haben und eine andere Einrichtung. Wenn Du, meine liebe Effi,
glaubst, meines Rates dabei bedürfen zu können, so komme, so rasch es
Dir Deine Zeit erlaubt. Ich bleibe acht Tage hier in Kur, und wenn es
nicht anschlägt, vielleicht noch etwas länger; Schweigger drückt sich
unbestimmt darüber aus. Ich habe eine Privatwohnung in der Schadowstraße
genommen; neben dem meinigen sind noch Zimmer frei. Was es mit meinem
Auge ist, darüber mündlich; vorläufig beschäftigt mich nur Eure Zukunft.
Briest wird unendlich glücklich sein, er tut immer so gleichgültig gegen
dergleichen, eigentlich hängt er aber mehr daran als ich. Grüße
Innstetten, küsse Annie, die Du vielleicht mitbringst. Wie immer Deine
Dich zärtlich liebende Mutter Luise von B.«
Effi
legte den Brief aus der Hand und sagte nichts. Was sie zu tun habe, das
stand bei ihr fest; aber sie wollte es nicht selber aussprechen.
Innstetten sollte damit kommen, und dann wollte sie zögernd ja sagen.
Innstetten ging auch wirklich in die Falle.
»Nun,
Effi, du bleibst so ruhig.«
»Ach,
Geert, es hat alles so seine zwei Seiten. Auf der einen Seite beglückt
es mich, die Mama wiederzusehen, und vielleicht sogar schon in wenigen
Tagen. Aber es spricht auch so vieles dagegen.«
»Was?«
»Die
Mama, wie du weißt, ist sehr bestimmt und kennt nur ihren eignen Willen.
Dem Papa gegenüber hat sie alles durchsetzen können. Aber ich möchte
gern eine Wohnung haben, die nach meinem Geschmack ist, und eine neue
Einrichtung, die mir gefällt.«
Innstetten lachte. »Und das ist alles?«
»Nun,
es wäre grade genug. Aber es ist nicht alles.« Und nun nahm sie sich
zusammen und sah ihn an und sagte: »Und dann, Geert, ich möchte nicht
gleich wieder von dir fort.«
Schelm,
das sagst du so, weil du meine Schwäche kennst. Aber wir sind alle so
eitel, und ich will es glauben. Ich will es glauben und doch zugleich
auch den Heroischen spielen, den Entsagenden. Reise, sobald du's für
nötig hältst und vor deinem Herzen verantworten kannst.«
»So
darfst du nicht sprechen, Geert. Was heißt das 'vor meinem Herzen
verantworten'. Damit schiebst du mir, halb gewaltsam, eine
Zärtlichkeitsrolle zu, und ich muß dir dann aus reiner Kokettene sagen:
'Ach, Geert, dann reise ich nie.' Oder doch so etwas Ähnliches.«
Innstetten drohte ihr mit dem Finger. »Effi, du bist mir zu fein. Ich
dachte immer, du wärst ein Kind, und ich sehe nun, daß du das Maß hast
wie alle andern. Aber lassen wir das, oder wie dein Papa immer sagte:
'Das ist ein zu weites Feld.' Sage lieber, wann willst du fort?«
»Heute
haben wir Dienstag. Sagen wir also Freitag mittag mit dem Schiff. Dann
bin ich am Abend in Berlin.«
»Abgemacht. Und wann zurück?«
»Nun,
sagen wir Montag abend. Das sind dann drei Tage.«
Geht
nicht. Das ist zu früh. In drei Tagen kannst du's nicht zwingen. Und so
rasch läßt dich die Mama auch nicht fort.«
Also
auf Diskretion.«
»Gut.«
Und damit erhob sich Innstetten, um nach dem Landratsamte
hinüberzugehen.
Die
Tage bis zur Abreise vergingen wie im Fluge. Roswitha war sehr
glücklich. »Ach, gnädigste Frau, Kessin, nun ja ... aber Berlin ist es
nicht. Und die Pferdebahn. Und wenn es dann so klingelt und man nicht
weiß, ob man links oder rechts soll, und mitunter ist mir schon gewesen,
als ginge alles grad über mich weg. Nein, so was ist hier nicht. Ich
glaube, manchen Tag sehen wir keine sechs Menschen. Und immer bloß die
Dünen und draußen die See. Und das rauscht und rauscht, aber weiter ist
es auch nichts.«
»Ja,
Roswitha, du hast recht. Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein
richtiges Leben. Und dann kommen einem allerhand dumme Gedanken. Das
kannst du doch nicht bestreiten, das mit dem Kruse war nicht in der
Richtigkeit.«
Ach,
gnädigste Frau ...«
»Nun,
ich will nicht weiter nachforschen. Du wirst es natürlich nicht zugeben.
Und nimm nur nicht zu wenig Sachen mit. Deine Sachen kannst du
eigentlich ganz mitnehmen und Annies auch.«
»Ich
denke, wir kommen noch mal wieder.«
»Ja,
ich. Der Herr wünscht es. Aber ihr könnt vielleicht dableiben, bei
meiner Mutter. Sorge nur, daß sie Anniechen nicht zu sehr verwöhnt.
Gegen mich war sie mitunter streng, aber ein Enkelkind ...«
»Und
dann ist Anniechen ja auch so zum Anbeißen. Da muß ja jeder zärtlich
sein.«
Das war
am Donnerstag, am Tag vor der Abreise. Innstetten war über Land gefahren
und wurde erst gegen Abend zurückerwartet.
Am
Nachmittag ging Effi in die Stadt, bis auf den Marktplatz, und trat hier
in die Apotheke und bat um eine Flasche Sal volatile. »Man weiß nie, mit
wem man reist«, sagte sie zu dem alten Gehilfen, mit dem sie auf dem
Plauderfuße stand und der sie anschwärmte wie Gieshübler selbst.
»Ist
der Herr Doktor zu Hause?« fragte sie weiter, als sie das Fläschchen
eingesteckt hatte.
»Gewiß,
gnädige Frau; er ist hier nebenan und liest die Zeitungen. «
»Ich
werde ihn doch nicht stören?«
Oh,
nie.«
Und
Effi trat ein. Es war eine kleine, hohe Stube, mit Regalen ringsherum,
auf denen allerlei Kolben und Retorten standen; nur an der einen Wand
befanden sich alphabetisch geordnete, vorn mit einem Eisenringe
versehene Kästen, in denen die Rezepte lagen.
Gieshübler war beglückt und verlegen. »Welche Ehre. Hier unter meinen
Retorten. Darf ich die gnädige Frau auffordern, einen Augenblick Platz
zu nehmen?«
»Gewiß,
lieber Gieshübler. Aber auch wirklich nur einen Augenblick. Ich will
Ihnen adieu sagen.«
»Aber
meine gnädigste Frau, Sie kommen ja doch wieder. Ich habe gehört, nur
auf drei, vier Tage ...«
»Ja,
lieber Freund, ich soll wiederkommen, und es ist sogar verabredet, daß
ich spätestens in einer Woche wieder in Kessin bin. Aber ich könnte doch
auch nicht wiederkommen. Muß ich Ihnen sagen, welche tausend
Möglichkeiten es gibt ... Ich sehe, Sie wollen mir sagen, daß ich noch
zu jung sei ..., auch Junge können sterben. Und dann so vieles andre
noch. Und da will ich doch lieber Abschied nehmen von Ihnen, als wär es
für immer.«
»Aber
meine gnädigste Frau ...«
»Als
wär es für immer. Und ich will Ihnen danken, lieber Gieshübler. Denn Sie
waren das Beste hier; natürlich, weil Sie der Beste waren. Und wenn ich
hundert Jahre alt würde, so werde ich Sie nicht vergessen. Ich habe mich
hier mitunter einsam gefühlt, und mitunter war mir so schwer ums Herz,
schwerer, als Sie wissen können; ich habe es nicht immer richtig
eingerichtet; aber wenn ich Sie gesehen habe, vom ersten Tag an, dann
habe ich mich immer wohler gefühlt und auch besser.«
»Aber
meine gnädigste Frau.«
»Und
dafür wollte ich Ihnen danken. Ich habe mir eben ein Fläschchen mit Sal
volatile gekauft; im Coupé sind mitunter so merkwürdige Menschen und
wollen einem nicht mal erlauben, daß man ein Fenster aufmacht; und wenn
mir dann vielleicht – denn es steigt einem ja ordentlich zu Kopf, ich
meine das Salz – die Augen übergehen, dann will ich an Sie denken.
Adieu, lieber Freund, und grüßen Sie Ihre Freundin, die Trippelli. Ich
habe in den letzten Wochen öfter an sie gedacht und an Fürst
Kotschukoff. Ein eigentümliches Verhältnis bleibt es doch. Aber ich kann
mich hineinfinden ... Und lassen Sie einmal von sich hören. Oder ich
werde schreiben.« Damit ging Effi. Gieshübler begleitete sie bis auf den
Platz hinaus. Er war wie benommen, so sehr, daß er über manches
Rätselhafte, was sie gesprochen, ganz hinwegsah.
Effi
ging wieder nach Haus. »Bringen Sie mir die Lampe, Johanna«, sagte sie,
»aber in mein Schlafzimmer. Und dann eine Tasse Tee. Ich hab es so kalt
und kann nicht warten, bis der Herr wieder da ist.«
Beides
kam. Effi saß schon an ihrem kleinen Schreibtisch, einen Briefbogen vor
sich, die Feder in der Hand. »Bitte, Johanna, den Tee auf den Tisch da.«
Als
Johanna das Zimmer wieder verlassen hatte, schloß Effi sich ein, sah
einen Augenblick in den Spiegel und setzte sich dann wieder.
Und nun
schrieb sie: »Ich reise morgen mit dem Schiff, und dies sind
Abschiedszeilen. Innstetten erwartet mich in wenigen Tagen zurück, aber
ich komme nicht wieder ... Warum ich nicht wiederkomme, Sie wissen es
... Es wäre das beste gewesen, ich hätte dies Stück Erde nie gesehen.
Ich beschwöre Sie, dies nicht als einen Vorwurf zu fassen; alle Schuld
ist bei mir. Blick ich auf Ihr Haus ..., Ihr Tun mag entschuldbar sein,
nicht das meine. Meine Schuld ist sehr schwer, aber vielleicht kann ich
noch heraus. Daß wir hier abberufen wurden, ist mir wie ein Zeichen, daß
ich noch zu Gnaden angenommen werden kann. Vergessen Sie das Geschehene,
vergessen Sie mich. Ihre Effi.«
Sie
überflog die Zeilen noch einmal, am fremdesten war ihr das »Sie«; aber
auch das mußte sein; es sollte ausdrücken, daß keine Brücke mehr da sei.
Und nun schob sie die Zeilen in ein Kuvert und ging auf ein Haus zu,
zwischen dem Kirchhof und der Waldecke. Ein dünner Rauch stieg aus dem
halb eingefallenen Schornstein. Da gab sie die Zeilen ab.
Als sie
wieder zurück war, war Innstetten schon da, und sie setzte sich zu ihm
und erzählte ihm von Gieshübler und dem Sal volatile.
Innstetten lachte. »Wo hast du nur dein Latein her, Effi?«
Das
Schiff, ein leichtes Segelschiff (die Dampfboote gingen nur sommers),
fuhr um zwölf. Schon eine Viertelstunde vorher waren Effi und Innstetten
an Bord; auch Roswitha und Annie.
Das
Gepäck war größer, als es für einen auf so wenige Tage geplanten Ausflug
geboten schien. Innstetten sprach mit dem Kapitän; Effi, in einem
Regenmantel und hellgrauem Reisehut, stand auf dem Hinterdeck, nahe am
Steuer, und musterte von hier aus das Bollwerk und die hübsche
Häuserreihe, die dem Zuge des Bollwerks folgte. Gerade der
Landungsbrücke gegenüber lag Hoppensacks Hotel, ein drei Stock hohes
Gebäude, von dessen Giebeldach eine gelbe Flagge, mit Kreuz und Krone
darin, schlaff in der stillen, etwas nebeligen Luft herniederhing. Effi
sah eine Weile nach der Flagge hinauf, ließ dann aber ihr Auge wieder
abwärts gleiten und verweilte zuletzt auf einer Anzahl von Personen, die
neugierig am Bollwerk herumstanden. In diesem Augenblick wurde geläutet.
Effi war ganz eigen zumut; das Schiff setzte sich langsam in Bewegung,
und als sie die Landungsbrücke noch einmal musterte, sah sie, daß
Crampas in vorderster Reihe stand. Sie erschrak bei seinem Anblick und
freute sich doch auch. Er seinerseits, in seiner ganzen Haltung
verändert, war sichtlich bewegt und grüßte ernst zu ihr hinüber, ein
Gruß, den sie ebenso, aber doch zugleich in großer Freundlichkeit
erwiderte; dabei lag etwas Bittendes in ihrem Auge. Dann ging sie rasch
auf die Kajüte zu, wo sich Roswitha mit Annie schon eingerichtet hatte.
Hier in dem etwas stickigen Raum blieb sie, bis man aus dem Fluß in die
weite Bucht des Breitling eingefahren war; da kam Innstetten und rief
sie nach oben, daß sie sich an dem herrlichen Anblick erfreue, den die
Landschaft gerade an dieser Stelle bot. Sie ging dann auch hinauf. Über
dem Wasserspiegel hingen graue Wolken, und nur dann und wann schoß ein
halb umschleierter Sonnenblick aus dem Gewölk hervor. Effi gedachte des
Tages, wo sie, vor jetzt Fünfvierteljahren, im offenen Wagen am Ufer
ebendieses Breitlings hin entlanggefahren war. Eine kurze Spanne Zeit,
und das Leben oft so still und einsam. Und doch, was war alles seitdem
geschehen!
So fuhr
man die Wasserstraße hinauf und war um zwei an der Station oder doch
ganz in Nähe derselben. Als man gleich danach das Gasthaus des »Fürsten
Bismarck« passierte, stand auch Golchowski wieder in der Tür und
versäumte nicht, den Herrn Landrat und die gnädige Frau bis an die
Stufen der Böschung zu geleiten. Oben war der Zug noch nicht angemeldet,
und Effi und Innstetten schritten auf dem Bahnsteig auf und ab. Ihr
Gespräch drehte sich um die Wohnungsfrage; man war einig über den
Stadtteil, und daß es zwischen dem Tiergarten und dem Zoologischen
Garten sein müsse. »Ich will den Finkenschlag hören und die Papageien
auch«, sagte Innstetten, und Effi stimmte ihm zu.
Nun
aber hörte man das Signal, und der Zug lief ein; der Bahnhofsinspektor
war voller Entgegenkommen, und Effi erhielt ein Coupé für sich. Noch ein
Händedruck, ein Wehen mit dem Tuch, und der Zug setzte sich wieder in
Bewegung.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Auf dem
Friedrichstraßen-Bahnhof war ein Gedränge; aber trotzdem, Effi hatte
schon vom Coupé aus die Mama erkannt und neben ihr den Vetter Briest.
Die Freude des Wiedersehens war groß, das Warten in der Gepäckhalle
stellte die Geduld auf keine allzu harte Probe, und nach wenig mehr als
fünf Minuten rollte die Droschke neben dem Pferdebahngleise hin in die
Dorotheenstraße hinein und auf die Schadowstraße zu, an deren
nächstgelegener Ecke sich die »Pension« befand. Roswitha war entzückt
und freute sich über Annie, die die Händchen nach den Lichtern
ausstreckte.
Nun war
man da. Effi erhielt ihre zwei Zimmer, die nicht, wie erwartet, neben
denen der Frau von Briest, aber doch auf demselben Korridor lagen, und
als alles seinen Platz und Stand hatte und Annie in einem Bettchen mit
Gitter glücklich untergebracht war, erschien Effi wieder im Zimmer der
Mama, einem kleinen Salon mit Kamin, drin ein schwaches Feuer brannte;
denn es war mildes, beinah warmes Wetter.
Auf dem
runden Tische mit grüner Schirmlampe waren drei Kuverts gelegt, und auf
einem Nebentischchen stand das Teezeug.
»Du
wohnst ja reizend, Mama«, sagte Effi, während sie dem Sofa gegenüber
Platz nahm, aber nur um sich gleich danach an dem Teetisch zu schaffen
zu machen. »Darf ich wieder die Rolle des Teefräuleins übernehmen?«
»Gewiß,
meine liebe Effi Aber nur für Dagobert und dich selbst. Ich meinerseits
muß verzichten, was mir beinah schwerfällt.«
»Ich
verstehe, deiner Augen halber. Aber nun sage mir, Mama, was ist es
damit? In der Droschke, die noch dazu so klapperte, haben wir immer nur
von Innstetten und unserer großen Karriere gesprochen, viel zuviel, und
das geht nicht so weiter; glaube mir, deine Augen sind mir wichtiger,
und in einem finde ich sie, Gott sei Dank, ganz unverändert, du siehst
mich immer noch so freundlich an wie früher.«
Und sie
eilte auf die Mama zu und küßte ihr die Hand. »Effi, du bist so
stürmisch. Ganz die alte.«
»Ach
nein, Mama. Nicht die alte. Ich wollte, es wäre so. Man ändert sich in
der Ehe.«
Vetter
Briest lachte. »Cousine, ich merke nicht viel davon; du bist noch
hübscher geworden, das ist alles. Und mit dem Stürmischen wird es wohl
auch noch nicht vorbei sein.«
»Ganz
der Vetter«, versicherte die Mama; Effi selbst aber wollte davon nichts
hören und sagte: »Dagobert, du bist alles, nur kein Menschenkenner. Es
ist sonderbar. Ihr Offiziere seid keine guten Menschenkenner, die jungen
gewiß nicht. Ihr guckt euch immer nur selber an oder eure Rekruten, und
die von der Kavallerie haben auch noch ihre Pferde. Die wissen nun
vollends nichts.«
»Aber
Cousine, wo hast du denn diese ganze Weisheit her? Du kennst ja keine
Offiziere. Kessin, so habe ich gelesen, hat ja auf die ihm zugedachten
Husaren verzichtet, ein Fall, der übrigens einzig in der Weltgeschichte
dasteht. Und willst du von alten Zeiten sprechen? Du warst ja noch ein
halbes Kind, als die Rathenower zu euch herüberkamen.«
»Ich
könnte dir erwidern, daß Kinder am besten beobachten. Aber ich mag
nicht, das sind ja alles bloß Allotria. Ich will wissen, wie's mit Mamas
Augen steht.«
Frau
von Briest erzählte nun, daß es der Augenarzt für Blutandrang nach dem
Gehirn ausgegeben habe. Daher käme das Flimmern. Es müsse mit Diät
gezwungen werden; Bier, Kaffee, Tee – alles gestrichen und gelegentlich
eine lokale Blutentziehung, dann würde es bald besser werden. »Er sprach
so von vierzehn Tagen. Aber ich kenne die Doktorangaben; vierzehn Tage
heißt sechs Wochen, und ich werde noch hier sein, wenn Innstetten kommt
und ihr in eure neue Wohnung einzieht. Ich will auch nicht leugnen, daß
das das Beste von der Sache ist und mich über die mutmaßlich lange
Kurdauer schon vorweg tröstet. Sucht euch nur recht was Hübsches. Ich
habe mir Landgrafen- oder Keithstraße gedacht, elegant und doch nicht
allzu teuer. Denn ihr werdet euch einschränken müssen. Innstettens
Stellung ist sehr ehrenvoll, aber sie wirft nicht allzuviel ab. Und
Briest klagt auch. Die Preise gehen herunter, und er erzählt mir jeden
Tag, wenn nicht Schutzzölle kämen, so müßte er mit einem Bettelsack von
Hohen-Cremmen abziehen. Du weißt, er übertreibt gern. Aber nun lange zu,
Dagobert, und wenn es sein kann, erzähle uns was Hübsches.
Krankheitsberichte sind immer langweilig, und die liebsten Menschen
hören bloß zu, weil es nicht anders geht. Effi wird wohl auch gern eine
Geschichte hören, etwas aus den Fliegenden Blättern oder aus dem
Kladderadatsch. Er soll aber nicht mehr so gut sein.«
»Oh, er
ist noch ebensogut wie früher. Sie haben immer noch Strudelwitz und
Prudelwitz, und da macht es sich von selber.«
»Mein
Liebling ist Karlchen Mießnick und Wippchen von Bernau.«
»Ja,
das sind die Besten. Aber Wippchen, der übrigens – Pardon, schöne
Cousine – keine Kladderadatschfigur ist, Wippchen hat gegenwärtig nichts
zu tun, es ist ja kein Krieg mehr. Leider. Unsereins möchte doch auch
mal an die Reihe kommen und hier diese schreckliche Leere«, und er
strich vom Knopfloch nach der Achsel hinüber, »endlich loswerden.«
Ach,
das sind ja bloß Eitelkeiten. Erzähle lieber. Was ist denn jetzt dran?«
»Ja,
Cousine, das ist ein eigen Ding. Das ist nicht für jedermann. Jetzt
haben wir nämlich die Bibelwitze.«
»Die
Bibelwitze? Was soll das heißen? ... Bibel und Witze gehören nicht
zusammen.«
»Eben
deshalb sagte ich, es sei nicht für jedermann. Aber ob zulässig oder
nicht, sie stehen jetzt hoch im Preis. Modesache, wie Kiebitzeier.«
»Nun,
wenn es nicht zu toll ist, so gib uns eine Probe. Geht es?«
»Gewiß
geht es. Und ich möchte sogar hinzusetzen dürfen, du triffst es
besonders gut. Was jetzt nämlich kursiert, ist etwas hervorragend
Feines, weil es als Kombination auftritt und in die einfache Bibelstelle
noch das dativisch Wrangelsche mit einmischt. Die Fragestellung – alle
diese Witze treten nämlich in Frageform auf – ist übrigens in
vorliegendem Falle von großer Simplizität und lautet: 'Wer war der erste
Kutscher?' Und nun rate.«
»Nun,
vielleicht Apollo.«
»Sehr
gut. Du bist doch ein Daus, Effi. Ich wäre nicht darauf gekommen. Aber
trotzdem, du triffst damit nicht ins Schwarze. «
»Nun,
wer war es denn?«
»Der
erste Kutscher war 'Leid'. Denn schon im Buche Hiob heißt es: 'Leid soll
mir nicht widerfahren', oder auch 'wieder fahren' in zwei Wörtern und
mit einem e.«
Effi
wiederholte kopfschüttelnd den Satz, auch die Zubemerkung, konnte sich
aber trotz aller Mühe nicht drin zurechtfinden; sie gehörte ganz
ausgesprochen zu den Bevorzugten, die für derlei Dinge durchaus kein
Organ haben, und so kam denn Vetter Briest in die nicht beneidenswerte
Situation, immer erneut erst auf den Gleichklang und dann auch wieder
auf den Unterschied von 'widerfahren' und 'wieder fahren' hinweisen zu
müssen.
»Ach,
nun versteh ich. Und du mußt mir verzeihen, daß es so lange gedauert
hat. Aber es ist wirklich zu dumm.«
»Ja,
dumm ist es«, sagte Dagobert kleinlaut.
»Dumm
und unpassend und kann einem Berlin ordentlich verleiden. Da geht man
nun aus Kessin fort, um wieder unter Menschen zu sein, und das erste,
was man hört, ist ein Bibelwitz. Auch Mama schweigt, und das sagt genug.
Ich will dir aber doch den Rückzug erleichtern ...«
»Das
tu, Cousine.«
» ...
den Rückzug erleichtern und es ganz ernsthaft als ein gutes Zeichen
nehmen, daß mir, als erstes hier, von meinem Vetter Dagobert gesagt
wurde: 'Leid soll mir nicht widerfahren.' Sonderbar, Vetter, so schwach
die Sache als Witz ist, ich bin dir doch dankbar dafür.«
Dagobert, kaum aus der Schlinge heraus, versuchte über Effis
Feierlichkeit zu spötteln, ließ aber ab davon, als er sah, daß es sie
verdroß.
Bald
nach zehn Uhr brach er auf und versprach, am anderen Tage
wiederzukommen, um nach den Befehlen zu fragen.
Und
gleich nachdem er gegangen, zog sich auch Effi in ihre Zimmer zurück.
Am
andern Tage war das schönste Wetter, und Mutter und Tochter brachen früh
auf, zunächst nach der Augenklinik, wo Effi im Vorzimmer verblieb und
sich mit dem Durchblättern eines Albums beschäftigte. Dann ging es nach
dem Tiergarten und bis in die Nähe des »Zoologischen«, um dort herum
nach einer Wohnung zu suchen. Es traf sich auch wirklich so, daß man in
der Keithstraße, worauf sich ihre Wünsche von Anfang an gerichtet
hatten, etwas durchaus Passendes ausfindig machte, nur daß es ein Neubau
war, feucht und noch unfertig. »Es wird nicht gehen, liebe Effi«, sagte
Frau von Briest, »schon einfach Gesundheitsrücksichten werden es
verbieten. Und dann, ein Geheimrat ist kein Trockenwohner. «
Effi,
so sehr ihr die Wohnung gefiel, war um so einverstandener mit diesem
Bedenken, als ihr an einer raschen Erledigung überhaupt nicht lag, ganz
im Gegenteil: »Zeit gewonnen, alles gewonnen«, und so war ihr denn ein
Hinausschieben der ganzen Angelegenheit eigentlich das Liebste, was ihr
begegnen konnte. »Wir wollen diese Wohnung aber doch im Auge behalten,
Mama, sie liegt so schön und ist im wesentlichen das, was ich mir
gewünscht habe.« Dann fuhren beide Damen in die Stadt zurück, aßen im
Restaurant, das man ihnen empfohlen, und waren am Abend in der Oper,
wozu der Arzt unter der Bedingung, daß Frau von Briest mehr hören als
sehen wolle, die Erlaubnis gegeben hatte.
