Erstes Kapitel
Das Hänflingnest
»Weißt
du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten, und ganz niedrig,
und zwei Junge drin.«
»Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?« »Ich sag
es nicht. Du musst es raten.«
Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun, der zwei Nachbargärten
voneinander trennte, gesprochen worden. Die Sprechenden, ein Mädchen und
ein Knabe, ließen sich nur halb erkennen, denn so hoch sie standen, so
waren die Himbeerbüsche hüben und drüben doch noch höher und wuchsen
ihnen bis über die Brust.
»Bitte, Valtin«, fuhr das Mädchen fort, »sag es mir.«
»Rate.«
»Ich kann nicht. Und ich will auch nicht.«
»Du könntest schon, wenn du wolltest. Sieh nur«, und dabei wies er
mit dem Zeigefinger auf einen kleinen Vogel, der eben über ihre Köpfe
hinflog und
sich auf eine hohe Hanfstaude niedersetzte.
»Sieh«, wiederholte Valtin.
»Ein Hänfling?«
»Geraten.«
Der Vogel wiegte sich eine Weile, zwitscherte und flog dann wieder in
den Garten zurück, in dem er sein Nest hatte. Die beiden Kinder folgten
ihm neugierig mit ihren Augen.
»Denke dir«, sagte Grete, »ich habe noch kein Vogelnest gesehen: bloß
die zwei Schwalbennester auf unsrem Flur. Und ein Schwalbennest ist
eigentlich gar kein Nest.«
»Höre, Grete, ich glaube, da hast du recht.«
»Ein richtiges Nest, ich meine von einem Vogel, nicht ein Krähen-
oder Storchennest, das muss so weich sein wie der Flachs von Reginens
Wocken.«
»Und so ist es auch. Komm nur. Ich zeig es dir.« Und dabei sprang er
vom Zaun in den Garten seines elterlichen Hauses zurück.
»Ich darf nicht«, sagte Grete.
»Du darfst nicht?«
»Nein, ich soll nicht. Trud ist dawider.«
»Ach Trud, Trud. Trud ist deine Schwieger, und eine Schwieger ist
nicht mehr als eine Schwester. Wenn ich eine Schwester hätte, die könnte
den ganzen Tag verbieten, ich tät es doch. Schwester ist Schwester.
Spring. Ich fange dich.«
»Hole die Leiter.«
»Nein, spring.«
Und sie sprang, und er fing sie geschickt in seinen Armen auf.
Jetzt erst sah man ihre Gestalt. Es war ein halbwachsenes Mädchen,
sehr zart gebaut, und ihre feinen Linien, noch mehr das Oval und die
Farbe ihres Gesichts, deuteten auf eine Fremde.
»Wie du springen kannst«, sagte Valtin, der seinerseits einen echt
märkischen Breitkopf und vorspringende Backenknochen hatte. »Du fliegst
ja nur so. Und nun komm, nun will ich dir das Nest zeigen.«
Er nahm sie bei der Hand, und zwischen Gartenbeeten hin, auf denen
Dill und Pastinak in hohen Dolden standen, führte er sie bis in den
Mittelgang, der weiter abwärts vor einer Geißblattlaube endigte.
»Ist es hier?«
»Nein, in dem Holunder.«
Und er bog ein paar Zweige zurück und wies ihr das Nest.
Grete sah neugierig hinein und wollte sich damit zu schaffen machen,
aber jetzt umkreiste sie der Vogel, und Valtin sagte: »Lass; er ängstigt
sich. Es ist wegen der Jungen; unsere Mütter sind nicht so bang um uns.«
»Ich habe keine Mutter«, erwiderte Grete scharf.
»Ich weiß«, sagte Valtin, »aber ich vergess es immer wieder. Sieht
sie doch aus, als ob sie deine Mutter wäre, versteht sich, deine
Stiefmutter. Höre, Grete, sieh dich vor. Hübsch ist sie, aber hübsch und
bös. Und du kennst doch das Märchen vom Machandelboom?«
»Gewiss kenn ich das. Das ist ja mein Lieblingsmärchen. Und Regine
muss es mir immer wieder erzählen. Aber nun will ich zurück in unsern
Garten.«
»Nein, du musst noch bleiben. Ich freue mich immer, wenn ich dich
habe. Du bist so hübsch. Und ich bin dir so gut.«
»Ach, Narretei. Was soll ich noch bei dir?«
»Ich will dich noch ansehen. Mir ist immer so wohl und so weh, wenn
ich dich ansehe. Und weißt du, Grete, wenn du groß bist, da musst du
meine Braut werden.«
»Deine Braut?«
»Ja, meine Braut. Und dann heirat ich dich.«
»Und was machst du dann mit mir?«
»Dann stell ich dich immer auf diesen Himbeerzaun und sage ›spring‹;
und dann springst du, und ich fange dich auf, und...«
»Und?«
»Und dann küss ich dich.«
Sie sah ihn schelmisch an und sagte: »Wenn das wer hörte! Emrentz
oder Trud...«
»Ach Trud und immer Trud. Ich kann sie nicht leiden. Und nun komm und
setz dich.«
Er hatte diese Worte vor dem Laubeneingang gesprochen, an dessen
rechter Seite eine Art Gartenbank war, ein kleiner niedriger Sitzplatz,
den er sich aus vier Pflöcken und einem darübergelegten Brett selbst
zurechtgezimmert hatte. Er liebte den Platz, weil er sein eigen war und
nach dem Nachbargarten hinübersah. »Setz dich«, wiederholte er, und sie
tat's, und er rückte neben sie. So verging eine Weile. Dann zog er einen
Malvenstock aus der Erde und malte Buchstaben in den Sand.