Die
nächsten Tage nahmen einen ähnlichen Verlauf; man war aufrichtig
erfreut, sich wiederzuhaben und nach so langer Zeit wieder ausgiebig
miteinander plaudern zu können. Effi, die sich nicht bloß auf Zuhören
und Erzählen, sondern, wenn ihr am wohlsten war, auch auf Medisieren
ganz vorzüglich verstand, geriet mehr als einmal in ihren alten Übermut,
und die Mama schrieb nach Hause, wie glücklich sie sei, das »Kind«
wieder so heiter und lachlustig zu finden; es wiederhole sich ihnen
allen die schöne Zeit von vor fast zwei Jahren, wo man die Ausstattung
besorgt habe. Auch Vetter Briest sei ganz der alte. Das war nun auch
wirklich der Fall, nur mit dem Unterschied, daß er sich seltener sehen
ließ als vordem und auf die Frage nach dem »Warum« anscheinend ernsthaft
versicherte: »Du bist mir zu gefährlich, Cousine.« Das gab dann jedesmal
ein Lachen bei Mutter und Tochter, und Effi sagte: »Dagobert, du bist
freilich noch sehr jung, aber zu solcher Form des Courmachers doch nicht
mehr jung genug.«
So
waren schon beinahe vierzehn Tage vergangen. Innstetten schrieb immer
dringlicher und wurde ziemlich spitz, fast auch gegen die Schwiegermama,
so daß Effi einsah, ein weiteres Hinausschieben sei nicht mehr gut
möglich und es müsse nun wirklich gemietet werden. Aber was dann? Bis
zum Umzug nach Berlin waren immer noch drei Wochen, und Innstetten drang
auf rasche Rückkehr. Es gab also nur ein Mittel: Sie mußte wieder eine
Komödie spielen, mußte krank werden.
Das kam
ihr aus mehr als einem Grunde nicht leicht an; aber es mußte sein, und
als ihr das feststand, stand ihr auch fest, wie die Rolle, bis in die
kleinsten Einzelheiten hinein, gespielt werden müsse.
»Mama,
Innstetten, wie du siehst, wird über mein Ausbleiben empfindlich. Ich
denke, wir geben also nach und mieten heute noch. Und morgen reise ich.
Ach, es wird mir so schwer, mich von dir zu trennen.«
Frau
von Briest war einverstanden. »Und welche Wohnung wirst du wählen?«
»Natürlich die erste, die in der Keithstraße, die mir von Anfang an so
gut gefiel und dir auch. Sie wird wohl noch nicht ganz ausgetrocknet
sein, aber es ist ja das Sommerhalbjahr, was einigermaßen ein Trost ist.
Und wird es mit der Feuchtigkeit zu arg und kommt ein bißchen
Rheumatismus, so hab ich ja schließlich immer noch Hohen-Cremmen.«
»Kind,
beruf es nicht; ein Rheumatismus ist mitunter da, man weiß nicht wie.«
Diese
Worte der Mama kamen Effi sehr zupaß. Sie mietete denselben Vormittag
noch und schrieb eine Karte an Innstetten, daß sie den nächsten Tag
zurückwolle. Gleich danach wurden auch wirklich die Koffer gepackt und
alle Vorbereitungen getroffen. Als dann aber der andere Morgen da war,
ließ Effi die Mama an ihr Bett rufen und sagte: »Mama, ich kann nicht
reisen. Ich habe ein solches Reißen und Ziehen, es schmerzt mich über
den ganzen Rücken hin, und ich glaube beinah, es ist ein Rheumatismus.
Ich hätte nicht gedacht, daß das so schmerzhaft sei.«
»Siehst
du, was ich dir gesagt habe; man soll den Teufel nicht an die Wand
malen. Gestern hast du noch leichtsinnig darüber gesprochen, und heute
ist es schon da. Wenn ich Schweigger sehe, werde ich ihn fragen, was du
tun sollst.«
Nein,
nicht Schweigger. Der ist ja ein Spezialist. Das geht nicht, und er
könnte es am Ende übelnehmen, in so was anderem zu Rate gezogen zu
werden. Ich denke, das beste ist, wir warten es ab. Es kann ja auch
vorübergehen. Ich werde den ganzen Tag über von Tee und Sodawasser
leben, und wenn ich dann transpiriere, komm ich vielleicht drüber hin.«
Frau
von Briest drückte ihre Zustimmung aus, bestand aber darauf, daß sie
sich gut verpflege. Daß man nichts genießen müsse, wie das früher Mode
war, das sei ganz falsch und schwäche bloß; in diesem Punkt stehe sie
ganz zu der jungen Schule: tüchtig essen.
Effi
sog sich nicht wenig Trost aus diesen Anschauungen, schrieb ein
Telegramm an Innstetten, worin sie von dem »leidigen Zwischenfall« und
einer ärgerlichen, aber doch nur momentanen Behinderung sprach, und
sagte dann zu Roswitha: »Roswitha, du mußt mir nun auch Bücher besorgen;
es wird nicht schwerhalten, ich will alte, ganz alte.«
»Gewiß,
gnäd'ge Frau. Die Leihbibliothek ist ja gleich hier nebenan. Was soll
ich besorgen?«
»Ich
will es aufschreiben, allerlei zur Auswahl, denn mitunter haben sie
nicht das eine, was man grade haben will.« Roswitha brachte Bleistift
und Papier, und Effi schrieb auf:
Walter
Scott, Ivanhoe oder Quentin Durward; Cooper, Der Spion; Dickens, David
Copperfield; Willibald Alexis, Die Hosen des Herrn von Bredow.
Roswitha las den Zettel durch und schnitt in der anderen Stube die
letzte Zeile fort; sie genierte sich ihret- und ihrer Frau wegen, den
Zettel in seiner ursprünglichen Gestalt abzugeben.
Ohne
besondere Vorkommnisse verging der Tag. Am andern Morgen war es nicht
besser und am dritten auch nicht. »Effi, das geht so nicht länger. Wenn
so was einreißt, dann wird man's nicht wieder los; wovor die Doktoren am
meisten warnen und mit Recht, das sind solche Verschleppungen.«
Effi
seufzte. »Ja, Mama, aber wen sollen wir nehmen? Nur keinen jungen; ich
weiß nicht, aber es würde mich genieren.«
»Ein
junger Doktor ist immer genant, und wenn er es nicht ist, desto
schlimmer. Aber du kannst dich beruhigen; ich komme mit einem ganz
alten, der mich schon behandelt hat, als ich noch in der Heckerschen
Pension war, also vor etlichen zwanzig Jahren. Und damals war er nah an
Fünfzig und hatte schönes graues Haar, ganz kraus. Er war ein Damenmann,
aber in den richtigen Grenzen. Ärzte, die das vergessen, gehen unter,
und es kann auch nicht anders sein; unsere Frauen, wenigstens die aus
der Gesellschaft, haben immer noch einen guten Fond.«
»Meinst
du? Ich freue mich immer, so was Gutes zu hören. Denn mitunter hört man
doch auch andres. Und schwer mag es wohl oft sein. Und wie heißt denn
der alte Geheimrat? Ich nehme an, daß es ein Geheimrat ist.«
»Geheimrat Rummschüttel.«
Effi
lachte herzlich. »Rummschüttel! Und als Arzt für jemanden, der sich
nicht rühren kann.«
»Effi,
du sprichst so sonderbar. Große Schmerzen kannst du nicht haben.«
»Nein,
in diesem Augenblick nicht; es wechselt beständig.«
Am
anderen Morgen erschien Geheimrat Rummschüttel. Frau von Briest empfing
ihn, und als er Effi sah, war sein erstes Wort: »Ganz die Mama.«
Diese
wollte den Vergleich ablehnen und meinte, zwanzig Jahre und drüber seien
doch eine lange Zeit; Rummschüttel blieb aber bei seiner Behauptung,
zugleich versichernd: nicht jeder Kopf präge sich ihm ein, aber wenn er
überhaupt erst einen Eindruck empfangen habe, so bleibe der auch für
immer. »Und nun, meine gnädigste Frau von Innstetten, wo fehlt es, wo
sollen wir helfen?«
»Ach,
Herr Geheimrat, ich komme in Verlegenheit, Ihnen auszudrücken, was es
ist. Es wechselt beständig. In diesem Augenblick ist es wie weggeflogen.
Anfangs habe ich an Rheumatisches gedacht, aber ich möcht beinah
glauben, es sei eine Neuralgie, Schmerzen den Rücken entlang, und dann
kann ich mich nicht aufrichten. Mein Papa leidet an Neuralgie, da hab
ich es früher beobachten können. Vielleicht ein Erbstück von ihm.«
»Sehr
wahrscheinlich«, sagte Rummschüttel, der den Puls gefühlt und die
Patientin leicht, aber doch scharf beobachtet hatte. »Sehr
wahrscheinlich, meine gnädigste Frau.« Was er aber still zu sich selber
sagte, das lautete: »Schulkrank und mit Virtuosität gespielt;
Evastochter comme il faut.« Er ließ jedoch nichts davon merken, sondern
sagte mit allem wünschenswerten Ernst: »Ruhe und Wärme sind das Beste,
was ich anraten kann. Eine Medizin, übrigens nichts Schlimmes, wird das
Weitere tun.«
Und er
erhob sich, um das Rezept aufzuschreiben: Aqua Amygdalarum amararum eine
halbe Unze, Syrupus florum Aurantii zwei Unzen. »Hiervon, meine
gnädigste Frau, bitte ich Sie, alle zwei Stunden einen halben Teelöffel
voll nehmen zu wollen. Es wird Ihre Nerven beruhigen. Und worauf ich
noch dringen möchte: keine geistigen Anstrengungen, keine Besuche, keine
Lektüre.« Dabei wies er auf das neben ihr liegende Buch.
»Es ist
Scott.«
»Oh,
dagegen ist nichts einzuwenden. Das beste sind Reisebeschreibungen. Ich
spreche morgen wieder vor.«
Effi
hatte sich wundervoll gehalten, ihre Rolle gut durchgespielt. Als sie
wieder allein war – die Mama begleitete den Geheimrat –, schoß ihr
trotzdem das Blut zu Kopf; sie hatte recht gut bemerkt, daß er ihrer
Komödie mit einer Komödie begegnet war. Er war offenbar ein überaus
lebensgewandter Herr, der alles recht gut sah, aber nicht alles sehen
wollte, vielleicht weil er wußte, daß dergleichen auch mal zu
respektieren sein könne. Denn gab es nicht zu respektierende Komödien,
war nicht die, die er selber spielte, eine solche? Bald danach kam die
Mama zurück, und Mutter und Tochter ergingen sich in Lobeserhebungen
über den feinen alten Herrn, der trotz seiner beinah Siebzig noch etwas
Jugendliches habe. »Schicke nur gleich Roswitha nach der Apotheke ... Du
sollst aber nur alle drei Stunden nehmen, hat er mir draußen noch eigens
gesagt. So war er schon damals, er verschrieb nicht oft und nicht viel;
aber immer Energisches, und es half auch gleich.«
Rummschüttel kam den zweiten Tag und dann jeden dritten, weil er sah,
welche Verlegenheit sein Kommen der jungen Frau bereitete. Dies nahm ihn
für sie ein, und sein Urteil stand ihm nach dem dritten Besuch fest:
»Hier liegt etwas vor, was die Frau zwingt, so zu handeln, wie sie
handelt.« Über solche Dinge den Empfindlichen zu spielen, lag längst
hinter ihm.
Als
Rummschüttel seinen vierten Besuch machte, fand er Effi auf, in einem
Schaukelstuhl sitzend, ein Buch in der Hand, Annie neben ihr.
»Ah,
meine gnädigste Frau! Hocherfreut. Ich schiebe es nicht auf die Arznei;
das schöne Wetter, die hellen, frischen Märztage, da fällt die Krankheit
ab. Ich beglückwünsche Sie. Und die Frau Mama?«
»Sie
ist ausgegangen, Herr Geheimrat, in die Keithstraße, wo wir gemietet
haben. Ich erwarte nun innerhalb weniger Tage meinen Mann, den ich mich,
wenn in unserer Wohnung erst alles in Ordnung sein wird, herzlich freue,
Ihnen vorstellen zu können. Denn ich darf doch wohl hoffen, daß Sie auch
in Zukunft sich meiner annehmen werden.«
Er
verbeugte sich.
»Die
neue Wohnung«, fuhr sie fort, »ein Neubau, macht mir freilich Sorge.
Glauben Sie, Herr Geheimrat, daß die feuchten Wände ...«
»Nicht
im geringsten, meine gnädigste Frau. Lassen Sie drei, vier Tage lang
tüchtig heizen und immer Türen und Fenster auf, da können Sie's wagen,
auf meine Verantwortung. Und mit Ihrer Neuralgie, das war nicht von
solcher Bedeutung. Aber ich freue mich Ihrer Vorsicht, die mir
Gelegenheit gegeben hat, eine alte Bekanntschaft zu erneuern und eine
neue zu machen.«
Er
wiederholte seine Verbeugung, sah noch Annie freundlich in die Augen und
verabschiedete sich unter Empfehlungen an die Mama.
Kaum
daß er fort war, so setzte sich Effi an den Schreibtisch und schrieb:
»Lieber Innstetten! Eben war Rummschüttel hier und hat mich aus der Kur
entlassen. Ich könnte nun reisen, morgen etwa; aber heut ist schon der
24., und am 28. willst Du hier eintreffen. Angegriffen bin ich ohnehin
noch. Ich denke, Du wirst einverstanden sein, wenn ich die Reise ganz
aufgebe. Die Sachen sind ja ohnehin schon unterwegs, und wir würden,
wenn ich käme, in Hoppensacks Hotel wie Fremde leben müssen. Auch der
Kostenpunkt ist in Betracht zu ziehen, die Ausgaben werden sich ohnehin
häufen; unter anderem ist Rummschüttel zu honorieren, wenn er uns auch
als Arzt verbleibt. Übrigens ein sehr liebenswürdiger alter Herr. Er
gilt ärztlich nicht für ersten Ranges, 'Damendoktor', sagen seine Gegner
und Neider. Aber dies Wort umschließt doch auch ein Lob; es kann eben
nicht jeder mit uns umgehen. Daß ich von den Kessinern nicht persönlich
Abschied nehme, hat nicht viel auf sich. Bei Gieshübler war ich. Die
Frau Majorin hat sich immer ablehnend gegen mich verhalten, ablehnend
bis zur Unart; bleibt noch der Pastor und Doktor Hannemann und Crampas.
Empfiehl mich letzterem. An die Familien auf dem Lande schicke ich
Karten; Güldenklees, wie Du mir schreibst, sind in Italien (was sie da
wollen, weiß ich nicht), und so bleiben nur die drei andern.
Entschuldige mich, so gut es geht. Du bist ja der Mann der Formen und
weißt das richtige Wort zu treffen. An Frau Von Padden, die mir am
Silvesterabend so außerordentlich gut gefiel, schreibe ich vielleicht
selber noch und spreche ihr mein Bedauern aus. Laß mich in einem
Telegramm wissen, ob Du mit allem einverstanden bist. Wie immer Deine
Effi.«
Effi
brachte selber den Brief zur Post, als ob sie dadurch die Antwort
beschleunigen könne, und am nächsten Vormittag traf denn auch das
erbetene Telegramm von Innstetten ein: »Einverstanden mit allem.« Ihr
Herz jubelte, sie eilte hinunter und auf den nächsten Droschkenstand zu:
»Keithstraße Ic.« Und erst die Linden und dann die Tiergartenstraße
hinunter flog die Droschke, und nun hielt sie vor der neuen Wohnung.
Oben
standen die den Tag vorher eingetroffenen Sachen noch bunt
durcheinander, aber es störte sie nicht, und als sie auf den breiten,
aufgemauerten Balkon hinaustrat, lag jenseits der Kanalbrücke der
Tiergarten vor ihr, dessen Bäume schon überall einen grünen Schimmer
zeigten. Darüber aber ein klarer blauer Himmel und eine lachende Sonne.
Sie
zitterte vor Erregung und atmete hoch auf. Dann trat sie vom Balkon her
wieder über die Türschwelle zurück, hob den Blick und faltete die Hände.
»Nun,
mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden.«
Vierundzwanzigstes Kapitel
Drei
Tage danach, ziemlich spät, um die neunte Stunde, traf Innstetten in
Berlin ein. Alles war am Bahnhof: Effi, die Mama, der Vetter; der
Empfang war herzlich, am herzlichsten von seiten Effis, und man hatte
bereits eine Welt von Dingen durchgesprochen, als der Wagen, den man
genommen, vor der neuen Wohnung in der Keithstraße hielt. »Ach, da hast
du gut gewählt, Effi«, sagte Innstetten, als er in das Vestibül eintrat,
»kein Haifisch, kein Krokodil und hoffentlich auch kein Spuk.«
»Nein,
Geert, damit ist es nun vorbei. Nun bricht eine andere Zeit an, und ich
fürchte mich nicht mehr und will auch besser sein als früher und dir
mehr zu Willen leben.« Alles das flüsterte sie ihm zu, während sie die
teppichbedeckte Treppe bis in den zweiten Stock hinanstiegen. Der Vetter
führte die Mama.
Oben
fehlte noch manches, aber für einen wohnlichen Eindruck war doch
gesorgt, und Innstetten sprach seine Freude darüber aus. »Effi, du bist
doch ein kleines Genie«; aber diese lehnte das Lob ab und zeigte auf die
Mama, die habe das eigentliche Verdienst. »Hier muß es stehen«, so habe
es unerbittlich geheißen, und immer habe sie's getroffen, wodurch
natürlich viel Zeit gespart und die gute Laune nie gestört worden sei.
Zuletzt kam auch Roswitha, um den Herrn zu begrüßen, bei welcher
Gelegenheit sie sagte, Fräulein Annie ließe sich für heute entschuldigen
– ein kleiner Witz, auf den sie stolz war und mit dem sie auch ihren
Zweck vollkommen erreichte.
Und nun
nahmen sie Platz um den schon gedeckten Tisch, und als Innstetten sich
ein Glas Wein eingeschenkt und »auf glückliche Tage« mit allen
angestoßen hatte, nahm er Effis Hand und sagte: »Aber Effi, nun erzähle
mir, was war das mit deiner Krankheit?«
»Ach,
lassen wir doch das, nicht der Rede wert; ein bißchen schmerzhaft und
eine rechte Störung, weil es einen Strich durch unsere Pläne machte.
Aber mehr war es nicht, und nun ist es vorbei. Rummschüttel hat sich
bewährt, ein feiner, liebenswürdiger alter Herr, wie ich dir, glaub ich,
schon schrieb. In seiner Wissenschaft soll er nicht gerade glänzen, aber
Mama sagt, das sei ein Vorzug. Und sie wird wohl recht haben, wie in
allen Stücken. Unser guter Doktor Hannemann war auch kein Licht und traf
es doch immer. Und nun sag, was macht Gieshübler und die anderen alle?«
»Ja,
wer sind die anderen alle? Crampas läßt sich der gnäd'gen Frau empfehlen
...«
»Ah,
sehr artig.«
»Und
der Pastor will dir desgleichen empfohlen sein; nur die Herrschaften auf
dem Lande waren ziemlich nüchtern und schienen auch mich für deinen
Abschied ohne Abschied verantwortlich machen zu wollen. Unsere Freundin
Sidonie war sogar spitz, und nur die gute Frau von Padden, zu der ich
eigens vorgestern noch hinüberfuhr, freute sich aufrichtig über deinen
Gruß und deine Liebeserklärung an sie. Du seist eine reizende Frau,
sagte sie, aber ich sollte dich gut hüten. Und als ich ihr erwiderte, du
fändest schon, daß ich mehr ein Erzieher als ein Ehemann sei, sagte sie
halblaut und beinahe wie abwesend: 'Ein junges Lämmchen, weiß wie
Schnee.' Und dann brach sie ab.«
Vetter
Briest lachte. »'Ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee.' Da hörst du's,
Cousine.« Und er wollte sie zu necken fortfahren, gab es aber auf, als
er sah, daß sie sich verfärbte.
Das
Gespräch, das meist zurückliegende Verhältnisse berührte, spann sich
noch eine Weile weiter, und Effi erfuhr zuletzt aus diesem und jenem,
was Innstetten mitteilte, daß sich von dem ganzen Kessiner Hausstand nur
Johanna bereit erklärt habe, die Übersiedlung nach Berlin mitzumachen.
Sie sei natürlich noch zurückgeblieben, werde aber in zwei, drei Tagen
mit dem Rest der Sachen eintreffen; er sei froh über ihren Entschluß,
denn sie sei immer die Brauchbarste gewesen und von einem
ausgesprochenen großstädtischen Schick. Vielleicht ein bißchen zu sehr.
Christel und Friedrich hätten sich beide für zu alt erklärt, und mit
Kruse zu verhandeln, habe sich von vornherein verboten. »Was soll uns
ein Kutscher hier?« schloß Innstetten. »Pferd und Wagen, das sind tempi
passati, mit diesem Luxus ist es in Berlin vorbei. Nicht einmal das
schwarze Huhn hätten wir unterbringen können. Oder unterschätze ich die
Wohnung?«
Effi
schüttelte den Kopf, und als eine kleine Pause eintrat, erhob sich die
Mama; es sei bald elf, und sie habe noch einen weiten Weg, übrigens
solle sie niemand begleiten, der Droschkenstand sei ja nah – ein
Ansinnen, das Vetter Briest natürlich ablehnte. Bald darauf trennte man
sich, nachdem noch ein Rendezvous für den anderen Vormittag verabredet
war.
Effi
war ziemlich früh auf und hatte – die Luft war beinahe sommerlich warm –
den Kaffeetisch bis nahe an die geöffnete Balkontür rücken lassen, und
als Innstetten nun auch erschien, trat sie mit ihm auf den Balkon hinaus
und sagte: »Nun, was sagst du? Du wolltest den Finkenschlag aus dem
Tiergarten hören und die Papageien aus dem Zoologischen.
Ich
weiß nicht, ob beide dir den Gefallen tun werden, aber möglich ist es.
Hörst du wohl? Das kam von drüben, drüben aus dem kleinen Park. Es ist
nicht der eigentliche Tiergarten, aber doch beinah.«
Innstetten war entzückt und von einer Dankbarkeit, als ob Effi ihm das
alles persönlich herangezaubert habe. Dann setzten sie sich, und nun kam
auch Annie. Roswitha verlangte, daß Innstetten eine große Veränderung an
dem Kinde finden solle, was er denn auch schließlich tat. Und dann
plauderten sie weiter, abwechselnd über die Kessiner und die in Berlin
zu machenden Visiten und ganz zuletzt auch über eine Sommerreise. Mitten
im Gespräch aber mußten sie abbrechen, um rechtzeitig beim Rendezvous
erscheinen zu können.
Man
traf sich, wie verabredet, bei Helms, gegenüber dem Roten Schloß,
besuchte verschiedene Läden, aß bei Hiller und war bei guter Zeit wieder
zu Haus. Es war ein gelungenes Beisammensein gewesen. Innstetten
herzlich froh, das großstädtische Leben wieder mitmachen und auf sich
wirken lassen zu können. Tags darauf, am 1. April, begab er sich in das
Kanzlerpalais, um sich einzuschreiben (eine persönliche Gratulation
unterließ er aus Rücksicht), und ging dann aufs Ministerium, um sich da
zu melden. Er wurde auch angenommen, trotzdem es ein geschäftlich und
gesellschaftlich sehr unruhiger Tag war, ja, sah sich seitens seines
Chefs durch besonders entgegenkommende Liebenswürdigkeit ausgezeichnet.
Er wisse, was er an ihm habe, und sei sicher, ihr Einvernehmen nie
gestört zu sehen.
Auch im
Hause gestaltete sich alles zum Guten. Ein aufrichtiges Bedauern war es
für Effi, die Mama, nachdem diese, wie gleich anfänglich vermutet, fast
sechs Wochen lang in Kur gewesen, nach Hohen-Cremmen zurückkehren zu
sehen, ein Bedauern, das nur dadurch einigermaßen gemildert wurde, daß
sich Johanna denselben Tag noch in Berlin einstellte. Das war immerhin
was, und wenn die hübsche Blondine dem Herzen Effis auch nicht ganz so
nahe stand wie die ganz selbstsuchtslose und unendlich gutmütige
Roswitha, so war sie doch gleichmäßig angesehen, ebenso bei Innstetten
wie bei ihrer jungen Herrin, weil sie sehr geschickt und brauchbar und
der Männerwelt gegenüber von einer ausgesprochenen und selbstbewußten
Reserviertheit war. Einem Kessiner on dit zufolge ließen sich die
Wurzeln ihrer Existenz auf eine längst pensionierte Größe der Garnison
Pasewalk zurückführen, woraus man sich auch ihre vornehme Gesinnung, ihr
schönes blondes Haar und die besondere Plastik ihrer Gesamterscheinung
erklären wollte. Johanna selbst teilte die Freude, die man allerseits
über ihr Eintreffen empfand, und war durchaus einverstanden damit, als
Hausmädchen und Jungfer, ganz wie früher, den Dienst bei Effi zu
übernehmen, während Roswitha, die der Christel in beinahe Jahresfrist
ihre Kochkünste so ziemlich abgelernt hatte, dem Küchendepartement
vorstehen sollte. Annies Abwartung und Pflege fiel Effi selber zu,
worüber Roswitha freilich lachte. Denn sie kannte die jungen Frauen.
Innstetten lebte ganz seinem Dienst und seinem Haus. Er war glücklicher
als vordem in Kessin, weil ihm nicht entging, daß Effi sich unbefangener
und heiterer gab. Und das konnte sie, weil sie sich freier fühlte. Wohl
blickte das Vergangene noch in ihr Leben hinein, aber es ängstigte sie
nicht mehr oder doch um vieles seltener und vorübergehender, und alles,
was davon noch in ihr nachzitterte, gab ihrer Haltung einen eigenen
Reiz. In jeglichem, was sie tat, lag etwas Wehmütiges, wie eine Abbitte,
und es hätte sie glücklich gemacht, dies alles noch deutlicher zeigen zu
können. Aber das verbot sich freilich.
Das
gesellschaftliche Leben der großen Stadt war, als sie während der ersten
Aprilwochen ihre Besuche machten, noch nicht vorüber, wohl aber im
Erlöschen, und so kam es für sie zu keiner rechten Teilnahme mehr daran.
In der zweiten Hälfte des Mai starb es dann ganz hin, und mehr noch als
vorher war man glücklich, sich in der Mittagsstunde, wenn Innstetten von
seinem Ministerium kam, im Tiergarten treffen oder nachmittags einen
Spaziergang nach dem Charlottenburger Schloßgarten machen zu können.
Effi sah sich, wenn sie die lange Front zwischen dem Schloß und den
Orangeriebäumen auf und ab schritt, immer wieder die massenhaft dort
stehenden römischen Kaiser an, fand eine merkwürdige Ähnlichkeit
zwischen Nero und Titus, sammelte Tannenäpfel, die von den Trauertannen
gefallen waren, und ging dann, Arm in Arm mit ihrem Manne, bis auf das
nach der Spree hin einsam gelegene »Belvedere« zu.
»Da
drin soll es auch einmal gespukt haben«, sagte sie.
»Nein,
bloß Geistererscheinungen.«
»Das
ist dasselbe.«
»Ja,
zuweilen«, sagte Innstetten. »Aber eigentlich ist doch ein Unterschied.
Geistererscheinungen werden immer gemacht – wenigstens soll es hier in
dem 'Belvedere' so gewesen sein, wie Vetter Briest erst gestern noch
erzählte –, Spuk aber wird nie gemacht, Spuk ist natürlich.«
»Also
glaubst du doch dran?«
»Gewiß
glaub ich dran. Es gibt so was. Nur an das, was wir in Kessin davon
hatten, glaub ich nicht recht. Hat dir denn Johanna schon ihren Chinesen
gezeigt?«
»Welchen?«
»Nun,
unsern. Sie hat ihn, ehe sie unser altes Haus verließ, oben von der
Stuhllehne abgelöst und ihn ins Portemonnaie gelegt. Als ich mir neulich
ein Markstück bei ihr wechselte, hab ich ihn gesehen. Und sie hat es mir
auch verlegen bestätigt.«
»Ach,
Geert, das hättest du mir nicht sagen sollen. Nun ist doch wieder so was
in unserm Hause.«
»Sag
ihr, daß sie ihn verbrennt.«
»Nein,
das mag ich auch nicht, und das hilft auch nichts. Aber ich will
Roswitha bitten ...«
»Um
was? Ah, ich verstehe schon, ich ahne, was du vorhast. Die soll ein
Heiligenbild kaufen und es dann auch ins Portemonnaie tun. Ist es so
was?«
Effi
nickte.
»Nun,
tu, was du willst. Aber sag es niemandem.«
Effi
meinte dann schließlich, es lieber doch lassen zu wollen, und unter
allerhand kleinem Geplauder, in welchem die Reisepläne für den Sommer
mehr und mehr Platz gewannen, fuhren sie bis an den »Großen Stern«
zurück und gingen dann durch die Korso-Allee und die breite
Friedrich-Wilhelm-Straße auf ihre Wohnung zu.
Sie
hatten vor, schon Ende Juli Urlaub zu nehmen und ins bayerische Gebirge
zu gehen, wo gerade in diesem Jahr wieder die Oberammergauer Spiele
stattfanden. Es ließ sich aber nicht tun; Geheimrat von Wüllesdorf, den
Innstetten schon von früher her kannte und der jetzt sein Spezialkollege
war, erkrankte plötzlich, und Innstetten mußte bleiben und ihn
vertreten. Erst Mitte August war alles wieder beglichen und damit die
Reisemöglichkeit gegeben; es war aber nun zu spät geworden, um noch nach
Oberammergau zu gehen, und so entschied man sich für einen Aufenthalt
auf Rügen. »Zunächst natürlich Stralsund, mit Schill, den du kennst, und
mit Scheele, den du nicht kennst und der den Sauerstoff entdeckte, was
man aber nicht zu wissen braucht. Und dann von Stralsund nach Bergen und
dem Rugard, von wo man, wie mir Wüllersdorf sagte, die ganze Insel
übersehen kann, und dann zwischen dem Großen und Kleinen
Jasmunder-Bodden hin, bis nach Saßnitz. Denn nach Rügen reisen heißt
nach Saßnitz reisen. Binz ginge vielleicht auch noch, aber da sind – ich
muß Wüllersdorf noch einmal zitieren – so viele kleine Steinchen und
Muschelschalen am Strand, und wir wollen doch baden.«
Effi
war einverstanden mit allem, was von seiten Innstettens geplant wurde,
vor allem auch damit, daß der ganze Hausstand auf vier Wochen aufgelöst
und Roswitha mit Annie nach Hohen-Cremmen, Johanna aber zu ihrem etwas
jüngeren Halbbruder reisen sollte, der bei Pasewalk eine Schneidemühle
hatte. So war alles gut untergebracht. Mit Beginn der nächsten Woche
brach man denn auch wirklich auf, und am selben Abend noch war man in
Saßnitz. Über dem Gasthaus stand »Hotel Fahrenheit«. »Die Preise
hoffentlich nach Réaumur«, setzte Innstetten, als er den Namen las,
hinzu, und in bester Laune machten beide noch einen Abendspaziergang an
dem Klippenstrand hin und sahen von einem Felsenvorsprung aus auf die
stille, vom Mondschein überzitterte Bucht. Effi war entzückt. »Ach,
Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent. Ja, hier bleiben wir. Aber
natürlich nicht im Hotel; die Kellner sind mir zu vornehm, und man
geniert sich, um eine Flasche Sodawasser zu bitten ...«
»Ja,
lauter Attachés. Es wird sich aber wohl eine Privatwohnung finden
lassen.«
»Denk
ich auch. Und wir wollen gleich morgen danach aussehen.«
Schön
wie der Abend war der Morgen, und man nahm das Frühstück im Freien.
Innstetten empfing etliche Briefe, die schnell erledigt werden mußten,
und so beschloß Effi, die für sie freigewordene Stunde sofort zur
Wohnungssuche zu benutzen. Sie ging erst an einer eingepferchten Wiese,
dann an Häusergruppen und Haferfeldern vorüber und bog zuletzt in einen
Weg ein, der schluchtartig auf das Meer zulief. Da, wo dieser
Schluchtenweg den Strand traf, stand ein von hohen Buchen überschattetes
Gasthaus, nicht so vornehm wie das Fahrenheitsche, mehr ein bloßes
Restaurant, in dem, der frühen Stunde halber, noch alles leer war. Effi
nahm an einem Aussichtspunkt Platz, und kaum daß sie von dem Sherry, den
sie bestellt, genippt hatte, so trat auch schon der Wirt an sie heran,
um halb aus Neugier und halb aus Artigkeit ein Gespräch mit ihr
anzuknüpfen.
»Es
gefällt uns sehr gut hier«, sagte sie, »meinem Manne und mir; welch
prächtiger Blick über die Bucht, und wir sind nur in Sorge wegen einer
Wohnung.«
»Ja,
gnädigste Frau, das wird schwerhalten ...«
»Es ist
aber schon spät im Jahr ...«
»Trotzdem. Hier in Saßnitz ist sicherlich nichts zu finden, dafür möcht
ich mich verbürgen; aber weiterhin am Strand, wo das nächste Dorf
anfängt, Sie können die Dächer von hier aus blinken sehen, da möcht es
vielleicht sein.«
»Und
wie heißt das Dorf?«
Crampas.«
Effi
glaubte nicht recht gehört zu haben. »Crampas«, wiederholte sie mit
Anstrengung. »Ich habe den Namen als Ortsnamen nie gehört ... Und sonst
nichts in der Nähe?«
»Nein,
gnädigste Frau. Hier herum nichts. Aber höher hinauf, nach Norden zu, da
kommen noch wieder Dörfer, und in dem Gasthause, das dicht neben
Stubbenkammer liegt, wird man Ihnen gewiß Auskunft geben können. Es
werden dort von solchen, die gerne noch vermieten wollen, immer Adressen
abgegeben.«
Effi
war froh, das Gespräch allein geführt zu haben, und als sie bald danach
ihrem Manne Bericht erstattet und nur den Namen des an Saßnitz
angrenzenden Dorfes verschwiegen hatte, sagte dieser: »Nun, wenn es hier
herum nichts gibt, so wird es das beste sein, wir nehmen einen Wagen
(wodurch man sich beiläufig einem Hotel immer empfiehlt) und übersiedeln
ohne weiteres da höher hinauf, nach Stubbenkammer hin. Irgendwas
Idyllisches mit einer Geißblattlaube wird sich da wohl finden lassen,
und finden wir nichts, so bleibt uns immer noch das Hotel selbst. Eins
ist schließlich wie das andere.«
Effi
war einverstanden, und gegen Mittag schon erreichten sie das neben
Stubbenkammer gelegene Gasthaus, von dem Innstetten eben gesprochen, und
bestellten daselbst einen Imbiß. »Aber erst nach einer halben Stunde;
wir haben vor, zunächst noch einen Spaziergang zu machen und uns den
Herthasee anzusehen. Ein Führer ist doch wohl da?«
Dies
wurde bejaht, und ein Mann von mittleren Jahren trat alsbald an unsere
Reisenden heran. Er sah so wichtig und feierlich aus, als ob er
mindestens ein Adjunkt bei dem alten Herthadienst gewesen wäre.
Der von
hohen Bäumen umstandene See lag ganz in der Nähe, Binsen säumten ihn
ein, und auf der stillen, schwarzen Wasserfläche schwammen zahlreiche
Mummeln.
»Es
sieht wirklich nach so was aus«, sagte Effi, »nach Herthadienst. «
»Ja,
gnäd'ge Frau ... Dessen sind auch noch die Steine Zeugen.«
»Welche
Steine?«
»Die
Opfersteine.«
Und
während sich das Gespräch in dieser Weise fortsetzte, traten alle drei
vom See her an eine senkrechte, abgestochene Kies- und Lehmwand heran,
an die sich etliche glattpolierte Steine lehnten, alle mit einer flachen
Höhlung und etlichen nach unten laufenden Rinnen.
»Und
was bezwecken die?«
»Daß es
besser abliefe, gnäd'ge Frau.«
»Laß
uns gehen«, sagte Effi, und den Arm ihres Mannes nehmend, ging sie mit
ihm wieder auf das Gasthaus zurück, wo nun, an einer Stelle mit weitem
Ausblick auf das Meer, das vorher bestellte Frühstück aufgetragen wurde.
Die Bucht lag im Sonnenlicht vor ihnen, einzelne Segelboote glitten
darüber hin, und um die benachbarten Klippen haschten sich die Möwen. Es
war sehr schön, auch Effi fand es; aber wenn sie dann über die
glitzernde Fläche hinwegsah, bemerkte sie, nach Süden zu, wieder die
hell aufleuchtenden Dächer des langgestreckten Dorfes, dessen Name sie
heute früh so sehr erschreckt hatte.
Innstetten, wenn auch ohne Wissen und Ahnung dessen, was in ihr vorging,
sah doch deutlich, daß es ihr an aller Lust und Freude gebrach. »Es tut
mir leid, Effi, daß du der Sache nicht recht froh wirst. Du kannst den
Herthasee nicht vergessen und noch weniger die Steine.«
Sie
nickte. »Es ist so, wie du sagst. Und ich muß dir bekennen, ich habe
nichts in meinem Leben gesehen, was mich so traurig gestimmt hätte. Wir
wollen das Wohnungssuchen ganz aufgeben; ich kann hier nicht bleiben.«
»Und
gestern war es dir noch der Golf von Neapel und alles mögliche Schöne.«
»Ja,
gestern.«
»Und
heute? Heute keine Spur mehr von Sorrent?«
»Eine
Spur noch, aber auch nur eine Spur; es ist Sorrent, als ob es sterben
wollte.«
»Gut
dann, Effi«, sagte Innstetten und reichte ihr die Hand.
»Ich
will dich mit Rügen nicht quälen, und so geben wir's denn auf.
Abgemacht. Es ist nicht nötig, daß wir uns an Stubbenkammer anklammern
oder an Saßnitz oder da weiter hinunter. Aber wohin?«
»Ich
denke, wir bleiben noch einen Tag und warten das Dampfschiff ab, das,
wenn ich nicht irre, morgen von Stettin kommt und nach Kopenhagen
hinüberfährt. Da soll es ja so vergnüglich sein, und ich kann dir gar
nicht sagen, wie sehr ich mich nach etwas Vergnüglichem sehne. Hier ist
mir, als ob ich in meinem ganzen Leben nicht mehr lachen könnte und
überhaupt nie gelacht hätte, und du weißt doch, wie gern ich lache.«
Innstetten zeigte sich voll Teilnahme mit ihrem Zustand, und das um so
lieber, als er ihr in vielem recht gab. Es war wirklich alles
schwermütig, so schön es war.
Und so
warteten sie denn das Stettiner Schiff ab und trafen am dritten Tag in
aller Frühe in Kopenhagen ein, wo sie auf Kongens Nytorv Wohnung nahmen.
Zwei Stunden später waren sie schon im Thorwaldsen-Museum, und Effi
sagte: »Ja, Geert, das ist schön, und ich bin glücklich, daß wir uns
hierher auf den Weg gemacht haben.« Bald danach gingen sie zu Tisch und
machten an der Table d'hôte die Bekanntschaft einer ihnen
gegenübersitzenden jütländischen Familie, deren bildschöne Tochter,
Thora von Penz, ebenso Innstettens wie Effis beinah bewundernde
Aufmerksamkeit sofort in Anspruch nahm. Effi konnte sich nicht satt
sehen an den großen blauen Augen und dem flachsblonden Haar, und als man
sich nach anderthalb Stunden von Tisch erhob, wurde seitens der
Penzschen Familie – die leider, denselben Tag noch, Kopenhagen wieder
verlassen mußte – die Hoffnung ausgesprochen, das junge preußische Paar
mit nächstem in Schloß Aggerhuus (eine halbe Meile vom Limfjord)
begrüßen zu dürfen, eine Einladung, die von den Innstettens auch ohne
langes Zögern angenommen wurde. So vergingen die Stunden im Hotel. Aber
damit war es nicht genug des Guten an diesem merkwürdigen Tag, von dem
Effi denn auch versicherte, daß er im Kalender rot angestrichen werden
müsse.
Der
Abend brachte, das Maß des Glücks voll zu machen, eine Vorstellung im
Tivoli-Theater: eine italienische Pantomime, Arlequin und Colombine.
Effi
war wie berauscht von den kleinen Schelmereien, und als sie spät am
Abend nach ihrem Hotel zurückkehrten, sagte sie: »Weißt du, Geert, nun
fühl ich doch, daß ich allmählich wieder zu mir komme. Von der schönen
Thora will ich gar nicht erst sprechen; aber wenn ich bedenke, heute
vormittag Thorwaldsen und heute abend diese Colombine ...«
»...
Die dir im Grunde doch noch lieber war als Thorwaldsen...«
»Offen
gestanden, ja. Ich habe nun mal den Sinn für dergleichen. Unser gutes
Kessin war ein Unglück für mich. Alles fiel mir da auf die Nerven. Rügen
beinah auch. Ich denke, wir bleiben noch ein paar Tage hier in
Kopenhagen, natürlich mit Ausflug nach Frederiksborg und Helsingör, und
dann nach Jütland hinüber; ich freue mich aufrichtig, die schöne Thora
wiederzusehen, und wenn ich ein Mann wäre, so verliebte ich mich in
sie.«
Innstetten lachte. »Du weißt noch nicht, was ich tue.«
»Wär
mir schon recht. Dann gibt es einen Wettstreit, und du sollst sehen,
dann hab ich auch noch meine Kräfte.«
»Das
brauchst du mir nicht erst zu versichern.«
So
verlief denn auch die Reise. Drüben in Jütland fuhren sie den Limfjord
hinauf, bis Schloß Aggerhuus, wo sie drei Tage bei der Penzschen Familie
verblieben, und kehrten dann mit vielen Stationen und kürzeren und
längeren Aufenthalten in Viborg, Flensburg, Kiel über Hamburg (das ihnen
ungemein gefiel) in die Heimat zurück – nicht direkt nach Berlin in die
Keithstraße, wohl aber vorher nach Hohen-Cremmen, wo man sich nun einer
wohlverdienten Ruhe hingeben wollte, für Innstetten bedeutete das nur
wenige Tage, da sein Urlaub abgelaufen war, Effi blieb aber noch eine
Woche länger und sprach es aus, erst zum dritten Oktober, ihrem
Hochzeitstag, wieder zu Hause eintreffen zu wollen.
Annie
war in der Landluft prächtig gediehen, und was Roswitha geplant hatte,
daß sie der Mama in Stiefelchen entgegenlaufen sollte, das gelang auch
vollkommen. Briest gab sich als zärtlicher Großvater, warnte vor zuviel
Liebe, noch mehr vor zuviel Strenge, und war in allem der alte.
Eigentlich aber galt all seine Zärtlichkeit doch nur Effi, mit der er
sich in seinem Gemüt immer beschäftigte, zumeist auch, wenn er mit
seiner Frau allein war.
»Wie
findest du Effi?«
»Lieb
und gut wie immer. Wir können Gott nicht genug danken, eine so
liebenswürdige Tochter zu haben. Und wie dankbar sie für alles ist und
immer so glücklich, wieder unter unserm Dach zu sein.«
»Ja«,
sagte Briest, »sie hat von dieser Tugend mehr, als mir lieb ist.
Eigentlich ist es, als wäre dies hier immer noch ihre Heimstätte. Sie
hat doch den Mann und das Kind, und der Mann ist ein Juwel, und das Kind
ist ein Engel, aber dabei tut sie, als wäre Hohen-Cremmen immer noch die
Hauptsache für sie, und Mann und Kind kämen gegen uns beide nicht an.
Sie ist eine prächtige Tochter, aber sie ist es mir zu sehr. Es ängstigt
mich ein bißchen. Und ist auch ungerecht gegen Innstetten. Wie steht es
denn eigentlich damit?«
»Ja,
Briest, was meinst du?«
»Nun,
ich meine, was ich meine, und du weißt auch was. Ist sie glücklich? Oder
ist da doch irgendwas im Wege? Von Anfang an war mir's so, als ob sie
ihn mehr schätze als liebe. Und das ist in meinen Augen ein schlimm
Ding. Liebe hält auch nicht immer vor, aber Schätzung gewiß nicht.
Eigentlich ärgern sich die Weiber, wenn sie wen schätzen müssen; erst
ärgern sie sich, und dann langweilen sie sich, und zuletzt lachen sie.«
»Hast
du so was an dir selber erfahren?«
»Das
will ich nicht sagen. Dazu stand ich nicht hoch genug in der Schätzung.
Aber schrauben wir uns nicht weiter, Luise. Sage, wie steht es?«
»Ja,
Briest, du kommst immer auf diese Dinge zurück. Da reicht ja kein
dutzendmal, daß wir darüber gesprochen und unsere Meinungen ausgetauscht
haben, und immer bist du wieder da mit deinem Alleswissenwollen und
fragst dabei so schrecklich naiv, als ob ich in alle Tiefen sähe. Was
hast du nur für Vorstellungen von einer jungen Frau und ganz speziell
von deiner Tochter? Glaubst du, daß das alles so plan daliegt? Oder daß
ich ein Orakel bin (ich kann mich nicht gleich auf den Namen der Person
besinnen) oder daß ich die Wahrheit sofort klipp und klar in den Händen
halte, wenn mir Effi ihr Herz ausgeschüttet hat? Oder was man wenigstens
so nennt. Denn was heißt ausschütten? Das Eigentliche bleibt doch
zurück. Sie wird sich hüten, mich in ihre Geheimnisse einzuweihen.
Außerdem, ich weiß nicht, von wem sie's hat, sie ist ... ja, sie ist
eine sehr schlaue kleine Person, und diese Schlauheit an ihr ist um so
gefährlicher, weil sie so sehr liebenswürdig ist.«
»Also
das gibst du doch zu ... liebenswürdig. Und auch gut?«
»Auch
gut. Das heißt voll Herzensgüte. Wie's sonst steht, da bin ich mir doch
nicht sicher; ich glaube, sie hat einen Zug, den lieben Gott einen guten
Mann sein zu lassen und sich zu trösten, er werde wohl nicht allzu
streng mit ihr sein.«
»Meinst
du?«
»Ja,
das meine ich. Übrigens glaube ich, daß sich vieles gebessert hat. Ihr
Charakter ist, wie er ist, aber die Verhältnisse liegen seit ihrer
Übersiedlung um vieles günstiger, und sie leben sich mehr und mehr
ineinander ein. Sie hat mir so was gesagt, und was mir wichtiger ist,
ich hab es auch bestätigt gefunden, mit Augen gesehen.«
»Nun,
was sagte sie?«
»Sie
sagte: 'Mama, es geht jetzt besser. Innstetten war immer ein
vortrefflicher Mann, so einer, wie's nicht viele gibt, aber ich konnte
nicht recht an ihn heran, er hatte so was Fremdes. Und fremd war er auch
in seiner Zärtlichkeit. Ja, dann am meisten; es hat Zeiten gegeben, wo
ich mich davor fürchtete.«
»Kenn
ich, kenn' ich.«
»Was
soll das heißen, Briest? Soll ich mich gefürchtet haben, oder willst du
dich gefürchtet haben? Ich finde beides gleich lächerlich ...«
»Du
wolltest von Effi erzählen.«
»Nun
also, sie gestand mir, daß dies Gefühl des Fremden sie verlassen habe,
was sie sehr glücklich mache. Kessin sei nicht der rechte Platz für sie
gewesen, das spukige Haus und die Menschen da, die einen zu fromm, die
andern zu platt; aber seit ihrer Übersiedlung nach Berlin fühle sie sich
ganz an ihrem Platz. Er sei der beste Mensch, etwas zu alt für sie und
zu gut für sie, aber sie sei nun über den Berg. Sie brauchte diesen
Ausdruck, der mir allerdings auffiel.«
»Wieso?
Er ist nicht ganz auf der Höhe, ich meine der Ausdruck. Aber ...«
»Es
steckt etwas dahinter. Und sie hat mir das auch andeuten wollen. «
»Meinst
du?«
»Ja,
Briest; du glaubst immer, sie könne kein Wasser trüben. Aber darin irrst
du. Sie läßt sich gern treiben, und wenn die Welle gut ist, dann ist sie
auch selber gut. Kampf und Widerstand sind nicht ihre Sache.«
Roswitha kam mit Annie, und so brach das Gespräch ab.
Dies
Gespräch führten Briest und Frau an demselben Tag, wo Innstetten von
Hohen-Cremmen nach Berlin hin abgereist war, Effi auf wenigstens noch
eine Woche zurücklassend. Er wußte, daß es nichts Schöneres für sie gab,
als so sorglos in einer weichen Stimmung hinträumen zu können, immer
freundliche Worte zu hören und die Versicherung, wie liebenswürdig sie
sei. Ja, das war das, was ihr vor allem wohltat, und sie genoß es auch
diesmal wieder in vollen Zügen und aufs dankbarste, trotzdem jede
Zerstreuung fehlte; Besuch kam selten, weil es seit ihrer Verheiratung,
wenigstens für die junge Welt, an dem rechten Anziehungspunkt gebrach,
und selbst die Pfarre und die Schule waren nicht mehr das, was sie noch
vor Jahr und Tag gewesen waren. Zumal im Schulhaus stand alles halb
leer. Die Zwillinge hatten sich im Frühjahr an zwei Lehrer in der Nähe
von Genthin verheiratet, große Doppelhochzeit mit Festbericht im
»Anzeiger fürs Havelland«, und Hulda war in Friesack zur Pflege einer
alten Erbtante, die sich übrigens, wie gewöhnlich in solchen Fällen, um
sehr viel langlebiger erwies, als Niemeyers angenommen hatten. Hulda
schrieb aber trotzdem immer zufriedene Briefe, nicht weil sie wirklich
zufrieden war (im Gegenteil), sondern weil sie den Verdacht nicht
aufkommen lassen wollte, daß es einem so ausgezeichneten Wesen anders
als sehr gut ergehen könne. Niemeyer, ein schwacher Vater, zeigte die
Briefe mit Stolz und Freude, während der ebenfalls ganz in seinen
Töchtern lebende Jahnke sich herausgerechnet hatte, daß beide junge
Frauen am selben Tage, und zwar am Weihnachtsheiligabend, ihre
Niederkunft halten würden. Effi lachte herzlich und drückte dem
Großvater in spe zunächst den Wunsch aus, bei beiden Enkeln zu Gevatter
geladen zu werden, ließ dann aber die Familienthemata fallen und
erzählte von »Kjöbenhavn« und Helsingör, vom Limfjord und Schloß
Aggerhuus und vor allem von Thora von Penz, die, wie sie nur sagen
könne, »typisch skandinavisch« gewesen sei, blauäugig, flachsen und
immer in einer roten Plüschtaille, wobei sich Jahnke verklärte und
einmal über das andere sagte: »Ja, so sind sie; rein germanisch, viel
deutscher als die Deutschen.«
An
ihrem Hochzeitstag, dem dritten Oktober, wollte Effi wieder in Berlin
sein. Nun war es der Abend vorher, und unter dem Vorgeben, daß sie
packen und alles zur Rückreise vorbereiten wolle, hatte sie sich schon
verhältnismäßig früh auf ihr Zimmer zurückgezogen. Eigentlich lag ihr
aber nur daran, allein zu sein; so gern sie plauderte, so hatte sie doch
auch Stunden, wo sie sich nach Ruhe sehnte.