»Lies«, sagte er. »Kannst du's?«
»Nein.«
»Dann muss ich dir sagen, Grete, dass du deinen eignen Namen nicht
lesen kannst. Es sind fünf Buchstaben, und es heißt Grete.«
»Ach, griechisch«, lachte diese. »Nun merk ich erst; ich soll dich
bewundern. Hatt es ganz vergessen. Du gehörst ja zu den sieben, die seit
Ostern zum alten Gigas gehen. Ist er denn so streng?«
»Ja und nein.«
»Er sieht einen so durch und durch. Und seine roten Augen, die keine
Wimpern haben...«
»Lass nur«, beruhigte Valtin. »Gigas ist gut. Es muss nur kein
Kalvinscher sein oder kein Katholscher. Da wird er gleich bös und Feuer
und Flamme.«
»Ja, sieh, das ist es ja eben...«
Valtin malte mit dem Stocke weiter. Endlich sagte er: »Ist es denn
wahr, dass deine Mutter eine Katholsche war?«
»Gewiss war sie's.«
»Und wie kam sie denn ins Land und in euer Haus?«
»Das war, als mein Vater in Brügge war, da sind viele Spansche.
Kennst du Brügge?«
»Freilich kenn ich's. Das ist ja die Stadt, wo sie die beiden Grafen
enthauptet haben.«
»Nein, nein. Das verwechselst du wieder. Du verwechselst auch immer.
Weißt du noch... Ananias und Äneas?! Aber das war damals, als du noch
nicht bei Gigas warst... Ach, bei Gigas! Und nun soll ich auch hin, denn
ich werde ja vierzehn, und Trud ist bei ihm gewesen, wegen Unterricht
und Firmung, und hat es alles besprochen... Aber sieh, ihr habt ja noch
Kirschen an eurem Baum. Und wie dunkel sie sind! Nur zwei. Die möcht ich
haben.«
»Es ist zu hoch oben; da können bloß die Vögel hin. Aber lass sehen,
Gret, ich will sie dir doch holen... wenn...«
»Wenn?«
»Wenn du mir einen Kuss geben willst. Eigentlich müsstest du's. Du
bist mir noch einen schuldig.«
»Schuldig?«
»Ja. Von Silvester.«
»Ach, das ist lange her. Da war ich noch ein Kind.«
»Lang oder kurz. Schuld ist Schuld.«
»Und bedenke, dass ich morgen zu Gigas komme...«
»Das ist erst morgen.«
Und eh sie weiter antworten konnte, schwang er sich in den Baum und
kletterte rasch und geschickt bis in die Spitze, die sofort heftig zu
schwanken begann.
»Um Gott, du fällst«, rief sie hinauf; er aber riss den Zweig ab, an
dem die zwei Kirschen hingen, und stand im Nu wieder auf dem untersten
Hauptast, an dem er sich jetzt, mit beiden Knien einhakend, waagerecht
entlangstreckte.
»Nun pflücke«, rief er und hielt ihr den Zweig entgegen. »Nein, nein,
nicht so. Mit dem Mund...«
Und sie hob sich auf die Fußspitzen, um nach seinem Willen zu tun.
Aber im selben Augenblicke ließ er die Kirschen fallen, bückte sich mit
dem Kopf und gab ihr einen herzhaften Kuss.
Das war zuviel. Erschrocken schlug sie nach ihm und lief auf die
Gartenleiter zu, die dicht an der Stelle stand, wo sie das Gespräch
zwischen den Himbeerbüschen gehabt hatten. Erst als sie die Sprossen
hinauf war, hatte sich ihr Zorn wieder gelegt, und sie wandte sich und
nickte dem noch immer verdutzt Dastehenden freundlich zu. Dann bog sie
die Zweige voneinander und sprang leicht und gefällig in den Garten
ihres eigenen Hauses zurück.
Zweites Kapitel
Trud und Emrentz
In den Gärten war alles still, und doch waren sie belauscht worden.