Die von
ihr im Oberstock bewohnten Zimmer lagen nach dem Garten hinaus; in dem
kleineren schliefen Roswitha und Annie, die Tür nur angelehnt, in dem
größeren, das sie selber innehatte, ging sie auf und ab; die unteren
Fensterflügel waren geöffnet, und die kleinen weißen Gardinen bauschten
sich in dem Zug, der ging, und fielen dann langsam über die Stuhllehne,
bis ein neuer Zugwind kam und sie wieder frei machte. Dabei war es so
hell, daß man die Unterschriften unter den über dem Sofa hängenden und
in schmale Goldleisten eingerahmten Bildern deutlich lesen konnte:
»Der
Sturm auf Düppel, Schanze V« und daneben: »König Wilhelm und Graf
Bismarck auf der Höhe von Lipa«. Effi schüttelte den Kopf und lächelte.
»Wenn ich wieder hier bin, bitt ich mir andere Bilder aus; ich kann so
was Kriegerisches nicht leiden.« Und nun schloß sie das eine Fenster und
setzte sich an das andere, dessen Flügel sie offenließ. Wie tat ihr das
alles so wohl. Neben dem Kirchturm stand der Mond und warf sein Licht
auf den Rasenplatz mit der Sonnenuhr und den Heliotropbeeten. Alles
schimmerte silbern, und neben den Schattenstreifen lagen weiße
Lichtstreifen, so weiß, als läge Leinwand auf der Bleiche. Weiterhin
aber standen die hohen Rhabarberstauden wieder, die Blätter herbstlich
gelb, und sie mußte des Tages gedenken, nun erst wenig über zwei Jahre,
wo sie hier mit Hulda und den Jahnkeschen Mädchen gespielt hatte. Und
dann war sie, als der Besuch kam, die kleine Steintreppe neben der Bank
hinaufgestiegen, und eine Stunde später war sie Braut.
Sie
erhob sich und ging auf die Tür zu und horchte: Roswitha schlief schon
und Annie auch.
Und mit
einem Male, während sie das Kind so vor sich hatte, traten ungerufen
allerlei Bilder aus den Kessiner Tagen wieder vor ihre Seele: das
landrätliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit dem Blick auf
die Plantage, und sie saß im Schaukelstuhl und wiegte sich; und nun trat
Crampas an sie heran, um sie zu begrüßen, und dann kam Roswitha mit dem
Kinde, und sie nahm es und hob es hoch in die Höhe und küßte es.
»Das
war der erste Tag; da fing es an.« Und während sie dem nachhing, verließ
sie das Zimmer, drin die beiden schliefen, und setzte sich wieder an das
offene Fenster und sah in die stille Nacht hinaus.
»Ich
kann es nicht loswerden«, sagte sie. »Und was das schlimmste ist und
mich ganz irre macht an mir selbst ...«
In
diesem Augenblick setzte die Turmuhr drüben ein, und Effi zählte die
Schläge.
»Zehn
... Und morgen um diese Stunde bin ich in Berlin. Und wir sprechen
davon, daß unser Hochzeitstag sei, und er sagt mir Liebes und
Freundliches und vielleicht Zärtliches. Und ich sitze dabei und höre es
und habe die Schuld auf meiner Seele.«
Und sie
stützte den Kopf auf ihre Hand und starrte vor sich hin und schwieg.
»Und
ich habe die Schuld auf meiner Seele«, wiederholte sie. »Ja, da hab ich
sie. Aber lastet sie auch auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum
ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes
– Angst, Todesangst und die ewige Furcht: Es kommt doch am Ende noch an
den Tag. Und dann außer der Angst ... Scham. Ich schäme mich. Aber wie
ich nicht die rechte Reue habe, so hab ich auch nicht die rechte Scham.
Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es
mein Stolz, daß ich nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche,
lügen ist so gemein, und nun habe ich doch immer lügen müssen, vor ihm
und vor aller Welt, im großen und im kleinen, und Rummschüttel hat es
gemerkt und hat die Achseln gezuckt, und wer weiß, was er von mir denkt,
jedenfalls nicht das Beste. Ja, Angst quält mich und dazu Scham über
mein Lügenspiel. Aber Scham über meine Schuld, die hab ich nicht oder
doch nicht so recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, daß
ich sie nicht habe. Wenn alle Weiber so sind, dann ist es schrecklich,
und wenn sie nicht so sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um
mich, dann ist etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt mir
das richtige Gefühl. Und das hat mir der alte Niemeyer in seinen guten
Tagen noch, als ich noch ein halbes Kind war, mal gesagt: auf ein
richtiges Gefühl, darauf käme es an, und wenn man das habe, dann könne
einem das Schlimmste nicht passieren, und wenn man es nicht habe, dann
sei man in einer ewigen Gefahr, und das, was man den Teufel nenne, das
habe dann eine sichere Macht über uns. Um Gottes Barmherzigkeit willen,
steht es so mit mir?«
Und sie
legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitterlich. Als sie sich wieder
aufrichtete, war sie ruhiger geworden und sah wieder in den Garten
hinaus. Alles war so still, und ein leiser, feiner Ton, wie wenn es
regnete, traf von den Platanen her ihr Ohr.
So
verging eine Weile. Herüber von der Dorfstraße klang ein Geplärr: der
alte Nachtwächter Kulicke rief die Stunden ab, und als er zuletzt
schwieg, vernahm sie von fernher, aber immer näher kommend, das Rasseln
des Zuges, der auf eine halbe Meile Entfernung an Hohen-Cremmen
vorüberfuhr. Dann wurde der Lärm wieder schwächer, endlich erstarb er
ganz, und nur der Mondschein lag noch auf dem Grasplatz, und nur auf die
Platanen rauschte es nach wie vor wie leiser Regen nieder. Aber es war
nur die Nachtluft, die ging.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Am
andern Abend war Effi wieder in Berlin, und Innstetten empfing sie am
Bahnhof, mit ihm Rollo, der, als sie plaudernd durch den Tiergarten
hinfuhren, nebenher trabte.
»Ich
dachte schon, du würdest nicht Wort halten.«
»Aber
Geert, ich werde doch Wort halten, das ist doch das erste.«
»Sage
das nicht. Immer Wort halten ist sehr viel. Und mitunter kann man auch
nicht. Denke doch zurück. Ich erwartete dich damals in Kessin, als du
die Wohnung mietetest, und wer nicht kam, war Effi.«
»Ja,
das war was anderes.«
Sie
mochte nicht sagen »ich war krank«, und Innstetten hörte drüber hin. Er
hatte seinen Kopf auch voll anderer Dinge, die sich auf sein Amt und
seine gesellschaftliche Stellung bezogen. »Eigentlich, Effi, fängt unser
Berliner Leben nun erst an. Als wir im April hier einzogen, damals ging
es mit der Saison auf die Neige, kaum noch, daß wir unsere Besuche
machen konnten, und Wüllersdorf, der einzige, dem wir naherstanden –
nun, der ist leider Junggeselle. Von Juni an schläft dann alles ein, und
die heruntergelassenen Rollos verkünden einem schon auf hundert Schritt
'Alles ausgeflogen'; ob wahr oder nicht, macht keinen Unterschied ...
Ja, was blieb da noch? Mal mit Vetter Briest sprechen, mal bei Hiller
essen, das ist kein richtiges Berliner Leben. Aber nun soll es anders
werden. Ich habe mir die Namen aller Räte notiert, die noch mobil genug
sind, um ein Haus zu machen. Und wir wollen es auch, wollen auch ein
Haus machen, und wenn der Winter dann da ist, dann soll es im ganzen
Ministerium heißen: 'Ja, die liebenswürdigste Frau, die wir jetzt haben,
das ist doch die Frau von Innstetten.'«
»Ach,
Geert, ich kenne dich ja gar nicht wieder, du sprichst ja wie ein
Courmacher.«
»Es ist
unser Hochzeitstag, und da mußt du mir schon was zugute halten.«
Innstetten war ernsthaft gewillt, auf das stille Leben, das er in seiner
landrätlichen Stellung geführt, ein gesellschaftlich angeregteres folgen
zu lassen, um seinet- und noch mehr um Effis willen; es ließ sich aber
anfangs nur schwach und vereinzelt damit an, die rechte Zeit war noch
nicht gekommen, und das Beste, was man zunächst von dem neuen Leben
hatte, war genauso wie während des zurückliegenden Halbjahres ein Leben
im Hause. Wüllersdorf kam oft, auch Vetter Briest, und waren die da, so
schickte man zu Gizickis hinauf, einem jungen Ehepaar, das über ihnen
wohnte. Gizicki selbst war Landgerichtsrat, seine kluge, aufgeweckte
Frau ein Fräulein von Schmettau. Mitunter wurde musiziert, kurze Zeit
sogar ein Whist versucht; man gab es aber wieder auf, weil man fand, daß
eine Plauderei gemütlicher wäre. Gizickis hatten bis vor kurzem in einer
kleinen oberschlesischen Stadt gelebt, und Wüllersdorf war sogar,
freilich vor einer Reihe von Jahren schon, in den verschiedensten
kleinen Nestern der Provinz Posen gewesen, weshalb er denn auch den
bekannten Spottvers:
Schrimm
Ist schlimm,
Rogasen
Zum Rasen,
Aber weh dir nach Samter
Verdammter –
mit
ebensoviel Emphase wie Vorliebe zu zitieren pflegte.
Niemand
erheiterte sich dabei mehr als Effi, was dann meistens Veranlassung
wurde, kleinstädtische Geschichten in Hülle und Fülle folgen zu lassen.
Auch Kessin mit Gieshübler und der Trippelli, Oberförster Ring und
Sidonie Grasenabb kam dann wohl an die Reihe, wobei sich Innstetten,
wenn er guter Laune war, nicht leicht genugtun konnte. »Ja«, so hieß es
dann wohl, »unser gutes Kessin! Das muß ich zugeben, es war eigentlich
reich an Figuren, obenan Crampas, Major Crampas, ganz Beau und halber
Barbarossa, den meine Frau, ich weiß nicht, soll ich sagen
unbegreiflicher- oder begreiflicherweise, stark in Affektion genommen
hatte ...«
»Sagen
wir begreiflicherweise«, warf Wüllersdorf ein, »denn ich nehme an, daß
er Ressourcenvorstand war und Komödie spielte, Liebhaber oder
Bonvivants. Und vielleicht noch mehr, vielleicht war er auch ein Tenor.«
Innstetten bestätigte das eine wie das andere, und Effi suchte lachend
darauf einzugehen, aber es gelang ihr nur mit Anstrengung, und wenn dann
die Gäste gingen und Innstetten sich in sein Zimmer zurückzog, um noch
einen Stoß Akten abzuarbeiten, so fühlte sie sich immer aufs neue von
den alten Vorstellungen gequält, und es war ihr zu Sinn, als ob ihr ein
Schatten nachginge.
Solche
Beängstigungen blieben ihr auch. Aber sie kamen doch seltener und
schwächer, was bei der Art, wie sich ihr Leben gestaltete, nicht
wundernehmen konnte. Die Liebe, mit der ihr nicht nur Innstetten,
sondern auch fernerstehende Personen begegneten, und nicht zum wenigsten
die beinah zärtliche Freundschaft, die die Ministerin, eine selbst noch
junge Frau, für sie an den Tag legte – all das ließ die Sorgen und
Ängste zurückliegender Tage sich wenigstens mindern, und als ein zweites
Jahr ins Land gegangen war und die Kaiserin, bei Gelegenheit einer neuen
Stiftung, die »Frau Geheimrätin« mit ausgewählt und in die Zahl der
Ehrendamen eingereiht, der alte Kaiser Wilhelm aber auf dem Hofball
gnädige, huldvolle Worte an die schöne junge Frau, von der er schon
gehört habe, gerichtet hatte, da fiel es allmählich von ihr ab. Es war
einmal gewesen, aber weit, weit weg, wie auf einem andern Stern, und
alles löste sich wie ein Nebelbild und wurde Traum.
Die
Hohen-Cremmener kamen dann und wann auf Besuch und freuten sich des
Glücks der Kinder, Annie wuchs heran – »schön wie die Großmutter«, sagte
der alte Briest –, und wenn es an dem klaren Himmel eine Wolke gab, so
war es die, daß es, wie man nun beinahe annehmen mußte, bei Klein Annie
sein Bewenden haben werde; Haus Innstetten (denn es gab nicht einmal
Namensvettern) stand also mutmaßlich auf dem Aussterbeetat. Briest, der
den Fortbestand anderer Familien obenhin behandelte, weil er eigentlich
nur an die Briests glaubte, scherzte mitunter darüber und sagte: »Ja,
Innstetten, wenn das so weitergeht, so wird Annie seinerzeit wohl einen
Bankier heiraten (hoffentlich einen christlichen, wenn's deren dann noch
gibt), und mit Rücksicht auf das alte freiherrliche Geschlecht der
Innstetten wird dann Seine Majestät Annies Haute-finance-Kinder unter
dem Namen 'von der Innstetten' im Gothaischen Kalender, oder was weniger
wichtig ist, in der preußischen Geschichte fortleben lassen.«
-
Ausführungen, die von Innstetten selbst immer mit einer kleinen
Verlegenheit, von Frau von Briest mit Achselzucken, von Effi dagegen mit
Heiterkeit aufgenommen wurden. Denn so adelsstolz sie war, so war sie's
doch nur für ihre Person, und ein eleganter und welterfahrener und vor
allem sehr, sehr reicher Bankierschwiegersohn wäre durchaus nicht gegen
ihre Wünsche gewesen.
Ja,
Effi nahm die Erbfolgefrage leicht, wie junge, reizende Frauen das tun;
als aber eine lange, lange Zeit – sie waren schon im siebenten Jahr in
ihrer neuen Stellung – vergangen war, wurde der alte Rummschüttel, der
auf dem Gebiet der Gynäkologie nicht ganz ohne Ruf war, durch Frau von
Briest doch schließlich zu Rate gezogen. Er verordnete Schwalbach. Weil
aber Effi seit letztem Winter auch an katarrhalischen Affektionen litt
und ein paarmal sogar auf Lunge hin behorcht worden war, so hieß es
abschließend: »Also zunächst Schwalbach, meine Gnädigste, sagen wir drei
Wochen, und dann ebensolange Ems. Bei der Emser Kur kann aber der
Geheimrat zugegen sein. Bedeutet mithin alles in allem drei Wochen
Trennung. Mehr kann ich für Sie nicht tun, lieber Innstetten.«
Damit
war man denn auch einverstanden, und zwar sollte Effi, dahin ging ein
weiterer Beschluß, die Reise mit einer Geheimrätin Zwicker zusammen
machen, wie Briest sagte, »zum Schutz dieser letzteren«, worin er nicht
ganz unrecht hatte, da die Zwicker, trotz guter Vierzig, eines Schutzes
erheblich bedürftiger war als Effi Innstetten, der wieder viel mit
Vertretung zu tun hatte, beklagte, daß er, von Schwalbach gar nicht zu
reden, wahrscheinlich auch auf gemeinschaftliche Tage in Ems werde
verzichten müssen. Im übrigen wurde der 24. Juni (Johannistag) als
Abreisetag festgesetzt, und Roswitha half der gnädigen Frau beim Packen
und Aufschreiben der Wäsche. Effi hatte noch immer die alte Liebe für
sie, war doch Roswitha die einzige, mit der sie von all dem
Zurückliegenden, von Kessin und Crampas, von dem Chinesen und Kapitän
Thomsens Nichte frei und unbefangen reden konnte.
»Sage,
Roswitha, du bist doch eigentlich katholisch. Gehst du denn nie zur
Beichte?«
»Nein.
«
»Warum
nicht?«
»Ich
bin früher gegangen. Aber das Richtige hab ich doch nicht gesagt.«
»Das
ist sehr unrecht. Dann freilich kann es nicht helfen.«
»Ach,
gnädigste Frau, bei mir im Dorf machten es alle so. Und welche waren,
die kicherten bloß.«
»Hast
du denn nie empfunden, daß es ein Glück ist, wenn man etwas auf der
Seele hat, daß es runter kann?«
»Nein,
gnädigste Frau. Angst habe ich wohl gehabt, als mein Vater damals mit
dem glühenden Eisen auf mich loskam; ja, das war eine große Furcht, aber
weiter war es nichts.«
»Nicht
vor Gott?«
»Nicht
so recht, gnädigste Frau. Wenn man sich vor seinem Vater so fürchtet,
wie ich mich gefürchtet habe, dann fürchtet man sich nicht so sehr vor
Gott. Ich habe bloß immer gedacht, der liebe Gott sei gut und werde mir
armem Wurm schon helfen.«
Effi
lächelte und brach ab und fand es auch natürlich, daß die arme Roswitha
so sprach, wie sie sprach. Sie sagte aber doch: »Weißt du, Roswitha,
wenn ich wiederkomme, müssen wir doch noch mal ernstlich drüber reden.
Es war doch eigentlich eine große Sünde.«
»Das
mit dem Kinde und daß es verhungert ist? Ja, gnädigste Frau, das war es.
Aber ich war es ja nicht, das waren ja die anderen ... Und dann ist es
auch schon so sehr lange her.«
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Effi
war nun schon in die fünfte Woche fort und schrieb glückliche, beinahe
übermütige Briefe, namentlich seit ihrem Eintreffen in Ems, wo man doch
unter Menschen sei, das heißt unter Männern, von denen sich in
Schwalbach nur ausnahmsweise was gezeigt habe. Geheimrätin Zwicker, ihre
Reisegefährtin, habe freilich die Frage nach dem Kurgemäßen dieser Zutat
aufgeworfen und sich aufs entschiedenste dagegen ausgesprochen, alles
natürlich mit einem Gesichtsausdruck, der so ziemlich das Gegenteil
versichert habe; die Zwicker sei reizend, etwas frei, wahrscheinlich
sogar mit einer Vergangenheit, aber höchst amüsant, und man könne viel,
sehr viel von ihr lernen; nie habe sie sich, trotz ihrer Fünfundzwanzig,
so als Kind gefühlt, wie nach der Bekanntschaft mit dieser Dame. Dabei
sei sie so belesen, auch in fremder Literatur, und als sie, Effi
beispielsweise neulich von Nana gesprochen und dabei gefragt habe, ob es
denn wirklich so schrecklich sei, habe die Zwicker geantwortet: »Ach,
meine liebe Baronin, was heißt schrecklich? Da gibt es noch ganz
anderes.« – »Sie schien mich auch«, so schloß Effi ihren Brief, »mit
diesem 'anderen' bekannt machen zu wollen. Ich habe es aber abgelehnt,
weil ich weiß, daß Du die Unsitte unserer Zeit aus diesem und ähnlichem
herleitest, und wohl mit Recht. Leicht ist es mir aber nicht geworden.
Dazu kommt noch, daß Ems in einem Kessel liegt. Wir leiden hier
außerordentlich unter der Hitze.«
Innstetten hatte diesen letzten Brief mit geteilten Empfindungen
gelesen, etwas erheitert, aber doch auch ein wenig mißmutig. Die Zwicker
war keine Frau für Effi, der nun mal ein Zug innewohnte, sich nach links
hin treiben zu lassen; er gab es aber auf, irgendwas in diesem Sinne zu
schreiben, einmal weil er sie nicht verstimmen wollte, mehr noch, weil
er sich sagte, daß es doch nichts helfen würde. Dabei sah er der
Rückkehr seiner Frau mit Sehnsucht entgegen und beklagte des Dienstes
nicht bloß »immer gleichgestellte«, sondern jetzt, wo jeder
Ministerialrat fort war oder fort wollte, leider auch auf Doppelstunden
gestellte Uhr.
Ja,
Innstetten sehnte sich nach Unterbrechung von Arbeit und Einsamkeit, und
verwandte Gefühle hegte man draußen in der Küche, wo Annie, wenn die
Schulstunden hinter ihr lagen, ihre Zeit am liebsten verbrachte, was
insoweit ganz natürlich war, als Roswitha und Johanna nicht nur das
kleine Fräulein in gleichem Maße liebten, sondern auch untereinander
nach wie vor auf dem besten Fuße standen. Diese Freundschaft der beiden
Mädchen war ein Lieblingsgespräch zwischen den verschiedenen Freunden
des Hauses, und Landgerichtsrat Gizicki sagte dann wohl zu Wüllersdorf:
»Ich sehe darin nur eine neue Bestätigung des alten Weisheitssatzes:
'Laßt fette Leute um mich sein'; Cäsar war eben ein Menschenkenner und
wußte, daß Dinge wie Behaglichkeit und Umgänglichkeit eigentlich nur
beim Embonpomt sind.« Von einem solchen ließ sich denn nun bei beiden
Mädchen auch wirklich sprechen, nur mit dem Unterschied, daß das in
diesem Falle nicht gut zu umgehende Fremdwort bei Roswitha schon stark
eine Beschönigung, bei Johanna dagegen einfach die zutreffende
Bezeichnung war. Diese letztere durfte man nämlich nicht eigentlich
korpulent nennen, sie war nur prall und drall und sah jederzeit mit
einer eigenen, ihr übrigens durchaus kleidenden Siegermiene gradlinig
und blauäugig über ihre Normalbüste fort. Von Haltung und Anstand
getragen, lebte sie ganz in dem Hochgefühl, die Dienerin eines guten
Hauses zu sein, wobei sie das Überlegenheitsbewußtsein über die halb
bäuerisch gebliebene Roswitha in einem so hohen Maße hatte, daß sie, was
gelegentlich vorkam, die momentan bevorzugte Stellung dieser nur
belächelte. Diese Bevorzugung – nun ja, wenn's dann mal so sein sollte,
war eine kleine liebenswürdige Sonderbarkeit der gnädigen Frau, die man
der guten alten Roswitha mit ihrer ewigen Geschichte »von dem Vater mit
der glühenden Eisenstange« schon gönnen konnte. »Wenn man sich besser
hält, so kann dergleichen nicht vorkommen.« Das alles dachte sie,
sprach's aber nicht aus. Es war eben ein freundliches Miteinanderleben.
Was aber wohl ganz besonders für Frieden und gutes Einvernehmen sorgte,
das war der Umstand, daß man sich nach einem stillen Übereinkommen in
die Behandlung und fast auch Erziehung Annies geteilt hatte. Roswitha
hatte das poetische Departement, die Märchen- und Geschichtenerzählung,
Johanna dagegen das des Anstands, eine Teilung, die hüben und drüben so
fest gewurzelt stand, daß Kompetenzkonflikte kaum vorkamen, wobei der
Charakter Annies, die eine ganz entschiedene Neigung hatte, das vornehme
Fräulein zu betonen, allerdings mithalf, eine Rolle, bei der sie keine
bessere Lehrerin als Johanna haben konnte.
Noch
einmal also: Beide Mädchen waren gleichwertig in Annies Augen.
In
diesen Tagen aber, wo man sich auf die Rückkehr Effis vorbereitete, war
Roswitha der Rivalin mal wieder um einen Pas voraus, weil ihr, und zwar
als etwas ihr Zuständiges, die ganze Begrüßungsangelegenheit zugefallen
war. Diese Begrüßung zerfiel in zwei Hauptteile: Girlande mit Kranz und
dann, abschließend, Gedichtvortrag. Kranz und Girlande -nachdem man über
»W.« oder »E. v. I.« eine Zeitlang geschwankt – hatten zuletzt keine
sonderlichen Schwierigkeiten gemacht (»W«, in Vergißmeinnicht
geflochten, war bevorzugt worden), aber desto größere Verlegenheit
schien die Gedichtfrage heraufbeschwören zu sollen und wäre vielleicht
ganz unbeglichen geblieben, wenn Roswitha nicht den Mut gehabt hätte,
den von einer Gerichtssitzung heimkehrenden Landgerichtsrat auf der
zweiten Treppe zu stellen und ihm mit einem auf einen »Vers« gerichteten
Ansinnen mutig entgegenzutreten. Gizicki, ein sehr gütiger Herr, hatte
sofort alles versprochen, und noch am selben Spätnachmittag war seitens
seiner Köchin der gewünschte Vers, und zwar folgenden Inhalts, abgegeben
worden:
Mama,
wir erwarten dich lange schon,
Durch Wochen und Tage und Stunden,
Nun grüßen wir dich von Flur und Balkon
Und haben Kränze gewunden.
Nun lacht Papa voll Freudigkeit,
Denn die gattin- und mutterlose Zeit
Ist endlich von ihm genommen,
Und Roswitha lacht und Johanna dazu,
Und Annie springt aus ihrem Schuh
Und ruft: willkommen, willkommen.
Es
versteht sich von selbst, daß die Strophe noch an demselben Abend
auswendig gelernt, aber doch nebenher auch auf ihre Schönheit
beziehungsweise Nichtschönheit kritisch geprüft worden war. Das Betonen
von Gattin und Mutter, so hatte sich Johanna geäußert, erscheine
zunächst freilich in der Ordnung; aber es läge doch auch etwas darin,
was Anstoß erregen könne, und sie persönlich würde sich als »Gattin und
Mutter« dadurch verletzt fühlen. Annie, durch diese Bemerkung
einigermaßen geängstigt, versprach, das Gedicht am andern Tag der
Klassenlehrerin vorlegen zu wollen, und kam mit dem Bemerken zurück, das
Fräulein sei mit »Gattin und Mutter« durchaus einverstanden, aber desto
mehr gegen »Roswitha und Johanna« gewesen – worauf Roswitha erklärt
hatte: Das Fräulein sei eine dumme Gans; das käme davon, wenn man zuviel
gelernt habe.
Es war
an einem Mittwoch, daß die Mädchen und Annie das vorstehende Gespräch
geführt und den Streit um die bemängelte Zeile beigelegt hatten. Am
andern Morgen – ein erwarteter Brief Effis hatte noch den mutmaßlich
erst in den Schluß der nächsten Woche fallenden Ankunftstag
festzustellen- ging Innstetten auf das Ministerium. Jetzt war Mittag
heran, die Schule aus, und als Annie, ihre Mappe auf dem Rücken, eben
vom Kanal her auf die Keithstraße zuschritt, traf sie Roswitha vor ihrer
Wohnung.
»Nun
laß sehen«, sagte Annie, »wer am ehesten von uns die Treppe
heraufkommt.« Roswitha wollte von diesem Wettlauf nichts wissen, aber
Annie jagte voran, geriet, oben angekommen, ins Stolpern und fiel dabei
so unglücklich, daß sie mit der Stirn auf den dicht an der Treppe
befindlichen Abkratzer aufschlug und stark blutete. Roswitha, mühevoll
nachkeuchend, riß jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas
verängstigte Kind hereingetragen hatte, beratschlagte man, was nun wohl
zu machen sei. »Wir wollen nach dem Doktor schicken ... wir wollen nach
dem gnädigen Herrn schicken ... des Portiers Lene muß ja jetzt auch aus
der Schule wieder da sein.« Es wurde aber alles wieder verworfen, weil
es zu lange dauere, man müsse gleich was tun, und so packte man denn das
Kind aufs Sofa und begann mit kaltem Wasser zu kühlen. Alles ging auch
gut, so daß man sich zu beruhigen begann. »Und nun wollen wir sie
verbinden«, sagte schließlich Roswitha. »Da muß ja noch die lange Binde
sein, die die gnädige Frau letzten Winter zuschnitt, als sie sich auf
dem Eis den Fuß verknickt hatte ...«
»Freilich, freilich«, sagte Johanna, »bloß wo die Binde hernehmen? ...
Richtig, da fällt mir ein, die liegt im Nähtisch. Er wird wohl zu sein,
aber das Schloß ist Spielerei; holen Sie nur das Stemmeisen, Roswitha,
wir wollen den Deckel aufbrechen.« Und nun wuchteten sie auch wirklich
den Deckel ab und begannen in den Fächern herumzukramen, oben und unten,
die zusammengerollte Binde jedoch wollte sich nicht finden lassen. »Ich
weiß aber doch, daß ich sie gesehen habe«, sagte Roswitha, und während
sie halb ärgerlich immer weiter suchte, flog alles, was ihr dabei zu
Händen kam, auf das breite Fensterbrett: Nähzeug, Nadelkissen, Rollen
mit Zwirn und Seide, kleine vertrocknete Veilchensträußchen, Karten,
Billetts, zuletzt ein kleines Konvolut von Briefen, das unter dem
dritten Einsatz gelegen hatte, ganz unten, mit einem roten Seidenfaden
umwickelt. Aber die Binde hatte man noch immer nicht.
In
diesem Augenblick trat Innstetten ein.
»Gott«,
sagte Roswitha und stellte sich erschrocken neben das Kind. »Es ist
nichts, gnädiger Herr; Annie ist auf das Kratzeisen gefallen ... Gott,
was wird die gnädige Frau sagen. Und doch ist es ein Glück, daß sie
nicht mit dabei war.« Innstetten hatte mittlerweile die vorläufig
aufgelegte Kompresse fortgenommen und sah, daß es ein tiefer Riß, sonst
aber ungefährlich war. »Es ist nicht schlimm«, sagte er; »trotzdem,
Roswitha, wir müssen sehen, daß Rummschüttel kommt. Lene kann ja gehen,
die wird jetzt Zeit haben. Aber was in aller Welt ist denn das da mit
dem Nähtisch?«
Und nun
erzählte Roswitha, wie sie nach der gerollten Binde gesucht hätten; aber
sie wolle es nun aufgeben und lieber eine neue Leinwand schneiden.
Innstetten war einverstanden und setzte sich, als bald danach beide
Mädchen das Zimmer verlassen hatten, zu dem Kind. »Du bist so wild,
Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind. Aber dabei
kommt nichts heraus oder höchstens so was.« Und er wies auf die Wunde
und gab ihr einen Kuß. »Du hast aber nicht geweint, das ist brav, und
darum will ich dir die Wildheit verzeihen ... Ich denke, der Doktor wird
in einer Stunde hier sein; tu nur alles, was er sagt, und wenn er dich
verbunden hat, so zerre nicht und rücke und drücke nicht daran, dann
heilt es schnell, und wenn die Mama dann kommt, dann ist alles wieder in
Ordnung oder doch beinah. Ein Glück ist es aber doch, daß es noch bis
nächste Woche dauert, Ende nächster Woche, so schreibt sie mir; eben
habe ich einen Brief von ihr bekommen; sie läßt dich grüßen und freut
sich, dich wiederzusehen.«
»Du
könntest mir den Brief eigentlich vorlesen, Papa.«
Das
will ich gern.«
Aber eh
er dazu kam, kam Johanna, um zu sagen, daß das Essen aufgetragen sei.
Annie, trotz ihrer Wunde, stand mit auf, und Vater und Tochter setzten
sich zu Tisch.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Innstetten und Annie saßen sich eine Weile stumm gegenüber; endlich als
ihm die Stille peinlich wurde, tat er ein paar Fragen über die
Schulvorsteherin und welche Lehrerin sie eigentlich am liebsten habe.
Annie antwortete auch, aber ohne rechte Lust, weil sie fühlte, daß
Innstetten wenig bei der Sache war. Es wurde erst besser, als Johanna
nach dem zweiten Gericht ihrem Anniechen zuflüsterte, es gäbe noch was.
Und wirklich, die gute Roswitha, die dem Liebling an diesem Unglückstag
was schuldig zu sein glaubte, hatte noch ein übriges getan und sich zu
einer Omelette mit Apfelschnitten aufgeschwungen.
Annie
wurde bei diesem Anblicke denn auch etwas redseliger, und ebenso zeigte
sich Innstettens Stimmung gebessert, als es gleich danach klingelte und
Geheimrat Rummschüttel eintrat. Ganz zufällig. Er sprach nur vor, ohne
jede Ahnung, daß man nach ihm geschickt und um seinen Besuch gebeten
habe. Mit den aufgelegten Kompressen war er zufrieden. »Lassen Sie noch
etwas Bleiwasser holen und Annie morgen zu Hause bleiben. Überhaupt
Ruhe.« Dann fragte er noch nach der gnädigen Frau und wie die
Nachrichten aus Ems seien; er werde den andern Tag wiederkommen und
nachsehen.
Als man
von Tisch aufgestanden und in das nebenan gelegene Zimmer – dasselbe, wo
man mit so viel Eifer und doch vergebens nach dem Verbandstück gesucht
hatte – eingetreten war, wurde Annie wieder auf das Sofa gebettet.
Johanna kam und setzte sich zu dem Kind, während Innstetten die
zahllosen Dinge, die bunt durcheinandergewürfelt noch auf dem
Fensterbrett umher wieder in den Nähtisch einzuräumen begann. Dann und
wann wußte er sich nicht recht Rat und mußte fragen.
»Wo
haben die Briefe gelegen, Johanna?«
»Ganz
zuunterst«, sagte diese, »hier in diesem Fach.«
Und
während so Frage und Antwort ging, betrachtete Innstetten etwas
aufmerksamer als vorher das kleine, mit einem roten Faden
zusammengebundene Paket, das mehr aus einer Anzahl zusammengelegter
Zettel als auch Briefen zu bestehen schien. Er fuhr, als wäre es ein
Spiel Karten, mit dem Daumen und Zeigefinger an der Seite des Päckchens
hin, und einige Zeilen, eigentlich nur vereinzelte Worte, flogen dabei
an seinem Auge vorüber. Von deutlichem Erkennen konnte keine Rede sein,
aber es kam ihm doch so vor, als habe er die Schriftzüge schon irgendwo
gesehen. Ob er nachsehen solle?
»Johanna, Sie könnten uns den Kaffee bringen. Annie trinkt auch eine
halbe Tasse. Der Doktor hat's nicht verboten, und was nicht verboten
ist, ist erlaubt.«
Als er
das sagte, wand er den roten Faden ab und ließ, während Johanna das
Zimmer verließ, den ganzen Inhalt des Päckchens rasch durch die Finger
gleiten. Nur zwei, drei Briefe waren adressiert: »An Frau Landrat von
Innstetten.« Er erkannte jetzt auch die Handschrift; es war die des
Majors. Innstetten wußte nichts von einer Korrespondenz zwischen Crampas
und Effi, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Er steckte das
Paket zu sich und ging in sein Zimmer zurück. Etliche Minuten später,
und Johanna, zum Zeichen, daß der Kaffee da sei, klopfte leise an die
Tür. Innstetten antwortete auch, aber dabei blieb es; sonst alles still.
Erst nach einer Viertelstunde hörte man wieder sein Aufundabschreiten
auf dem Teppich.
»Was
nur Papa hat?« sagte Johanna zu Annie. »Der Doktor hat ihm doch gesagt,
es sei nichts.«
Das
Aufundabschreiten nebenan wollte kein Ende nehmen. Endlich erschien
Innstetten wieder im Nebenzimmer und sagte: »Johanna, achten Sie auf
Annie und daß sie ruhig auf dem Sofa bleibt. Ich will eine Stunde gehen
oder vielleicht zwei.«
Dann
sah er das Kind aufmerksam an und entfernte sich. »Hast du gesehen,
Johanna, wie Papa aussah?«
»Ja,
Annie. Er muß einen großen Ärger gehabt haben. Er war ganz blaß. So hab
ich ihn noch nie gesehen.«
Es
vergingen Stunden. Die Sonne war schon unter, und nur ein roter
Widerschein lag noch über den Dächern drüben, als Innstetten wieder
zurückkam. Er gab Annie die Hand, fragte, wie's ihr gehe, und ordnete
dann an, daß ihm Johanna die Lampe in sein Zimmer bringe. Die Lampe kam
auch. In dem grünen Schirm befanden sich halb durchsichtige Ovale mit
Fotografien, allerlei Bildnisse seiner Frau, die noch in Kessin, damals,
als man den Wichertschen »Schritt vom Wege« aufgeführt hatte, für die
verschiedenen Mitspielenden angefertigt waren. Innstetten drehte den
Schirm langsam von links nach rechts und musterte jedes einzelne
Bildnis. Dann ließ er ab davon, öffnete, weil er es schwül fand, die
Balkontür und nahm schließlich das Briefpaket wieder zur Hand.
Es
schien, daß er gleich beim ersten Durchsehen ein paar davon ausgewählt
und obenauf gelegt hatte. Diese las er jetzt noch einmal mit halblauter
Stimme.
»Sei
heute nachmittag wieder in den Dünen, hinter der Mühle. Bei der alten
Adermann können wir uns ruhig sprechen, das Haus ist abgelegen genug. Du
mußt Dich nicht um alles so bangen. Wir haben auch ein Recht. Und wenn
Du Dir das eindringlich sagst, wird, denke ich, alle Furcht von Dir
abfallen. Das Leben wäre nicht des Lebens wert, wenn das alles gelten
sollte, was zufällig gilt. Alles Beste liegt jenseits davon. Lerne Dich
daran freuen.«
»...Fort, so schreibst Du, Flucht. Unmöglich. Ich kann meine Frau nicht
im Stich lassen, zu allem andern auch noch in Not. Es geht nicht, und
wir müssen es leicht nehmen, sonst sind wir arm und verloren. Leichtsinn
ist das Beste, was wir haben. Alles ist Schicksal. Es hat so sein
sollen. Und möchtest Du, daß es anders wäre, daß wir uns nie gesehen
hätten?«
Dann
kam der dritte Brief.
»...Sei
heute noch einmal an der alten Stelle. Wie sollen meine Tage hier
verlaufen ohne Dich! In diesem öden Nest. Ich bin außer mir, und nur
darin hast Du recht: Es ist die Rettung, und wir müssen schließlich doch
die Hand segnen, die diese Trennung über uns verhängt.«
Innstetten hatte die Briefe kaum wieder beiseite geschoben, als draußen
die Klingel ging. Gleich danach meldete Johanna: »Geheimrat
Wüllersdorf.«
Wüllersdorf trat ein und sah auf den ersten Blick, daß etwas vorgefallen
sein müsse.
»Pardon, Wüllersdorf«, empfing ihn Innstetten, »daß ich Sie gebeten
habe, noch gleich heute bei mir vorzusprechen. Ich störe niemand gern in
seiner Abendruhe, am wenigsten einen geplagten Ministerialrat. Es ging
aber nicht anders. Ich bitte Sie, machen Sie sich's bequem. Und hier
eine Zigarre.«
Wüllersdorf setzte sich. Innstetten ging wieder auf und ab und wäre bei
der ihn verzehrenden Unruhe gern in Bewegung geblieben, sah aber, daß
das nicht gehe. So nahm er denn auch seinerseits eine Zigarre, setzte
sich Wüllersdorf gegenüber und versuchte ruhig zu sein. »Es ist«, begann
er, »um zweier Dinge willen, daß ich Sie habe bitten lassen: erst um
eine Forderung zu überbringen und zweitens um hinterher, in der Sache
selbst, mein Sekundant zu sein; das eine ist nicht angenehm und das
andere noch weniger. Und nun Ihre Antwort. «
»Sie
wissen, Innstetten, Sie haben über mich zu verfügen. Aber eh ich die
Sache kenne, verzeihen Sie mir die naive Vorfrage: Muß es sein? Wir sind
doch über die Jahre weg, Sie, um die Pistole in die Hand zu nehmen, und
ich, um dabei mitzumachen. Indessen mißverstehen Sie mich nicht, alles
dies soll kein Nein sein. Wie könnte ich Ihnen etwas abschlagen. Aber
nun sagen Sie, was ist es?«
»Es
handelt sich um einen Galan meiner Frau, der zugleich mein Freund war
oder doch beinah.«
Wüllersdorf sah Innstetten an. »Innstetten, das ist nicht möglich.«
»Es ist
mehr als möglich, es ist gewiß. Lesen Sie.«
Wüllersdorf flog drüber hin. »Die sind an Ihre Frau gerichtet?«
»Ja.
Ich fand sie heut in ihrem Nähtisch.«
Und wer
hat sie geschrieben?«
»Major
Crampas.«
»Also
Dinge, die sich abgespielt, als Sie noch in Kessin waren?«
Innstetten nickte.
»Liegt
also sechs Jahre zurück oder noch ein halb Jahr länger.«
»Ja.«
Wüllersdorf schwieg. Nach einer Weile sagte Innstetten: »Es sieht fast
so aus, Wüllersdorf, als ob die sechs oder sieben Jahre einen Eindruck
auf Sie machten. Es gibt eine Verjährungstheorie, natürlich, aber ich
weiß doch nicht, ob wir hier einen Fall haben, diese Theorie gelten zu
lassen.«
»Ich
weiß es auch nicht«, sagte Wüllersdorf. »Und ich bekenne Ihnen offen, um
diese Frage scheint sich hier alles zu drehen.«
Innstetten sah ihn groß an. »Sie sagen das in vollem Ernst?«
In
vollem Ernst. Es ist keine Sache, sich in jeu d'esprit oder in
dialektischen Spitzfindigkeiten zu versuchen. «
»Ich
bin neugierig, wie Sie das meinen. Sagen Sie mir offen, wie stehen Sie
dazu?«
»Innstetten, Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück ist hin. Aber
wenn Sie den Liebhaber totschießen, ist Ihr Lebensglück sozusagen
doppelt hin, und zu dem Schmerz über empfangenes Leid kommt noch der
Schmerz über getanes Leid. Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie's
durchaus tun? Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, daß einer
weg muß, er oder Sie? Steht es so?«
»Ich
weiß es nicht.«
»Sie
müssen es wissen.«
Innstetten war aufgesprungen, trat ans Fenster und tippte voll nervöser
Erregung an die Scheiben. Dann wandte er sich rasch wieder, ging auf
Wüllersdorf zu und sagte: »Nein, so steht es nicht.«
»Wie
steht es denn?«
»Es
steht so, daß ich unendlich unglücklich bin; ich bin gekränkt,
schändlich hintergangen, aber trotzdem, ich bin ohne jedes Gefühl von
Haß oder gar von Durst nach Rache. Und wenn ich mich frage, warum nicht,
so kann ich zunächst nichts anderes finden als die Jahre. Man spricht
immer von unsühnbarer Schuld; vor Gott ist es gewiß falsch, aber vor den
Menschen auch. Ich hätte nie geglaubt, daß die Zeit, rein als Zeit, so
wirken könne. Und dann als zweites: Ich liebe meine Frau, ja, seltsam zu
sagen, ich liebe sie noch, und so furchtbar ich alles finde, was
geschehen, ich bin so sehr im Bann ihrer Liebenswürdigkeit, eines ihr
eigenen heiteren Scharmes, daß ich mich, mir selbst zum Trotz, in meinem
letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle.«
Wüllersdorf nickte. »Kann ganz folgen, Innstetten, würde mir vielleicht
ebenso gehen. Aber wenn Sie so zu der Sache stehen und mir sagen: 'Ich
liebe diese Frau so sehr, daß ich ihr alles verzeihen kann', und wenn
wir dann das andere hinzunehmen, daß alles weit, weit zurückliegt, wie
ein Geschehnis auf einem andern Stern, ja, wenn es so liegt, Innstetten,
so frage ich, wozu die ganze Geschichte?«
»Weil
es trotzdem sein muß. Ich habe mir's hin und her überlegt. Man ist nicht
bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze
haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von
ihm. Ginge es, in Einsamkeit zu leben, so könnt ich es gehen lassen; ich
trüge dann die mir aufgepackte Last, das rechte Glück wäre hin, aber es
müssen so viele leben ohne dies 'rechte Glück', und ich würde es auch
müssen und – auch können. Man braucht nicht glücklich zu sein, am
allerwenigsten hat man einen Anspruch darauf, und den, der einem das
Glück genommen hat, den braucht man nicht notwendig aus der Welt zu
schaffen. Man kann ihn, wenn man weltabgewandt weiterexistieren will,
auch laufen lassen. Aber im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein
Etwas gebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns
gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und
dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und
zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns
die Kugel durch den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen solche Vorlesung
halte, die schließlich doch nur sagt, was sich jeder selber hundertmal
gesagt hat. Aber freilich, wer kann was Neues sagen! Also noch einmal,
nichts von Haß oder dergleichen, und um eines Glückes willen, das mir
genommen wurde, mag ich nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn
Sie wollen, uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht
nach Scharm und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe
keine Wahl. Ich muß.«
»Ich
weiß doch nicht, Innstetten ...«
Innstetten lächelte. »Sie sollen selbst entscheiden, Wüllersdorf. Es ist
jetzt zehn Uhr. Vor sechs Stunden, diese Konzession will ich Ihnen
vorweg machen, hatt' ich das Spiel noch in der Hand, konnt' ich noch das
eine und noch das andere, da war noch ein Ausweg. Jetzt nicht mehr,
jetzt stecke ich in einer Sackgasse. Wenn Sie wollen, so bin ich selber
schuld daran; ich hätte mich besser beherrschen und bewachen, alles in
mir verbergen, alles im eignen Herzen auskämpfen sollen. Aber es kam mir
zu plötzlich, zu stark, und so kann ich mir kaum einen Vorwurf machen,
meine Nerven nicht geschickter in Ordnung gehalten zu haben. Ich ging zu
Ihnen und schrieb Ihnen einen Zettel, und damit war das Spiel aus meiner
Hand. Von dem Augenblick an hatte mein Unglück und, was schwerer wiegt,
der Fleck auf meiner Ehre einen halben Mitwisser und nach den ersten
Worten, die wir hier gewechselt, hat es einen ganzen. Und weil dieser
Mitwisser da ist, kann ich nicht mehr zurück.«
»Ich
weiß doch nicht«, wiederholte Wüllersdorf. »Ich mag nicht gerne zu der
alten abgestandenen Phrase greifen, aber doch läßt sich's nicht besser
sagen: Innstetten, es ruht alles in mir wie in einem Grabe.«
»Ja,
Wüllersdorf, so heißt es immer. Aber es gibt keine Verschwiegenheit. Und
wenn Sie's wahrmachen und gegen andere die Verschwiegenheit selber sind,
so wissen Sie es, und es rettet mich nicht vor Ihnen, daß Sie mir eben
Ihre Zustimmung ausgedrückt und mir sogar gesagt haben: ich kann Ihnen
in allem folgen. Ich bin, und dabei bleibt es, von diesem Augenblick an
ein Gegenstand Ihrer Teilnahme (schon nicht etwas sehr Angenehmes), und
jedes Wort, das Sie mich mit meiner Frau wechseln hören, unterliegt
Ihrer Kontrolle, Sie mögen wollen oder nicht, und wenn meine Frau von
Treue spricht oder, wie Frauen tun, über eine andere zu Gericht sitzt,
so weiß ich nicht, wo ich mit meinen Blicken hin soll. Und ereignet
sich's gar, daß ich in irgendeiner ganz alltäglichen Beleidigungssache
zum Guten rede, »weil ja der dolus fehle« oder so was Ähnliches, so geht
ein Lächeln über Ihr Gesicht, oder es zuckt wenigstens darin, und in
Ihrer Seele klingt es: 'Der gute Innstetten, er hat doch eine wahre
Passion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungsgehalt chemisch zu
untersuchen, und das richtige Quantum Stickstoff findet er nie. Er ist
noch nie an einer Sache erstickt.' ... Habe ich recht, Wüllersdorf, oder
nicht?«
Wüllersdorf war aufgestanden. »Ich finde es furchtbar, daß Sie recht
haben, aber Sie haben recht. Ich quäle Sie nicht länger mit meinem 'Muß
es sein?'. Die Welt ist einmal, wie sie ist, und die Dinge verlaufen
nicht, wie wir wollen, sondern wie die andern wollen. Das mit dem
'Gottesgericht', wie manche hochtrabend versichern, ist freilich ein
Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst,
aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt.«
Innstetten nickte.
Sie
blieben noch eine Viertelstunde miteinander, und es wurde festgestellt,
Wüllersdorf solle noch denselben Abend abreisen. Ein Nachtzug ging um
zwölf.
Dann
trennten sie sich mit einem kurzen: »Auf Wiedersehen in Kessin.«
Achtundzwanzigstes Kapitel
Am
andern Abend, wie verabredet, reiste Innstetten. Er benutzte denselben
Zug, den am Tag vorher Wüllersdorf benutzt hatte, und war bald nach fünf
Uhr früh auf der Bahnstation, von wo der Weg nach Kessin links
abzweigte. Wie immer, solange die Saison dauerte, ging auch heute,
gleich nach Eintreffen des Zuges, das mehrerwähnte Dampfschiff, dessen
erstes Läuten Innstetten schon hörte, als er die letzten Stufen der vom
Bahndamm hinabführenden Treppe erreicht hatte. Der Weg bis zur
Anlegestelle war keine drei Minuten; er schritt darauf zu und begrüßte
den Kapitän, der etwas verlegen war, also im Laufe des gestrigen Tages
von der ganzen Sache schon gehört haben mußte, und nahm dann seinen
Platz in der Nähe des Steuers. Gleich danach löste sich das Schiff vom
Brückensteg los; das Wetter war herrlich, helle Morgensonne, nur wenig
Passagiere an Bord. Innstetten gedachte des Tages, als er, mit Effi von
der Hochzeitsreise zurückkehrend, hier am Ufer der Kessine hin in
offenem Wagen gefahren war ein grauer Novembertag damals, aber er selber
froh im Herzen; nun hatte sich's verkehrt: Das Licht lag draußen, und
der Novembertag war in ihm. Viele, viele Male war er dann des Weges hier
gekommen, und der Frieden, der sich über die Felder breitete, das
Zuchtvieh in den Koppeln, das aufhorchte, wenn er vorüberfuhr, die Leute
bei der Arbeit, die Fruchtbarkeit der Äcker, das alles hatte seinem
Sinne wohlgetan, und jetzt, in hartem Gegensatz dazu, war er froh, als
etwas Gewölk heranzog und den lachenden blauen Himmel leise zu trüben
begann. So fuhren sie den Fluß hinab, und bald nachdem sie die prächtige
Wasserfläche des Breitling passiert, kam der Kessiner Kirchturm in Sicht
und gleich danach auch das Bollwerk und die lange Häuserreihe mit
Schiffen und Booten davor. Und nun waren sie heran. Innstetten
verabschiedete sich von dem Kapitän und schritt auf den Steg zu, den
man, bequemeren Aussteigens halber, herangerollt hatte. Wüllersdorf war
schon da. Beide begrüßten sich, ohne zunächst ein Wort zu sprechen, und
gingen dann, quer über den Damm, auf den Hoppensackschen Gasthof zu, wo
sie unter einem Zeltdach Platz nahmen.
»Ich
habe mich gestern früh hier einquartiert«, sagte Wüllersdorf, der nicht
gleich mit den Sachlichkeiten beginnen wollte. »Wenn man bedenkt, daß
Kessin ein Nest ist, ist es erstaunlich, ein so gutes Hotel hier zu
finden. Ich bezweifle nicht, daß mein Freund, der Oberkellner, drei
Sprachen spricht; seinem Scheitel und seiner ausgeschnittnen Weste nach
können wir dreist auf vier rechnen ... Jean, bitte, wollen Sie uns
Kaffee und Kognak bringen.«
Innstetten begriff vollkommen, warum Wüllersdorf diesen Ton anschlug,
war auch damit einverstanden, konnte aber seiner Unruhe nicht ganz Herr
werden und zog unwillkürlich die Uhr.
»Wir
haben Zeit«, sagte Wüllersdorf. »Noch anderthalb Stunden oder doch
beinah. Ich habe den Wagen auf acht ein Viertel bestellt; wir fahren
nicht länger als zehn Minuten.«
Und
wo?«
»Crampas schlug erst ein Waldeck vor, gleich hinter dem Kirchhof. Aber
dann unterbrach er sich und sagte: 'Nein, da nicht.' Und dann haben wir
uns über eine Stelle zwischen den Dünen geeinigt. Hart am Strand; die
vorderste Düne hat einen Einschnitt, und man sieht aufs Meer.«
Innstetten lächelte. »Crampas scheint sich einen Schönheitspunkt
ausgesucht zu haben. Er hatte immer die Allüren dazu. Wie benahm er
sich?«
»Wundervoll.«
»Übermütig? Frivol?«
»Nicht
das eine und nicht das andere. Ich bekenne Ihnen offen, Innstetten, daß
es mich erschütterte. Als ich Ihren Namen nannte, wurde er totenblaß und
rang nach Fassung, und um seine Mundwinkel sah ich ein Zittern. Aber all
das dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er sich wieder gefaßt, und
von da an war alles an ihm wehmütige Resignation. Es ist mir ganz
sicher, er hat das Gefühl, aus der Sache nicht heil herauszukommen, und
will auch nicht. Wenn ich ihn richtig beurteile, er lebt gern und ist
zugleich gleichgültig gegen das Leben. Er nimmt alles mit und weiß doch,
daß es nicht viel damit ist.«
»Wer
wird ihm sekundieren? Oder sag ich lieber, wen wird er mitbringen?«
»Das
war, als er sich wieder gefunden hatte, seine Hauptsorge. Er nannte
zwei, drei Adlige aus der Nähe, ließ sie dann aber wieder fallen, sie
seien zu alt und zu fromm, er werde nach Treptow hin telegrafieren an
seinen Freund Buddenbrook. Und der ist auch gekommen, famoser Mann,
schneidig und doch zugleich wie ein Kind. Er konnte sich nicht beruhigen
und ging in größter Erregung auf und ab. Aber als ich ihm alles gesagt
hatte, sagte er geradeso wie wir: 'Sie haben recht, es muß sein!'«
Der
Kaffee kam. Man nahm eine Zigarre, und Wüllersdorf war wieder darauf
aus, das Gespräch auf mehr gleichgültige Dinge zu lenken.
»Ich
wundere mich, daß keiner von den Kessinern sich einfindet, Sie zu
begrüßen. Ich weiß doch, daß Sie sehr beliebt gewesen sind. Und nun gar
Ihr Freund Gieshübler... «
Innstetten lächelte. »Da verkennen Sie die Leute hier an der Küste; halb
Philister und halb Pfiffici, nicht sehr nach meinem Geschmack; aber eine
Tugend haben sie, sie sind alle sehr manierlich. Und nun gar mein alter
Gieshübler. Natürlich weiß jeder, um was sich's handelt; aber eben
deshalb hütet man sich, den Neugierigen zu spielen.«
In
diesem Augenblick wurde von links her ein zurückgeschlagener Chaisewagen
sichtbar, der, weil es noch vor der bestimmten Zeit war, langsam
herankam.
»Ist
das unser?« fragte Innstetten.
»Mutmaßlich.«
Und
gleich danach hielt der Wagen vor dem Hotel, und Innstetten und
Wüllersdorf erhoben sich.
Wüllersdorf trat an den Kutscher heran und sagte: »Nach der Mole.«
Die
Mole lag nach der entgegengesetzten Strandseite, rechts statt links, und
die falsche Weisung wurde nur gegeben, um etwaigen Zwischenfällen, die
doch immerhin möglich waren, vorzubeugen. Im übrigen, ob man sich nun
weiter draußen nach rechts oder links zu halten vorhatte, durch die
Plantage mußte man jedenfalls, und so führte denn der Weg unvermeidlich
an Innstettens alter Wohnung vorüber. Das Haus lag noch stiller da als
früher; ziemlich vernachlässigt sah's in den Parterreräumen aus; wie
mocht es erst da oben sein! Und das Gefühl des Unheimlichen, das
Innstetten an Effi so oft bekämpft oder auch wohl belächelt hatte, jetzt
überkam es ihn selbst, und er war froh, als sie dran vorüber waren.
»Da hab
ich gewohnt«, sagte er zu Wüllersdorf.
»Es
sieht sonderbar aus, etwas öd und verlassen.«
»Mag
auch wohl. In der Stadt galt es als ein Spukhaus, und wie's heute
daliegt, kann ich den Leuten nicht unrecht geben.«
»Was
war es denn damit?«
»Ach,
dummes Zeug: alter Schiffskapitän mit Enkelin oder Nichte, die eines
schönen Tages verschwand, und dann ein Chinese, der vielleicht ein
Liebhaber war, und auf dem Flur ein kleiner Haifisch und ein Krokodil,
beides an Strippen und immer in Bewegung. Wundervoll zu erzählen, aber
nicht jetzt. Es spukt einem doch allerhand anderes im Kopf.«
Sie
vergessen, es kann auch alles glatt ablaufen.«
»Darf
nicht. Und vorhin, Wüllersdorf, als Sie von Crampas sprachen, sprachen
Sie selber anders davon.«
Bald
danach hatte man die Plantage passiert, und der Kutscher wollte jetzt
rechts einbiegen auf die Mole zu. »Fahren Sie lieber links. Das mit der
Mole kann nachher kommen.« Und der Kutscher bog links in eine breite
Fahrstraße ein, die hinter dem Herrenbade grade auf den Wald zulief. Als
sie bis auf dreihundert Schritt an diesen heran waren, ließ Wüllersdorf
den Wagen halten, und beide gingen nun, immer durch mahlenden Sand hin,
eine ziemlich breite Fahrstraße hinunter, die die hier dreifache
Dünenreihe senkrecht durchschnitt. Überall zur Seite standen dichte
Büschel von Strandhafer, um diesen herum aber Immortellen und ein paar
blutrote Nelken. Innstetten bückte sich und steckte sich eine der Nelken
ins Knopfloch. »Die Immortellen nachher.«
So
gingen sie fünf Minuten. Als sie bis an die ziemlich tiefe Senkung
gekommen waren, die zwischen den beiden vordersten Dünenreihen hinlief,
sahen sie, nach links hin, schon die Gegenpartei: Crampas und
Buddenbrook und mit ihnen den guten Doktor Hannemann, der seinen Hut in
der Hand hielt, so daß das weiße Haar im Winde flatterte.
Innstetten und Wüllersdorf gingen die Sandschlucht hinauf, Buddenbrook
kam ihnen entgegen. Man begrüßte sich, worauf beide Sekundanten beiseite
traten, um noch ein kurzes sachliches Gespräch zu führen. Es lief darauf
hinaus, daß man à tempo avancieren und auf zehn Schritt Distanz feuern
solle. Dann kehrte Buddenbrook an seinen Platz zurück; alles erledigte
sich rasch; und die Schüsse fielen. Crampas stürzte.
Innstetten, einige Schritte zurücktretend, wandte sich ab von der Szene.
Wüllersdorf aber war auf Buddenbrook zugeschritten, und beide warteten
jetzt auf den Ausspruch des Doktors, der die Achseln zuckte.
Zugleich deutete Crampas durch eine Handbewegung an, daß er etwas sagen
wollte. Wüllersdorf beugte sich zu ihm nieder, nickte zustimmend zu den
paar Worten, die kaum hörbar von des Sterbenden Lippen kamen, und ging
dann auf Innstetten zu.
»Crampas
will Sie noch sprechen, Innstetten. Sie müssen ihm zu Willen sein. Er
hat keine drei Minuten Leben mehr.«
Innstetten trat an Crampas heran.
»Wollen
Sie ...« Das waren seine letzten Worte.
Noch
ein schmerzlicher und doch beinah freundlicher Schimmer in seinem
Antlitz, und dann war es vorbei.
Neunundzwanzigstes Kapitel
Am
Abend desselben Tages traf Innstetten wieder in Berlin ein. Er war mit
dem Wagen, den er innerhalb der Dünen an dem Querwege zurückgelassen
hatte, direkt nach der Bahnstation gefahren, ohne Kessin noch einmal zu
berühren, dabei den beiden Sekundanten die Meldung an die Behörden
überlassend. Unterwegs (er war allein im Coupé) hing er, alles noch mal
überdenkend, dem Geschehenen nach; es waren dieselben Gedanken wie zwei
Tage zuvor, nur daß sie jetzt den umgekehrten Gang gingen und mit der
Überzeugtheit von seinem Recht und seiner Pflicht anfingen, um mit
Zweifeln daran aufzuhören. »Schuld, wenn sie überhaupt was ist, ist
nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht hinfällig werden von
heute auf morgen. Schuld verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber
Verjährung ist etwas Halbes, etwas Schwächliches, zum mindesten was
Prosaisches.« Und er richtete sich an dieser Vorstellung auf und
wiederholte sich's, daß es gekommen sei, wie's habe kommen müssen. Aber
im selben Augenblick, wo dies für ihn feststand, warf er's auch wieder
um. »Es muß eine Verjährung geben, Verjährung ist das einzig
Vernünftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist gleichgültig;
das Vernünftige ist meist prosaisch. Ich bin jetzt fünfundvierzig. Wenn
ich die Briefe fünfundzwanzig Jahre später gefunden hätte, so wär ich
siebzig. Dann hätte Wüllersdorf gesagt: 'Innstetten, seien Sie kein
Narr.' Und wenn es Wüllersdorf nicht gesagt hätte, so hätte es
Buddenbrook gesagt, und wenn auch der nicht, so ich selbst. Dies ist mir
klar. Treibt man etwas auf die Spitze, so übertreibt man und hat die
Lächerlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze?
Zehn Jahre verlangen noch ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf
Jahren oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn. Die
Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten?
Wenn ich mir seinen letzten Blick vergegenwärtige, resigniert und in
seinem Elend doch noch ein Lächeln, so hieß der Blick: 'Innstetten,
Prinzipienreiterei ... Sie konnten es mir ersparen und sich selber
auch.' Und er hatte vielleicht recht. Mir klingt so was in der Seele.
Ja, wenn ich voll tödlichem Haß gewesen wäre, wenn mir hier ein tiefes
Rachegefühl gesessen hätte ... Rache ist nichts Schönes, aber was
Menschliches und hat ein natürlich menschliches Recht. So aber war alles
einer Vorstellung, einem Begriff zuliebe, war eine gemachte Geschichte,
halbe Komödie. Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi
wegschicken und sie ruinieren und mich mit ... Ich mußte die Briefe
verbrennen, und die Welt durfte nie davon erfahren. Und wenn sie dann
kam, ahnungslos, so mußte ich ihr sagen: 'Da ist dein Platz', und mußte
mich innerlich von ihr scheiden. Nicht vor der Welt. Es gibt so viele
Leben, die keine sind, und so viele Ehen, die keine sind ... dann war
das Glück hin, aber ich hätte das Auge mit seinem Frageblick und mit
seiner stummen, leisen Anklage nicht vor mir.«
Kurz
vor zehn hielt Innstetten vor seiner Wohnung. Er stieg die Treppen
hinauf und zog die Glocke; Johanna kam und öffnete.
»Wie
steht es mit Annie?«
»Gut,
gnäd'ger Herr. Sie schläft noch nicht ... Wenn der gnäd'ge Herr ...«
»Nein,
nein, das regt sie bloß auf. Ich sehe sie lieber morgen früh. Bringen
Sie mir ein Glas Tee, Johanna. Wer war hier?«
»Nur
der Doktor.«
Und nun
war Innstetten wieder allein. Er ging auf und ab, wie er's zu tun
liebte. »Sie wissen schon alles; Roswitha ist dumm, aber Johanna ist
eine kluge Person. Und wenn sie's nicht mit Bestimmtheit wissen, so
haben sie sich's zurechtgelegt und wissen es doch. Es ist merkwürdig,
was alles zum Zeichen wird und Geschichten ausplaudert, als wäre jeder
mit dabeigewesen.«
Johanna
brachte den Tee. Innstetten trank. Er war nach der Überanstrengung
todmüde und schlief ein.
Innstetten war zu guter Zeit auf. Er sah Annie, sprach ein paar Worte
mit ihr, lobte sie, daß sie eine gute Kranke sei, und ging dann aufs
Ministerium, um seinem Chef von allem Vorgefallenen Meldung zu machen.
Der Minister war sehr gnädig. »Ja, Innstetten, wohl dem, der aus allem,
was das Leben uns bringen kann, heil herauskommt; Sie hat's getroffen.«
Er fand alles, was geschehen, in der Ordnung und überließ Innstetten das
Weitere.
Erst
spät nachmittags war Innstetten wieder in seiner Wohnung, in der er ein
paar Zeilen von Wüllersdorf vorfand. »Heute früh wieder eingetroffen.
Eine Welt von Dingen erlebt: Schmerzliches, Rührendes; Gieshübler an der
Spitze. Der liebenswürdigste Bucklige, den ich je gesehen. Von Ihnen
sprach er nicht allzuviel, aber die Frau, die Frau! Er konnte sich nicht
beruhigen, und zuletzt brach der kleine Mann in Tränen aus. Was alles
vorkommt. Es wäre zu wünschen, daß es mehr Gieshübler gäbe. Es gibt aber
mehr andere. Und dann die Szene im Hause des Majors ... furchtbar. Kein
Wort davon. Man hat wieder mal gelernt: aufpassen. Ich sehe Sie morgen.
Ihr W.«
Innstetten war ganz erschüttert, als er gelesen. Er setzte sich und
schrieb seinerseits ein paar Briefe. Als er damit zu Ende war, klingelte
er: »Johanna, die Briefe in den Kasten.«
Johanna
nahm die Briefe und wollte gehen.
» ...
Und dann, Johanna, noch eins: Die Frau kommt nicht wieder. Sie werden
von anderen erfahren, warum nicht. Annie darf nichts wissen, wenigstens
jetzt nicht. Das arme Kind. Sie müssen es ihr allmählich beibringen, daß
sie keine Mutter mehr hat. Ich kann es nicht. Aber machen Sie's
gescheit. Und daß Roswitha nicht alles verdirbt.«
Johanna
stand einen Augenblick ganz wie benommen da. Dann ging sie auf
Innstetten zu und küßte ihm die Hand. Als sie wieder draußen in der
Küche war, war sie von Stolz und Überlegenheit ganz erfüllt, ja beinah
von Glück. Der gnädige Herr hatte ihr nicht nur alles gesagt, sondern am
Schluß auch noch hinzugesetzt: »Und daß Roswitha nicht alles verdirbt.«
Das war die Hauptsache, und ohne daß es ihr an gutem Herzen und selbst
an Teilnahme mit der Frau gefehlt hätte, beschäftigte sie doch, über
jedes andere hinaus, der Triumph einer gewissen Intimitätsstellung zum
gnädigen Herrn.
Unter
gewöhnlichen Umständen wäre ihr denn auch die Herauskehrung und
Geltendmachung dieses Triumphes ein leichtes gewesen, aber heute traf
sich's so wenig günstig für sie, daß ihre Rivalin, ohne Vertrauensperson
gewesen zu sein, sich doch als die Eingeweihtere zeigen sollte. Der
Portier unten hatte nämlich, so ziemlich um dieselbe Zeit, wo dies
spielte, Roswitha in seine kleine Stube hineingerufen und ihr gleich
beim Eintreten ein Zeitungsblatt zum Lesen zugeschoben. »Da, Roswitha,
das ist was für Sie; Sie können es mir nachher wieder runterbringen. Es
ist bloß das Fremdenblatt; aber Lene ist schon hin und holt das Kleine
Journal. Da wird wohl schon mehr drinstehen; die wissen immer alles.
Hören Sie, Roswitha, wer so was gedacht hätte.«
Roswitha, sonst nicht allzu neugierig, hatte sich doch nach dieser
Ansprache so rasch wie möglich die Hintertreppe hinaufbegeben und war
mit dem Lesen gerade fertig, als Johanna dazukam.
Diese
legte die Briefe, die ihr Innstetten eben gegeben, auf den Tisch,
überflog die Adressen oder tat wenigstens so (denn sie wußte längst, an
wen sie gerichtet waren) und sagte mit gut erkünstelter Ruhe: »Einer ist
nach Hohen-Cremmen.«
»Das
kann ich mir denken«, sagte Roswitha.
Johanna
war nicht wenig erstaunt über diese Bemerkung. »Der Herr schreibt sonst
nie nach Hohen-Cremmen.«
»Ja,
sonst. Aber jetzt ... Denken Sie sich, das hat mir eben der Portier
unten gegeben.«
Johanna
nahm das Blatt und las nun halblaut eine mit einem dicken Tintenstrich
markierte Stelle: »Wie wir kurz vor Redaktionsschluß von gut
unterrichteter Seite her vernehmen, hat gestern früh in dem Badeort
Kessin in Hinterpommern ein Duell zwischen dem Ministerialrat v. I.
(Keithstraße) und dem Major von Crampas stattgefunden. Major von Crampas
fiel. Es heißt, daß Beziehungen zwischen ihm und der Rätin, einer
schönen und noch sehr jungen Frau, bestanden haben sollen.«
»Was
solche Blätter auch alles schreiben«, sagte Johanna, die verstimmt war,
ihre Neuigkeit überholt zu sehen.
»Ja«,
sagte Roswitha. »Und das lesen nun die Menschen und verschimpfieren mir
meine liebe, arme Frau. Und der arme Major. Nun ist er tot.«
»Ja,
Roswitha, was denken Sie sich eigentlich? Soll er nicht tot sein? Oder
soll lieber unser gnädiger Herr tot sein?«
»Nein,
Johanna, unser gnäd'ger Herr, der soll auch leben, alles soll leben. Ich
bin nicht für Totschießen und kann nicht mal das Knallen hören. Aber
bedenken Sie doch, Johanna, das ist ja nun schon eine halbe Ewigkeit
her, und die Briefe, die mir gleich so sonderbar aussahen, weil sie die
rote Strippe hatten und drei- oder viermal umwickelt und dann
eingeknotet und keine Schleife – die sahen ja schon ganz gelb aus, so
lange ist es her. Wir sind ja nun schon über sechs Jahre hier, und wie
kann man wegen solcher alten Geschichten ...«
»Ach,
Roswitha, Sie reden, wie Sie's verstehen. Und bei Licht besehen sind Sie
schuld. Von den Briefen kommt es her. Warum kamen Sie mit dem Stemmeisen
und brachen den Nähtisch auf, was man nie darf; man darf kein Schloß
aufbrechen, was ein anderer zugeschlossen hat.«
»Aber,
Johanna, das ist doch wirklich zu schlecht von Ihnen, mir so was auf den
Kopf zuzusagen, und Sie wissen doch, daß Sie schuld sind und daß Sie wie
närrisch in die Küche stürzten und mir sagten, der Nähtisch müsse
aufgemacht werden, da wäre die Bandage drin, und da bin ich mit dem
Stemmeisen gekommen, und nun soll ich schuld sein. Nein, ich sage ...«
»Nun,
ich will es nicht gesagt haben, Roswitha. Nur, Sie sollen mir nicht
kommen und sagen: der arme Major. Was heißt der arme Major! Der ganze
arme Major taugte nichts; wer solchen rotblonden Schnurrbart hat und
immer wribbelt, der taugt nie was und richtet bloß Schaden an. Und wenn
man immer in vornehmen Häusern gedient hat ... aber das haben Sie nicht,
Roswitha, das fehlt Ihnen eben ... dann weiß man auch, was sich paßt und
schickt und was Ehre ist, und weiß auch, daß, wenn so was vorkommt, dann
geht es nicht anders, und dann kommt das, was man eine Forderung nennt,
und dann wird einer totgeschossen.«
»Ach,
das weiß ich auch; ich bin nicht so dumm, wie Sie mich immer machen
wollen. Aber wenn es so lange her ist ...«
Ja,
Roswitha, mit Ihrem ewigen 'so lange her'; daran sieht man ja eben, daß
Sie nichts davon verstehen. Sie erzählen immer die alte Geschichte von
Ihrem Vater mit dem glühenden Eisen und wie er damit auf Sie
losgekommen, und jedesmal, wenn ich einen glühenden Bolzen eintue, muß
ich auch wirklich immer an Ihren Vater denken und sehe immer, wie er Sie
wegen des Kindes, das ja nun tot ist, totmachen will. Ja, Roswitha,
davon sprechen Sie in einem fort, und es fehlt bloß noch, daß Sie
Anniechen auch die Geschichte erzählen, und wenn Anniechen eingesegnet
wird, dann wird sie's auch gewiß erfahren, und vielleicht denselben Tag
noch; und das ärgert mich, daß Sie das alles erlebt haben, und Ihr Vater
war doch bloß ein Dorfschmied und hat Pferde beschlagen oder einen
Radreifen belegt, und nun kommen Sie und verlangen von unserm gnäd'gen
Herrn, daß er sich das alles ruhig gefallen läßt, bloß weil es so lange
her ist. Was heißt lange her? Sechs Jahre ist nicht lange her. Und unsre
gnäd'ge Frau – die aber nicht wiederkommt, der gnäd'ge Herr hat es mir
eben gesagt –, unsre gnäd'ge Frau wird erst sechsundzwanzig, und im
August ist ihr Geburtstag, und da kommen Sie mir mit 'lange her'. Und
wenn sie sechsunddreißig wäre, ich sage Ihnen, bis sechsunddreißig muß
man erst recht aufpassen, und wenn der gnäd'ge Herr nichts getan hätte,
dann hätten ihn die vornehmen Leute 'geschnitten'. Aber das Wort kennen
Sie gar nicht, Roswitha, davon wissen Sie nichts.«
»Nein,
davon weiß ich nichts, will auch nicht; aber das weiß ich, Johanna, daß
Sie in den gnäd'gen Herrn verliebt sind.« Johanna schlug eine
krampfhafte Lache auf.
»Ja,
lachen Sie nur. Ich seh es schon lange. Sie haben so was. Und ein Glück,
daß unser gnäd'ger Herr keine Augen dafür hat ... Die arme Frau, die
arme Frau.«
Johanna
lag daran, Frieden zu schließen. »Lassen Sie's gut sein, Roswitha. Sie
haben wieder Ihren Koller; aber ich weiß schon, den haben alle vom
Lande.«
»Kann
schon sein.«
»Ich
will jetzt nur die Briefe forttragen und unten sehen, ob der Portier
vielleicht schon die andere Zeitung hat. Ich habe doch recht verstanden,
daß er Lene danach geschickt hat? Und es muß auch mehr darin stehen; das
hier ist ja so gut wie gar nichts.«
Dreißigstes Kapitel
Effi
und die Geheimrätin Zwicker waren seit fast drei Wochen in Ems und
bewohnten daselbst das Erdgeschoß einer reizenden kleinen Villa. In
ihrem zwischen ihren zwei Wohnzimmern gelegenen gemeinschaftlichen Salon
mit Blick auf den Garten stand ein Palisanderflügel, auf dem Effi dann
und wann eine Sonate, die Zwicker dann und wann einen Walzer spielte;
sie war ganz unmusikalisch und beschränkte sich im wesentlichen darauf,
für Niemann als Tannhäuser zu schwärmen.
Es war
ein herrlicher Morgen; in dem kleinen Garten zwitscherten die Vögel, und
aus dem angrenzenden Hause, drin sich ein »Lokal« befand, hörte man,
trotz der frühen Stunde, bereits das Zusammenschlagen der Billardbälle.
Beide Damen hatten ihr Frühstück nicht im Salon selbst, sondern auf
einem ein paar Fuß hoch aufgemauerten und mit Kies bestreuten Vorplatz
eingenommen, von dem aus drei Stufen nach dem Garten hinunterführten;
die Markise, ihnen zu Häupten, war aufgezogen, um den Genuß der frischen
Luft in nichts zu beschränken, und sowohl Effi wie die Geheimrätin waren
ziemlich emsig bei ihrer Handarbeit. Nur dann und wann wurden ein paar
Worte gewechselt.
»Ich
begreife nicht«, sagte Effi, »daß ich schon seit vier Tagen keinen Brief
habe; er schreibt sonst täglich. Ob Annie krank ist? Oder er selbst?«
Die
Zwicker lächelte: »Sie werden erfahren, liebe Freundin, daß er gesund
ist, ganz gesund.«
Effi
fühlte sich durch den Ton, in dem dies gesagt wurde, wenig angenehm
berührt und schien antworten zu wollen, aber in ebendiesem Augenblicke
trat das aus der Umgegend von Bonn stammende Hausmädchen, das sich von
Jugend an daran gewöhnt hatte, die mannigfachsten Erscheinungen des
Lebens an Bonner Studenten und Bonner Husaren zu messen, vom Salon her
auf den Vorplatz hinaus, um hier den Frühstückstisch abzuräumen. Sie
hieß Afra.
»Afra«,
sagte Effi, »es muß doch schon neun sein; war der Postbote noch nicht
da?«
»Nein,
noch nicht, gnäd'ge Frau.«
Woran
liegt es?«
»Natürlich an dem Postboten; er ist aus dem Siegenschen und hat keinen
Schneid. Ich hab's ihm auch schon gesagt, das sei die 'reine Lodderei'.
Und wie ihm das Haar sitzt; ich glaube, er weiß gar nicht, was ein
Scheitel ist.«
»Afra,
Sie sind mal wieder zu streng. Denken Sie doch: Postbote, und so tagaus,
tagein bei der ewigen Hitze ...«
»Ist
schon recht, gnäd'ge Frau. Aber es gibt doch andere, die zwingen's; wo's
drinsteckt, da geht es auch.« Und während sie noch so sprach, nahm sie
das Tablett geschickt auf ihre fünf Fingerspitzen und stieg die Stufen
hinunter, um durch den Garten hin den näheren Weg in die Küche zu
nehmen.
»Eine
hübsche Person«, sagte die Zwicker. »Und so quick und kasch, und ich
möchte fast sagen, von einer natürlichen Anmut. Wissen Sie, liebe
Baronin, daß mich diese Afra...
übrigens ein wundervoller Name, und es soll sogar eine heilige Afra
gegeben haben, aber ich glaube nicht, daß unsere davon abstammt... «
»Und
nun, liebe Geheimrätin, vertiefen Sie sich wieder in Ihr Nebenthema, das
diesmal Afra heißt, und vergessen darüber ganz, was Sie eigentlich sagen
wollten ...«
»Doch
nicht, liebe Freundin, oder ich finde mich wenigstens wieder zurück. Ich
wollte sagen, daß mich diese Afra ganz ungemein an die stattliche Person
erinnert, die ich in Ihrem Hause ...«
»Ja,
Sie haben recht. Es ist eine Ähnlichkeit da. Nur, unser Berliner
Hausmädchen ist doch erheblich hübscher und namentlich ihr Haar viel
schöner und voller. Ich habe so schönes flachsenes Haar, wie unsere
Johanna hat, überhaupt noch nicht gesehen. Ein bißchen davon sieht man
ja wohl, aber solche Fülle ...«
Die
Zwicker lächelte. »Das ist wirklich selten, daß man eine junge Frau mit
solcher Begeisterung von dem flachsenen Haar ihres Hausmädchens sprechen
hört. Und nun auch noch von der Fülle! Wissen Sie, daß ich das rührend
finde? Denn eigentlich ist man doch bei der Wahl der Mädchen in einer
beständigen Verlegenheit. Hübsch sollen sie sein, weil es jeden
Besucher, wenigstens die Männer, stört, eine lange Stakete mit griesem
Teint und schwarzen Rändern in der Türöffnung erscheinen zu sehen, und
ein wahres Glück, daß die Korridore meistens so dunkel sind. Aber nimmt
man wieder zu viel Rücksicht auf solche Hausrepräsentation und den
sogenannten ersten Eindruck, und schenkt man wohl gar noch einer solchen
hübschen Person eine weiße Tändelschürze nach der andern, so hat man
eigentlich keine ruhige Stunde mehr und fragt sich, wenn man nicht zu
eitel ist und nicht zu viel Vertrauen zu sich selber hat, ob da nicht
Remedur geschaffen werden müsse. Remedur war nämlich ein Lieblingswort
von Zwicker, womit er mich oft gelangweilt hat; aber freilich, alle
Geheimräte haben solche Lieblingsworte.«
Effi
hörte mit sehr geteilten Empfindungen zu. Wenn die Geheimrätin nur ein
bißchen anders gewesen wäre, so hätte dies alles reizend sein können,
aber da sie nun mal war, wie sie war, so fühlte sich Effi wenig angenehm
von dem berührt, was sie sonst vielleicht einfach erheitert hätte.
»Das
ist schon recht, liebe Freundin, was Sie da von den Geheimräten sagen.
Innstetten hat sich auch dergleichen angewöhnt, lacht aber immer, wenn
ich ihn daraufhin ansehe, und entschuldigt sich hinterher wegen der
Aktenausdrücke. Ihr Herr Gemahl war freilich schon länger im Dienst und
überhaupt wohl älter ...«
»Um ein
geringes«, sagte die Geheimrätin spitz und ablehnend.
»Und
alles in allem kann ich mich in Befürchtungen, wie Sie sie aussprechen,
nicht recht zurechtfinden. Das, was man gute Sitte nennt, ist doch immer
noch eine Macht ...«
»Meinen
Sie?«
Und ich
kann mir namentlich nicht denken, daß es gerade Ihnen, liebe Freundin,
beschieden gewesen sein solle, solche Sorgen und Befürchtungen
durchzumachen. Sie haben, Verzeihung, daß ich diesen Punkt hier so offen
berühre, gerade das, was die Männer einen 'Scharm' nennen, Sie sind
heiter, fesselnd, anregend, und wenn es nicht indiskret ist, so möcht
ich angesichts dieser Ihrer Vorzüge wohl fragen dürfen, stützt sich das,
was Sie da sagen, auf allerlei Schmerzliches, das Sie persönlich erlebt
haben?«
»Schmerzliches?« sagte die Zwicker. »Ach, meine liebe, gnädigste Frau,
Schmerzliches, das ist ein zu großes Wort, auch dann noch, wenn man
vielleicht wirklich manches erlebt hat. Schmerzlich ist einfach zuviel,
viel zuviel. Und dann hat man doch schließlich auch seine Hilfsmittel
und Gegenkräfte. Sie dürfen dergleichen nicht zu tragisch nehmen.«
»Ich
kann mir keine rechte Vorstellung von dem machen, was Sie anzudeuten
belieben. Nicht, als ob ich nicht wüßte, was Sünde sei, das weiß ich
auch; aber es ist doch ein Unterschied, ob man so hineingerät in
allerlei schlechte Gedanken oder ob einem derlei Dinge zur halben oder
auch wohl zur ganzen Lebensgewohnheit werden. Und nun gar im eigenen
Hause ...«
»Davon
will ich nicht sprechen, das will ich nicht so direkt gesagt haben,
obwohl ich, offen gestanden, auch nach dieser Seite hin voller Mißtrauen
bin oder, wie ich jetzt sagen muß, war; denn es liegt ja alles zurück.
Aber da gibt es Außengebiete. Haben Sie von Landpartien gehört?«
»Gewiß.
Und ich wollte wohl, Innstetten hätte mehr Sinn dafür ...«
»Überlegen Sie sich das, liebe Freundin. Zwicker saß immer in
Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn ich das Wort höre, gibt es
mir noch jetzt einen Stich ins Herz. Überhaupt diese Vergnügungsorte in
der Umgegend unseres lieben alten Berlin! Denn ich liebe Berlin trotz
alledem. Aber schon die bloßen Namen der dabei in Frage kommenden
Ortschaften umschließen eine Welt von Angst und Sorge. Sie lächeln. Und
doch, sagen Sie selbst, liebe Freundin, was können Sie von einer großen
Stadt und ihren Sittlichkeitszuständen erwarten, wenn Sie beinah
unmittelbar vor den Toren derselben (denn zwischen Charlottenburg und
Berlin ist kein rechter Unterschied mehr), auf kaum tausend Schritte
zusammengedrängt, einem Pichelsberg, einem Pichelsdorf und einem
Pichelswerder begegnen. Dreimal Pichel ist zuviel. Sie können die ganze
Welt absuchen, das finden Sie nicht wieder.«
Effi
nickte.
»Und
das alles«, fuhr die Zwicker fort, »geschieht am grünen Holz der
Havelseite. Das alles liegt nach Westen zu, da haben Sie Kultur und
höhere Gesittung. Aber nun gehen Sie, meine Gnädigste, nach der anderen
Seite hin, die Spree hinauf. Ich spreche nicht von Treptow und Stralau,
das sind Bagatellen, Harmlosigkeiten, aber wenn Sie die Spezialkarte zur
Hand nehmen wollen, da begegnen Sie neben mindestens sonderbaren Namen
wie Kiekebusch, wie Wuhlheide – Sie hätten hören sollen, wie Zwicker das
Wort aussprach – Namen von geradezu brutalem Charakter, mit denen ich
Ihr Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich sind das gerade die Plätze,
die bevorzugt werden. Ich hasse diese Landpartien, die sich das
Volksgemüt als eine Kremserpartie mit 'Ich bin ein Preuße' vorstellt, in
Wahrheit aber schlummern hier die Keime einer sozialen Revolution. Wenn
ich sage 'soziale Revolution', so meine ich natürlich moralische
Revolution, alles andere ist bereits wieder überholt, und schon Zwicker
sagte mir noch in seinen letzten Tagen: 'Glaube mir, Sophie, Saturn
frißt seine Kinder.' Und Zwicker, welche Mängel und Gebrechen er haben
mochte, das bin ich ihm schuldig, er war ein philosophischer Kopf und
hatte ein natürliches Gefühl für historische Entwicklung ... Aber ich
sehe, meine liebe Frau von Innstetten, so artig sie sonst ist, hört nur
noch mit halbem Ohr zu; natürlich, der Postbote hat sich drüben blicken
lassen, und da fliegt denn das Herz hinüber und nimmt die Liebesworte
vorweg aus dem Brief heraus ... Nun, Böselager, was bringen Sie?«
Der
Angeredete war mittlerweile bis an den Tisch herangetreten und packte
aus: mehrere Zeitungen, zwei Friseuranzeigen und zuletzt auch einen
großen eingeschriebenen Brief an Frau Baronin von Innstetten, geb. von
Briest.
Die
Empfängerin unterschrieb, und nun ging der Postbote wieder. Die Zwicker
aber überflog die Friseuranzeigen und lachte über die Preisermäßigung
von Shampooing.
Effi
hörte nicht hin; sie drehte den ihrerseits empfangenen Brief zwischen
den Fingern und hatte eine ihr unerklärliche Scheu, ihn zu öffnen.
Eingeschrieben und mit zwei großen Siegeln und ein dickes Kuvert. Was
bedeutete das? Poststempel: »Hohen-Cremmen«, und die Adresse von der
Handschrift der Mutter. Von Innstetten, es war der fünfte Tag, keine
Zeile.
Sie
nahm eine Stickschere mit Perlmuttergriff und schnitt die Längsseite des
Briefes langsam auf. Und nun harrte ihrer eine neue Überraschung. Der
Briefbogen, ja, das waren eng beschriebene Zeilen von der Mama, darin
eingelegt aber waren Geldscheine mit einem breiten Papierstreifen
drumherum, auf dem mit Rotstift, und zwar von des Vaters Hand, der
Betrag der eingelegten Summe verzeichnet war. Sie schob das Konvolut
zurück und begann zu lesen, während sie sich in den Schaukelstuhl
zurücklehnte. Aber sie kam nicht weit, die Zeilen entfielen ihr, und aus
ihrem Gesicht war alles Blut fort. Dann bückte sie sich und nahm den
Brief wieder auf. »Was ist Ihnen, liebe Freundin? Schlechte
Nachrichten?« Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und bat nur,
ihr ein Glas Wasser reichen zu wollen. Als sie getrunken, sagte sie: »Es
wird vorübergehen, liebe Geheimrätin, aber ich möchte mich doch einen
Augenblick zurückziehen ... Wenn Sie mir Afra schicken könnten.«
Und nun
erhob sie sich und trat in den Salon zurück, wo sie sichtlich froh war,
einen Halt gewonnen und sich an dem Palisanderflügel entlangfühlen zu
können. So kam sie bis an ihr nach rechts hin gelegenes Zimmer, und als
sie hier, tappend und suchend, die Tür geöffnet und das Bett an der Wand
gegenüber erreicht hatte, brach sie ohnmächtig zusammen.
Einunddreißigstes Kapitel
Minuten
vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich auf einen
am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Straße hinaus. Wenn da
doch Lärm und Streit gewesen wäre; aber nur der Sonnenschein lag auf dem
chaussierten Wege und dazwischen die Schatten, die das Gitter und die
Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinseins in der Welt überkam sie mit
seiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine glückliche Frau,
Liebling aller, die sie kannten, und nun ausgestoßen. Sie hatte nur erst
den Anfang des Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen
zu haben. Wohin?
Sie
hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer Sehnsucht, aus
dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von dieser
Geheimrätin, der das alles bloß ein »interessanter Fall« war und deren
Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß ihrer Neugier
nicht heranreichte.
»Wohin?«
Auf dem
Tisch vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut, weiterzulesen.
Endlich sagte sie: »Wovor bange ich mich noch? Was kann noch gesagt
werden, das ich mir nicht schon selber sagte? Der, um den all dies kam,
ist tot, eine Rückkehr in mein Haus gibt es nicht, in ein paar Wochen
wird die Scheidung ausgesprochen sein, und das Kind wird man dem Vater
lassen. Natürlich. Ich bin schuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind
nicht erziehen. Und wovon auch? Mich selbst werde ich wohl durchbringen.
Ich will sehen, was die Mama darüber schreibt, wie sie sich mein Leben
denkt.«
Und
unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den Schluß zu
lesen.
» ...
Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich auf Dich selbst
stellen müssen und darfst dabei, soweit äußere Mittel mitsprechen,
unserer Unterstützung sicher sein. Du wirst am besten in Berlin leben
(in einer großen Stadt vertut sich dergleichen am besten) und wirst da
zu den vielen gehören, die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht
haben. Du wirst einsam leben, und wenn Du das nicht willst,
wahrscheinlich aus Deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die Welt, in der
Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das Traurigste für
uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir Dich zu kennen vermeinen) –
auch das elterliche Haus wird Dir verschlossen sein, wir können Dir
keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten, keine Zuflucht in
unserem Hause, denn es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen,
und das zu tun, sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil wir zu
sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem, was sich
'Gesellschaft' nennt, uns als etwas unbedingt Unerträgliches erschiene;
nein, nicht deshalb, sondern einfach, weil wir Farbe bekennen und vor
aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung
Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten
Kindes, aussprechen wollen ...« Effi konnte nicht weiterlesen; ihre
Augen füllten sich mit Tränen, und nachdem sie vergeblich dagegen
angekämpft hatte, brach sie zuletzt in ein heftiges Schluchzen und
Weinen aus, darin sich ihr Herz erleichterte.
Nach
einer halben Stunde klopfte es, und auf Effis »Herein« erschien die
Geheimrätin.
»Darf
ich eintreten?«
»Gewiß,
liebe Geheimrätin«, sagte Effi, die jetzt, leicht zugedeckt und die
Hände gefaltet, auf dem Sofa lag. »Ich bin erschöpft und habe mich hier
eingerichtet, so gut es ging. Darf ich Sie bitten, sich einen Stuhl zu
nehmen.«
Die
Geheimrätin setzte sich so, daß der Tisch, mit einer Blumenschale
darauf, zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte keine Spur von
Verlegenheit und änderte nichts in ihrer Haltung, nicht einmal die
gefalteten Hände. Mit einem Male war es ihr vollkommen gleichgültig, was
die Frau dachte; nur fort wollte sie.
»Sie
haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe gnädigste Frau ...«
»Mehr
als traurig«, sagte Effi. »Jedenfalls traurig genug, um unserem
Beisammensein ein rasches Ende zu machen. Ich muß noch heute fort.«
»Ich
möchte nicht zudringlich erscheinen, aber ist es etwas mit Annie?«
»Nein,
nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen überhaupt nicht aus Berlin, es
waren Zeilen meiner Mama. Sie hat Sorgen um mich, und es liegt mir
daran, sie zu zerstreuen, oder wenn ich das nicht kann, wenigstens an
Ort und Stelle zu sein.«
»Mir
nur zu begreiflich, so sehr ich es beklage, diese letzten Emser Tage nun
ohne Sie verbringen zu sollen. Darf ich Ihnen meine Dienste zur
Verfügung stellen?«
Ehe
Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und meldete, daß man sich
eben zum Lunch versammle. Die Herrschaften seien alle sehr in Aufregung:
Der Kaiser käme wahrscheinlich auf drei Wochen, und am Schluß seien
große Manöver, und die Bonner Husaren kämen auch.
Die
Zwicker überschlug sofort, ob es sich verlohnen würde, bis dahin zu
bleiben, kam zu einem entschiedenen »Ja« und ging dann, um Effis
Ausbleiben beim Lunch zu entschuldigen.
Als
gleich danach auch Afra gehen wollte, sagte Effi: »Und dann, Afra, wenn
Sie frei sind, kommen Sie wohl noch eine Viertelstunde zu mir, um mir
beim Packen behilflich zu sein. Ich will heute noch mit dem Siebenuhrzug
fort.«
»Heute
noch? Ach, gnädigste Frau, das ist doch aber schade. Nun fangen ja die
schönen Tage erst an.«
Effi
lächelte.
Die
Zwicker, die noch allerlei zu hören hoffte, hatte sich nur mit Mühe
bestimmen lassen, der »Frau Baronin« beim Abschied nicht das Geleit zu
geben. Auf einem Bahnhof, so hatte Effi versichert, sei man immer so
zerstreut und nur mit seinem Platz und seinem Gepäck beschäftigt; gerade
Personen, die man liebhabe, von denen nähme man gern vorher Abschied.
Die Zwicker bestätigte das, trotzdem sie das Vorgeschützte darin sehr
wohl herausfühlte; sie hatte hinter allen Türen gestanden und wußte
gleich, was echt und unecht war.
Afra
begleitete Effi zum Bahnhof und ließ sich fest versprechen, daß die Frau
Baronin im nächsten Sommer wiederkommen wolle; wer mal in Ems gewesen,
der komme immer wieder. Ems sei das Schönste, außer Bonn.
Die
Zwicker hatte sich mittlerweile zum Briefschreiben niedergesetzt, nicht
an dem etwas wackligen Rokokosekretär im Salon, sondern draußen auf der
Veranda, an demselben Tisch, an dem sie kaum zehn Stunden zuvor mit Effi
das Frühstück genommen hatte.
Sie
freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit in
Reichenhall weilenden Berliner Dame zugute kommen sollte. Beider Seelen
hatten sich längst gefunden und gipfelten in einer der ganzen Männerwelt
geltenden starken Skepsis; sie fanden die Männer durchweg weit
zurückbleibend hinter dem, was billigerweise gefordert werden könne, die
sogenannten »forschen« am meisten. »Die, die vor Verlegenheit nicht
wissen, wo sie hinsehen sollen, sind, nach einem kurzen Vorstudium,
immer noch die besten, aber die eigentlichen Don Juans erweisen sich
jedesmal als eine Enttäuschung. Wo soll es am Ende auch herkommen.« Das
waren so Weisheitssätze, die zwischen den zwei Freundinnen ausgetauscht
wurden.
Die
Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem mehr als
dankbaren Thema, das natürlich »Effi« hieß, eben wie folgt fort: »Alles
in allem war sie sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne jeden
Adelsdünkel (oder doch groß in der Kunst, ihn zu verbergen) und immer
interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzählte, wovon ich, wie
ich Dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten Gebrauch machte.
Nochmals also, reizende junge Frau, fünfundzwanzig oder nicht viel mehr.
Und doch habe ich dem Frieden nie getraut und traue ihm auch in diesem
Augenblick noch nicht, ja, jetzt vielleicht am wenigsten. Die Geschichte
heute mit dem Briefe – da steckt eine wirkliche Geschichte dahinter.
Dessen bin ich so gut wie sicher. Es wäre das erste Mal, daß ich mich in
solcher Sache geirrt hätte. Daß sie mit Vorliebe von den Berliner
Modepredigern sprach und das Maß der Gottseligkeit jedes einzelnen
feststellte, das und der gelegentliche Gretchenblick, der jedesmal
versicherte, kein Wässerchen trüben zu können – alle diese Dinge haben
mich in meinem Glauben ... Aber da kommt eben unsere Afra, von der ich
Dir, glaube ich, schon schrieb, eine hübsche Person, und packt mir ein
Zeitungsblatt auf den Tisch, das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin
für mich gegeben habe; die blau angestrichene Stelle. Nun verzeih, wenn
ich diese Stelle erst lese ...
Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie
gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und lege sie
diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, daß ich mich nicht geirrt habe. Wer
mag nur der Crampas sein?
Es ist
unglaublich – erst selber Zettel und Briefe schreiben und dann auch noch
die des anderen aufbewahren! Wozu gibt es Öfen und Kamine? Solange
wenigstens, wie dieser Duellunsinn noch existiert, darf dergleichen
nicht vorkommen; einem kommenden Geschlecht kann diese
Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht
freigegeben werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Übrigens bin
ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie man nun mal
ist, meinen einzigen Trost darin, mich in der Sache selbst nicht
getäuscht zu haben. Und der Fall lag nicht so ganz gewöhnlich. Ein
schwächerer Diagnostiker hätte sich doch vielleicht hinters Licht führen
lassen.
Wie
immer Deine Sophie.«
Zweiunddreißigstes Kapitel
Drei
Jahre waren vergangen, und Effi bewohnte seit fast ebenso langer Zeit
eine kleine Wohnung in der Königgrätzer Straße, zwischen Askanischem
Platz und Halleschem Tor: ein Vorder- und Hinterzimmer und hinter diesem
die Küche mit Mädchengelaß, alles so durchschnittsmäßig und alltäglich
wie nur möglich. Und doch war es eine apart hübsche Wohnung, die jedem,
der sie sah, angenehm auffiel, am meisten vielleicht dem alten Geheimrat
Rummschüttel, der, dann und wann vorsprechend, der armen jungen Frau
nicht bloß die nun weit zurückliegende Rheumatismus- und
Neuralgiekomödie sondern auch alles, was seitdem sonst noch vorgekommen
war, längst verziehen hatte, wenn es für ihn der Verzeihung überhaupt
bedurfte. Denn Rummschüttel kannte noch ganz anderes.
Er war
jetzt ausgangs Siebzig, aber wenn Effi, die seit einiger Zeit ziemlich
viel kränkelte, ihn brieflich um seinen Besuch bat, so war er am anderen
Vormittag auch da und wollte von Entschuldigungen, daß es so hoch sei,
nichts wissen. »Nur keine Entschuldigungen, meine liebe gnädigste Frau;
denn erstens ist es mein Metier, und zweitens bin ich glücklich und
beinahe stolz, die drei Treppen so gut noch steigen zu können. Wenn ich
nicht fürchten müßte, Sie zu belästigen – denn ich komme doch
schließlich als Arzt und nicht als Naturfreund und Landschaftsschwärmer
–, so käme ich wohl noch öfter, bloß um Sie zu sehen und mich hier
etliche Minuten an Ihr Hinterfenster zu setzen. Ich glaube, Sie würdigen
den Ausblick nicht genug.«
»O
doch, doch«, sagte Effi; Rummschüttel aber ließ sich nicht stören und
fuhr fort: »Bitte, meine gnädigste Frau, treten Sie hier heran, nur
einen Augenblick, oder erlauben Sie mir, daß ich Sie bis an das Fenster
führe. Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch nur die verschiedenen
Bahndämme, drei, nein, vier, und wie es beständig darauf hin und her
gleitet ... und nun verschwindet der Zug da wieder hinter einer
Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne den weißen Rauch
durchleuchtet! Wäre der Matthäikirchhof nicht unmittelbar dahinter, so
wäre es ideal.«
»Ich
sehe gern Kirchhöfe.«
»Ja,
Sie dürfen das sagen. Aber unsereins! Unsereinem kommt unabweislich
immer die Frage, könnten hier nicht vielleicht einige weniger liegen? Im
übrigen, meine gnädigste Frau, bin ich mit Ihnen zufrieden und beklage
nur, daß Sie von Ems nichts wissen wollen; Ems bei Ihren katarrhalischen
Affektionen, würde Wunder ...«
Effi
schwieg.
»Ems
würde Wunder tun. Aber da Sie's nicht mögen (und ich finde mich darin
zurecht), so trinken Sie den Brunnen hier. In drei Minuten sind Sie im
Prinz Albrechtschen Garten, und wenn auch die Musik und die Toiletten
und all die Zerstreuungen einer regelrechten Brunnenpromenade fehlen,
der Brunnen selbst ist doch die Hauptsache.«
Effi
war einverstanden, und Rummschüttel nahm Hut und Stock. Aber er trat
noch einmal an das Fenster heran. »Ich höre von einer Terrassierung des
Kreuzbergs sprechen, Gott segne die Stadtverwaltung, und wenn dann erst
die kahle Stelle da hinten mehr in Grün stehen wird ... Eine reizende
Wohnung. Ich könnte Sie fast beneiden ... Und was ich schon längst
einmal sagen wollte, meine gnädige Frau, Sie schreiben mir immer einen
so liebenswürdigen Brief. Nun, wer freute sich dessen nicht? Aber es ist
doch jedesmal eine Mühe ... Schicken Sie mir doch einfach Roswitha.«
Effi
dankte ihm, und so schieden sie.
»Schicken Sie mir doch einfach Roswitha ...« hatte Rummschüttel gesagt.
Ja, war denn Roswitha bei Effi? War sie denn statt in der Keith- in der
Königgrätzer Straße? Gewiß war sie's, und zwar sehr lange schon, gerade
so lange, wie Effi selbst in der Königgrätzer Straße wohnte. Schon drei
Tage vor diesem Einzug hatte sich Roswitha bei ihrer lieben gnädigen
Frau sehen lassen, und das war ein großer Tag für beide gewesen, so
sehr, daß dieses Tages hier noch nachträglich gedacht werden muß.
Effi
hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen kam und
sie mit dem Abendzug von Ems nach Berlin zurückreiste, nicht gleich eine
selbständige Wohnung genommen, sondern es mit einem Unterkommen in einem
Pensionat versucht. Es war ihr damit auch leidlich geglückt. Die beiden
Damen, die dem Pensionat vorstanden, waren gebildet und voll Rücksicht
und hatten es längst verlernt, neugierig zu sein. Es kam da so vieles
zusammen, daß ein Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes einzelnen
viel zu umständlich gewesen wäre. Dergleichen hinderte nur den
Geschäftsgang. Effi, die die mit den Augen angestellten Kreuzverhöre der
Zwicker noch in Erinnerung hatte, fühlte sich denn auch von dieser
Zurückhaltung der Pensionsdamen sehr angenehm berührt; als aber vierzehn
Tage vorüber waren, empfand sie doch deutlich, daß die hier herrschende
Gesamtatmosphäre, die physische wie die moralische, nicht wohl ertragbar
für sie sei. Bei Tisch waren sie meist zu sieben, und zwar außer Effi
und der einen Pensionsvorsteherin (die andere leitete draußen das
Wirtschaftliche) zwei die Hochschule besuchende Engländerinnen, eine
adelige Dame aus Sachsen, eine sehr hübsche galizische Jüdin, von der
niemand wußte, was sie eigentlich vorhatte, und eine Kantorstochter aus
Polzin in Pommern, die Malerin werden wollte. Das war eine schlimme
Zusammensetzung, und die gegenseitigen Überheblichkeiten, bei denen die
Engländerinnen merkwürdigerweise nicht absolut obenan standen, sondern
mit der vom höchsten Malergefühl erfüllten Polzinerin um die Palme
rangen, waren unerquicklich; dennoch wäre Effi, die sich passiv
verhielt, über den Druck, den diese geistige Atmosphäre übte,
hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch und äußerlich, die sich
hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre. Woraus sich diese eigentlich
zusammensetzte, war vielleicht überhaupt unerforschlich, aber daß sie
der sehr empfindlichen Effi den Atem raubte, war nur zu gewiß, und so
sah sie sich, aus diesem äußerlichen Grunde, sehr bald schon zur Aus-
und Umschau nach einer anderen Wohnung gezwungen, die sie denn auch in
verhältnismäßiger Nähe fand. Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in
der Königgrätzer Straße. Sie sollte dieselbe zu Beginn des
Herbstvierteljahres beziehen, hatte das Nötige dazu beschafft und zählte
während der letzten Septembertage die Stunden bis zur Erlösung aus dem
Pensionat.
An
einem dieser letzten Tage – sie hatte sich eine Viertelstunde zuvor aus
dem Eßzimmer zurückgezogen und gedachte sich eben auf einem mit einem
großblumigen Wollstoff überzogenen Seegrassofa auszuruhen – wurde leise
an ihre Tür geklopft.
»Herein. «
Das
eine Hausmädchen, eine kränklich aussehende Person von Mitte Dreißig,
die durch beständigen Aufenthalt auf dem Korridor des Pensionats den
hier lagernden Dunstkreis überallhin in ihren Falten mitschleppte, trat
ein und sagte: Die gnädige Frau möchte entschuldigen, aber es wolle sie
jemand sprechen.
»Wer?«
»Eine
Frau.«
»Und
hat sie ihren Namen genannt?«
Ja,
Roswitha.«
Und
siehe da, kaum daß Effi diesen Namen gehört hatte, so schüttelte sie den
Halbschlaf von sich und sprang auf und lief auf den Korridor hinaus, um
Roswitha bei beiden Händen zu fassen und in ihr Zimmer zu ziehen.
»Roswitha. Du. Ist das eine Freude. Was bringst du? Natürlich was Gutes.
Ein so gutes altes Gesicht kann nur was Gutes bringen. Ach, wie
glücklich ich bin, ich könnte dir einen Kuß geben; ich hätte nicht
gedacht, daß ich noch solche Freude haben könnte. Mein gutes altes Herz,
wie geht es dir denn? Weißt du noch, wie's damals war, als der Chinese
spukte? Das waren glückliche Zeiten. Ich habe damals gedacht, es wären
unglückliche, weil ich das Harte des Lebens noch nicht kannte. Seitdem
habe ich es kennengelernt. Ach, Spuk ist lange nicht das Schlimmste!
Komm, meine gute Roswitha, komm, setz dich hier zu mir und erzähle mir
... Ach, ich habe solche Sehnsucht. Was macht Annie?«
Roswitha konnte kaum reden und sah sich in dem sonderbaren Zimmer um,
dessen grau und verstaubt aussehende Wände in schmale Goldleisten gefaßt
waren. Endlich aber fand sie sich und sagte, daß der gnädige Herr nun
wieder aus Glatz zurück sei; der alte Kaiser habe gesagt, sechs Wochen
in solchem Falle sei gerade genug, und auf den Tag, wo der gnädige Herr
wieder da sein würde, darauf habe sie bloß gewartet, wegen Annie, die
doch eine Aufsicht haben müsse. Denn Johanna sei wohl eine sehr propre
Person, aber sie sei doch noch zu hübsch und beschäftige sich noch zu
viel mit sich selbst und denke vielleicht Gott weiß was alles. Aber nun,
wo der gnädige Herr wieder aufpassen und in allem nach dem Rechten sehen
könne, da habe sie sich's doch antun wollen und mal sehen, wie's der
gnädigen Frau gehe ...
»Das
ist recht, Roswitha ...«
Und
habe mal sehen wollen, ob der gnädigen Frau was fehle und ob sie sie
vielleicht brauche, dann wolle sie gleich hierbleiben und beispringen
und alles machen und dafür sorgen, daß es der gnädigen Frau wieder
gutgehe.
Effi
hatte sich in die Sofaecke zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Aber
mit eins richtete sie sich auf und sagte: »Ja, Roswitha, was du da
sagst, das ist ein Gedanke; das ist was. Denn du mußt wissen, ich bleibe
hier nicht in dieser Pension, ich habe da weiterhin eine Wohnung
gemietet und auch Einrichtung besorgt, und in drei Tagen will ich da
einziehen. Und wenn ich da mit dir ankäme und zu dir sagen könnte:
'Nein, Roswitha, da nicht, der Schrank muß dahin und der Spiegel da',
ja, das wäre was, das sollte mir schon gefallen. Und wenn wir dann müde
von all der Plackerei wären, dann sagte ich: 'Nun, Roswitha, gehe da
hinüber und hole uns eine Karaffe Spatenbräu, denn wenn man gearbeitet
hat, dann will man doch auch trinken, und wenn du kannst, so bring uns
auch etwas Gutes aus dem Habsburger Hof mit, du kannst ja das Geschirr
nachher wieder herüberbringen' – ja, Roswitha, wenn ich mir das denke,
da wird mir ordentlich leichter ums Herz. Aber ich muß dich doch fragen,
hast du dir auch alles überlegt? Von Annie will ich nicht sprechen, an
der du doch hängst, sie ist ja fast wie dein eigen Kind – aber trotzdem,
für Annie wird schon gesorgt werden, und die Johanna hängt ja auch an
ihr. Also davon nichts. Aber bedenke, wie sich alles verändert hat, wenn
du wieder zu mir willst. Ich bin nicht mehr wie damals; ich habe jetzt
eine ganz kleine Wohnung genommen, und der Portier wird sich wohl nicht
sehr um dich und um mich bemühen. Und wir werden eine sehr kleine
Wirtschaft haben, immer das, was wir sonst unser Donnerstagessen
nannten, weil da reingemacht wurde. Weißt du noch? Und weißt du noch,
wie der gute Gieshübler mal dazukam und sich zu uns setzen mußte, und
wie er dann sagte: So was Delikates habe er noch nie gegessen. Du wirst
dich noch erinnern, er war immer so schrecklich artig, denn eigentlich
war er doch der einzige Mensch in der Stadt, der von Essen was verstand.
Die andern fanden alles schön.«
Roswitha freute sich über jedes Wort und sah schon alles in bestem
Gange, bis Effi wieder sagte: »Hast du dir das alles überlegt? Denn du
bist doch – ich muß das sagen, wiewohl es meine eigne Wirtschaft war –,
du bist doch nun durch viele Jahre hin verwöhnt, und es kam nie darauf
an, wir hatten es nicht nötig, sparsam zu sein; aber jetzt muß ich
sparsam sein, denn ich bin arm und habe nur, was man mir gibt, du weißt,
von Hohen-Cremmen her. Meine Eltern sind sehr gut gegen mich, soweit
sie's können, aber sie sind nicht reich. Und nun sage, was meinst du?«
»Daß
ich nächsten Sonnabend mit meinem Koffer anziehe, nicht am Abend,
sondern gleich am Morgen, und daß ich da bin, wenn das Einrichten
losgeht. Denn ich kann doch ganz anders zufassen wie die gnädige Frau.«
»Sage
das nicht, Roswitha. Ich kann es auch. Wenn man muß, kann man alles.«
»Und
dann, gnädigste Frau, Sie brauchen sich wegen meiner nicht zu fürchten,
als ob ich mal denken könnte: 'für Roswitha ist das nicht gut genug'.
Für Roswitha ist alles gut, was sie mit der gnädigen Frau teilen muß,
und am liebsten, wenn es was Trauriges ist. Ja, darauf freue ich mich
schon ordentlich. Dann sollen Sie mal sehen, das verstehe ich. Und wenn
ich es nicht verstünde, dann wollte ich es schon lernen. Denn, gnädige
Frau, das hab' ich nicht vergessen, als ich da auf dem Kirchhof saß,
mutterwindallein, und bei mir dachte, nun wäre es doch wohl das beste,
ich läge da gleich mit in der Reihe. Wer kam da? Wer hat mich da bei
Leben erhalten? Ach, ich habe so viel durchzumachen gehabt. Als mein
Vater damals mit der glühenden Stange auf mich loskam ...«
»Ich
weiß schon, Roswitha ...«
»Ja,
das war schlimm genug. Aber als ich da auf dem Kirchhof saß, so ganz arm
und verlassen, das war doch noch schlimmer. Und da kam die gnädige Frau.
Und ich will nicht selig werden, wenn ich das vergesse.«
Und
dabei stand sie auf und ging aufs Fenster zu. »Sehen Sie, gnädige Frau,
den müssen Sie doch auch noch sehen.«
Und nun
trat auch Effi heran.
Drüben,
auf der anderen Seite der Straße, saß Rollo und sah nach den Fenstern
der Pension hinauf.
Wenige
Tage danach bezog Effi, von Roswitha unterstützt, ihre Wohnung in der
Königgrätzer Straße, darin es ihr von Anfang an gefiel. Umgang fehlte
freilich, aber sie hatte während ihrer Pensionstage von dem Verkehr mit
Menschen so wenig Erfreuliches gehabt, daß ihr das Alleinsein nicht
schwerfiel, wenigstens anfänglich nicht. Mit Roswitha ließ sich
allerdings kein ästhetisches Gespräch führen, auch nicht mal sprechen
über das, was in der Zeitung stand; aber wenn es einfach menschliche
Dinge betraf und Effi mit einem »ach, Roswitha, mich ängstigt es wieder
...« ihren Satz begann, dann wußte die treue Seele jedesmal gut zu
antworten und hatte immer Trost und meist auch Rat.
Bis
Weihnachten ging es vorzüglich; aber der Heiligabend verlief schon recht
traurig, und als das neue Jahr herankam, begann Effi ganz schwermütig zu
werden. Es war nicht kalt, nur grau und regnerisch, und wenn die Tage
kurz waren, so waren die Abende desto länger. Was tun? Sie las, sie
stickte, sie legte Patience, sie spielte Chopin, aber diese Notturnos
waren auch nicht angetan, viel Licht in ihr Leben zu tragen, und wenn
Roswitha mit dem Teebrett kam und außer dem Teezeug auch noch zwei
Tellerchen mit einem Ei und einem in kleine Scheiben geschnittenen
Wiener Schnitzel auf den Tisch setzte, sagte Effi, während sie das Piano
schloß: »Rücke heran, Roswitha. Leiste mir Gesellschaft.«
Roswitha kam denn auch. »Ich weiß schon, die gnädige Frau haben wieder
zuviel gespielt; dann sehen Sie immer so aus und haben rote Flecke. Der
Geheimrat hat es doch verboten.«
»Ach,
Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du hast es auch
leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich denn machen? Ich kann
doch nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der Christuskirche
hin übersehen. Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn die Fenster
beleuchtet sind, sehe ich ja immer hinüber; aber es hilft mir auch
nichts, mir wird dann immer noch schwerer ums Herz.«
»Ja,
gnädige Frau, dann sollten Sie mal hineingehen. Einmal waren Sie ja
schon drüben.«
»O
schon öfters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt. Er predigt ganz gut
und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre froh, wenn ich das Hundertste
davon wüßte. Aber es ist doch alles bloß, wie wenn ich ein Buch lese;
und wenn er dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen
Locken schüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus.«
»Heraus?«
Effi
lachte. »Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und es wird wohl so
sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht an mir. Er spricht
immer soviel vom Alten Testament. Und wenn es auch ganz gut ist, es
erbaut mich nicht. Überhaupt all das Zuhören; es ist nicht das Rechte.
Sieh, ich müßte so viel zu tun haben, daß ich nicht ein noch aus wüßte.
Das wäre was für mich. Da gibt es so Vereine, wo junge Mädchen die
Wirtschaft lernen, oder Nähschulen oder Kindergärtnerinnen. Hast du nie
davon gehört?«
»Ja,
ich habe mal davon gehört. Anniechen sollte mal in einen Kindergarten.«
»Nun,
siehst du, du weißt es besser als ich. Und in solchen Verein, wo man
sich nützlich machen kann, da möchte ich eintreten. Aber daran ist gar
nicht zu denken; die Damen nehmen mich nicht an und können es auch
nicht. Und das ist das schrecklichste, daß einem die Welt so zu ist und
daß es sich einem sogar verbietet, bei Gutem mit dabeizusein. Ich kann
nicht mal armen Kindern eine Nachhilfestunde geben ...«
»Das
wäre auch nichts für Sie, gnädige Frau; die Kinder haben immer so
fettige Stiefel an, und wenn es nasses Wetter ist'- das ist dann solch
Dunst und Schmook, das halten die gnädige Frau gar nicht aus.«
Effi
lächelte. »Du wirst wohl recht haben, Roswitha; aber es ist schlimm, daß
du recht hast, und ich sehe daran, daß ich noch zu viel von dem alten
Menschen in mir habe und daß es mir noch zu gut geht.«
Davon
wollte aber Roswitha nichts wissen. »Wer so gut ist wie gnädige Frau,
dem kann es gar nicht zu gut gehen. Und Sie müssen nur nicht immer so
was Trauriges spielen, und mitunter denke ich mir, es wird alles noch
wieder gut, und es wird sich schon was finden.«
Und es
fand sich auch was. Effi, trotz der Kantorstochter aus Polzin, deren
Künstlerdünkel ihr immer noch als etwas Schreckliches vorschwebte,
wollte Malerin werden, und wiewohl sie selber darüber lachte, weil sie
sich bewußt war, über eine unterste Stufe des Dilettantismus nie
hinauskommen zu können, so griff sie doch mit Passion danach, weil sie
nun eine Beschäftigung hatte, noch dazu eine, die, weil still und
geräuschlos, ganz nach ihrem Herzen war. Sie meldete sich denn auch bei
einem ganz alten Malerprofessor, der in der märkischen Aristokratie sehr
bewandert und zugleich so fromm war, daß ihm Effi von Anfang an ans Herz
gewachsen erschien. Hier, so gingen wohl seine Gedanken, war eine Seele
zu retten, und so kam er ihr, als ob sie seine Tochter gewesen wäre, mit
einer ganz besonderen Liebenswürdigkeit entgegen. Effi war sehr
glücklich darüber, und der Tag ihrer ersten Malstunde bezeichnete für
sie einen Wendepunkt zum Guten Ihr armes Leben war nun nicht so arm
mehr, und Roswitha triumphierte, daß sie recht gehabt und sich nun doch
etwas gefunden habe.
Das
ging so Jahr und Tag und darüber hinaus. Aber daß sie nun wieder eine
Berührung mit den Menschen hatte, wie sie's beglückte, so ließ es auch
wieder den Wunsch in ihr entstehen, daß diese Berührungen sich erneuern
und mehren möchten. Sehnsucht nach Hohen-Cremmen erfaßte sie mitunter
mit einer wahren Leidenschaft, und noch leidenschaftlicher sehnte sie
sich danach, Annie wiederzusehen. Es war doch ihr Kind, und wenn sie dem
nachhing und sich gleichzeitig der Trippelli erinnerte, die mal gesagt
hatte, die Welt sei so klein, und in Mittelafrika könne man sicher sein,
plötzlich einem alten Bekannten zu begegnen, so war sie mit Recht
verwundert, Annie noch nie getroffen zu haben. Aber auch das sollte sich
eines Tages ändern. Sie kam aus der Malstunde, dicht am Zoologischen
Garten, und stieg, nahe dem Halteplatz, in einen die lange
Kurfürstenstraße passierenden Pferdebahnwagen ein. Es war sehr heiß, und
die herabgelassenen Vorhänge, die bei dem starken Luftzuge, der ging,
hin und her bauschten, taten ihr wohl. Sie lehnte sich in die dem
Vorderperron zugekehrte Ecke und musterte eben mehrere in eine
Glasscheibe eingebrannte Sofas, blau mit Quasten und Puscheln daran, als
sie – der Wagen war gerade in einem langsamen Fahren – drei Schulkinder
aufspringen sah, die Mappen auf dem Rücken, mit kleinen spitzen Hüten,
zwei blond und ausgelassen, die dritte dunkel und ernst. Es war Annie.
Effi fuhr heftig zusammen, und eine Begegnung mit dem Kinde zu haben,
wonach sie sich doch so lange gesehnt, erfüllte sie jetzt mit einer
wahren Todesangst. Was tun? Rasch entschlossen öffnete sie die Tür zu
dem Vorderperron, auf dem niemand stand als der Kutscher, und bat
diesen, sie bei der nächsten Haltestelle vorn absteigen zu lassen. »Is
verboten, Fräulein«, sagte der Kutscher; sie gab ihm aber ein Geldstück
und sah ihn so bittend an, daß der gutmutige Mensch anderen Sinnes wurde
und vor sich hin sagte: »Sind soll es eigentlich nich; aber es wird ja
woll mal gehen.« Und als der Wagen hielt, nahm er das Gitter aus, und
Effi sprang ab.
Noch in
großer Erregung kam Effi nach Hause.
»Denke
dir, Roswitha, ich habe Annie gesehen.« Und nun erzählte sie von der
Begegnung in dem Pferdebahnwagen. Roswitha war unzufrieden, daß Mutter
und Tochter keine Wiedersehensszene gefeiert hatten, und ließ sich nur
ungern überzeugen, daß das in Gegenwart so vieler Menschen nicht wohl
angegangen sei. Dann mußte Effi erzählen, wie Annie ausgesehen habe, und
als sie das mit mütterlichem Stolz getan, sagte Roswitha: »Ja, sie ist
so halb und halb. Das Hübsche und, wenn ich es sagen darf, das
Sonderbare, das hat sie von der Mama; aber das Ernste, das ist ganz der
Papa. Und wenn ich mir so alles überlege, ist die doch wohl mehr wie der
gnädige Herr.«
»Gott
sei Dank!« sagte Effi.
»Na,
gnäd'ge Frau, das ist nu doch auch noch die Frage. Und da wird ja wohl
mancher sein, der mehr für die Mama ist.«
Glaubst
du, Roswitha? Ich glaube es nicht.«
»Na,
na, ich lasse mir nichts vormachen, und ich glaube, die gnädige Frau
weiß auch ganz gut, wie's eigentlich ist und was die Männer am liebsten
haben.«
»Ach,
sprich nicht davon, Roswitha.«
Damit
brach das Gespräch ab und wurde auch nicht wieder aufgenommen. Aber
Effi, wenn sie's auch vermied, grade über Annie mit Roswitha zu
sprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch nicht verwinden und
litt unter der Vorstellung, vor ihrem eigenen Kind geflohen zu sein. Es
quälte sie bis zur Beschämung, und das Verlangen nach einer Begegnung
mit Annie steigerte sich bis zum Krankhaften. An Innstetten schreiben
und ihn darum bitten, das war nicht möglich. Ihrer Schuld war sie sich
wohl bewußt, sie nährte das Gefühl davon mit einer halb
leidenschaftlichen Geflissentlichkeit; aber inmitten ihres
Schuldbewußtseins fühlte sie sich andererseits auch von einer gewissen
Auflehnung gegen Innstetten erfüllt. Sie sagte sich, er hatte recht und
noch einmal und noch einmal, und zuletzt hatte er doch unrecht. Alles
Geschehene lag so weit zurück, ein neues Leben hatte begonnen; er hätte
es können verbluten lassen, statt dessen verblutete der arme Crampas.
Nein,
an Innstetten schreiben, das ging nicht; aber Annie wollte sie sehen und
sprechen und an ihr Herz drücken, und nachdem sie's tagelang überlegt
hatte, stand ihr fest, wie's am besten zu machen sei.
Gleich
am andern Vormittag kleidete sie sich sorgfältig in ein dezentes Schwarz
und ging auf die Linden zu, sich hier bei der Ministerin melden zu
lassen. Sie schickte ihre Karte herein, auf der nur stand: Effi von
Innstetten geb. von Briest. Alles andere war fortgelassen, auch die
Baronin. »Exzellenz lassen bitten«, und Effi folgte dem Diener bis in
ein Vorzimmer, wo sie sich niederließ und trotz der Erregung, in der sie
sich befand, den Bilderschmuck an den Wänden musterte. Da war zunächst
Guido Renis Aurora, gegenüber aber hingen englische Kupferstiche, Stiche
nach Benjamin West, in der bekannten Aquatinta-Manier von viel Licht und
Schatten. Eines der Bilder war König Lear im Unwetter auf der Heide.
Effi
hatte ihre Musterung kaum beendet, als die Tür des angrenzenden Zimmers
sich öffnete und eine große, schlanke Dame von einem sofort für sie
einnehmenden Ausdruck auf die Bittstellerin zutrat und ihr die Hand
reichte. »Meine liebe, gnädigste Frau«, sagte sie, »welche Freude für
mich, Sie wiederzusehen ...«
Und
während sie das sagte, schritt sie auf das Sofa zu und zog Effi, während
sie selber Platz nahm, zu sich nieder.
Effi
war bewegt durch die sich in allem aussprechende Herzensgüte. Keine Spur
von Überheblichkeit oder Vorwurf, nur menschlich schöne Teilnahme.
»Womit kann ich Ihnen dienen?« nahm die Ministerin noch einmal das Wort.
Um
Effis Mund zuckte es. Endlich sagte sie. »Was mich herführt, ist eine
Bitte, deren Erfüllung Exzellenz vielleicht möglich machen. Ich habe
eine zehnjährige Tochter, die ich seit drei Jahren nicht gesehen habe
und gern wiedersehen möchte.«
Die
Ministerin nahm Effis Hand und sah sie freundlich an. »Wenn ich sage, in
drei Jahren nicht gesehen, so ist das nicht ganz richtig. Vor drei Tagen
habe ich sie wiedergesehen.« Und nun schilderte Effi mit großer
Lebendigkeit die Begegnung, die sie mit Annie gehabt hatte. »Vor meinem
eigenen Kinde auf der Flucht. Ich weiß wohl, man liegt, wie man sich
bettet, und ich will nichts ändern in meinem Leben. Wie es ist, so ist
es recht; ich habe es nicht anders gewollt. Aber das mit dem Kinde, das
ist doch zu hart, und so habe ich denn den Wunsch, es dann und wann
sehen zu dürfen, nicht heimlich und verstohlen, sondern mit Wissen und
Zustimmung aller Beteiligten.«
»Unter
Wissen und Zustimmung aller Beteiligten«, wiederholte die Ministerin
Effis Worte. »Das heißt also unter Zustimmung Ihres Herrn Gemahls. Ich
sehe, daß seine Erziehung dahin geht, das Kind von der Mutter
fernzuhalten, ein Verfahren, über das ich mir kein Urteil erlaube.
Vielleicht, daß er recht hat; verzeihen Sie mir diese Bemerkung, gnädige
Frau.«
Effi
nickte.
»Sie
finden sich selbst in der Haltung Ihres Herrn Gemahls zurecht und
verlangen nur, daß einem natürlichen Gefühl, wohl dem schönsten unserer
Gefühle (wenigstens wir Frauen werden uns darin finden), sein Recht
werde. Treff ich es darin?«
»In
allem.«
»Und so
soll ich denn die Erlaubnis zu gelegentlichen Begegnungen erwirken, in
Ihrem Hause, wo Sie versuchen können, sich das Herz Ihres Kindes
zurückzuerobern.«
Effi
drückte noch einmal ihre Zustimmung aus, während die Ministerin
fortfuhr: »Ich werde also tun, meine gnädigste Frau, was Ich tun kann.
Aber wir werden es nicht eben leicht haben. Ihr Herr Gemahl, verzeihen
Sie, daß ich ihn nach wie vor so nenne, ist ein Mann der nicht nach
Stimmungen und Laune, sondern nach Grundsätzen handelt und diese
fallenzulassen oder auch nur momentan aufzugeben, wird ihn hart
ankommen. Läg' es nicht so, so wäre seine Handlungs- und Erziehungsweise
längst eine andere gewesen. Das, was hart für Ihr Herz ist, hält er für
richtig.«
»So
meinen Exzellenz vielleicht, es wäre besser, meine Bitte
zurückzunehmen?«
»Doch
nicht. Ich wollte nur das Tun Ihres Herrn Gemahls erklären, um nicht zu
sagen rechtfertigen, und wollte zugleich die Schwierigkeiten andeuten,
auf die wir aller Wahrscheinlichkeit nach stoßen werden. Aber ich denke,
wir zwingen es trotzdem. Denn wir Frauen, wenn wir's klug einleiten und
den Bogen nicht überspannen, wissen mancherlei durchzusetzen. Zudem
gehört Ihr Herr Gemahl zu meinen besonderen Verehrern, und er wird mir
eine Bitte, die ich an ihn richte, nicht wohl abschlagen. Wir haben
morgen einen kleinen Zirkel, auf dem ich ihn sehe, und übermorgen früh
haben Sie ein paar Zeilen von mir, die Ihnen sagen werden, ob ich's
klug, das heißt glücklich eingeleitet oder nicht. Ich denke, wir siegen
in der Sache, und Sie werden Ihr Kind wiedersehen und sich seiner
freuen. Es soll ein sehr schönes Mädchen sein. Nicht zu verwundern.«
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024