Eine schöne, junge Frau, Frau Trud Minde, modisch gekleidet, aber mit
strengen Zügen, war, während die beiden noch plauderten, über den Hof
gekommen und hatte sich hinter einem Weinspalier versteckt, das den
geräumigen, mit Gebäuden umstandenen Mindeschen Hof von dem etwas
niedriger gelegenen Garten trennte. Sechs Stufen führten hinunter.
Nichts war ihr hier entgangen, und die widerstreitendsten Gefühle, nur
keine freundlichen, hatten sich in ihrer Brust gekreuzt. Grete war noch
ein Kind, so sagte sie sich, und alles, was sie von ihrem Versteck aus
gesehen hatte, war nichts als ein kindisches Spiel. Es war nichts und es
bedeutete nichts. Und doch, es war Liebe, die Liebe, nach der sie sich
selber sehnte und an der ihr Leben arm war bis diesen Tag. Sie war nun
eines reichen Mannes ehelich Weib; aber nie, soweit sie zurückdenken
mochte, hatte sie lachend und plaudernd auf einer Gartenbank gesessen,
nie war ein frisches, junges Blut um ihretwillen in einen Baumwipfel
gestiegen und hatte sie dann kindlich unschuldig umarmt und geküsst. Das
Blut stieg ihr zu Kopf, und Neid und Missgunst zehrten an ihrem Herzen.
Sie wartete, bis Grete wieder diesseits war, und ging dann raschen
Schrittes über den Hof auf Flur und Straße zu, um nebenan ihre Muhme
Zernitz, des alten Ratsherrn Zernitz zweite Frau und Valtins
Stiefmutter, aufzusuchen. In der Tür des Nachbarhauses traf sie Valtin,
der beiseite trat, um ihr Platz zu machen. Denn sie war in Staat, in
hoher Stehkrause und goldner Kette.
»Guten Tag, Valtin. Ist Emrentz zu Haus? Ich meine deine Mutter.«
»Ich denke, ja. Oben.«
»Dann geh hinauf und sag ihr, dass ich da bin.«
»Geh nur selbst. Sie hat es nicht gern, wenn ich in ihre Stube
komme.«
Es klang etwas spöttisch. Aber Trud, erregt wie sie war, hatte dessen
nicht acht und ging, an Valtin vorüber, in den ersten Stock hinauf,
dessen große Hinterstube der gewöhnliche Aufenthalt der Frau Zernitz
war. Das nach vorn zu gelegene Zimmer von gleicher Größe, das keine
Sonne, dafür aber viele hohe Lehnstühle und grünverhangene
Familienbilder hatte, war ihr zu trist und öde. Zudem war es das Wohn-
und Lieblingszimmer der ersten Frau Zernitz gewesen, einer steifen und
langweiligen Frau, von der sie lachend als von ihrer »Vorgängerin im
Amt« zu sprechen pflegte.
Trud, ohne zu klopfen, trat ein und war überrascht von dem
freundlichen Bilde, das sich ihr darbot. Alle drei Flügel des breiten
Mittelfensters standen auf, die Sonne schien, und an dem offenen Fenster
vorbei schossen die Schwalben. Über die Kissen des Himmelbetts, dessen
hellblaue Vorhänge zurückgeschlagen waren, waren Spitzentücher
gebreitet, und vom Hof herauf hörte man das Gackern der Hühner und das
helle Krähen des Hahns.
»Ei, Trud«, erhob sich Emrentz und schritt von ihrem Fensterplatz auf
die Muhme zu, um diese zu begrüßen. »Zu so früher Stunde. Und schon in
Staat! Lass doch sehen. Ei, das ist ja das Kleid, das du den Tag nach
deiner Hochzeit trugst. Wie lang ist es? Ach, als ich dir damals
gegenübersaß, und Zernitz neben mir, und die grauen Augen der guten
alten Frau Zernitz immer größer und immer böser wurden, weil er mir
seine Geschichten erzählte, die kein Ende hatten, und immer so herzlich
lachte, dass ich zuletzt auch lachen musste, aber über ihn, da dacht ich
nicht, dass ich zwei Jahre später an diesem Fenster sitzen und auch eine
Frau Zernitz sein würde.«
»Aber eine andre.«
»Gott sei Dank, eine andre... Komm, setz dich... Und ich glaube,
Zernitz denkt es auch. Denn Männer in zweiter Ehe, musst du wissen, das
sind die besten. Das erst ist, dass sie die erste Frau vergessen, und
das zweit ist, dass sie alles tun, was wir wollen. Und das ist die
Hauptsache. Ach Trud, es ist zum Lachen; sie schämen sich ordentlich und
entschuldigen sich vor uns, schon eine erste gehabt zu haben. Andre
mögen anders sein; aber für meinen alten Zernitz bürg ich, und wäre
nicht der Valtin...«
»Um den eben komm ich«, unterbrach Trud, die der Muhme nur mit halbem
Ohre gefolgt war, »um eben deinen Valtin. Höre, das hat sich ja mit der
Gret, als ob es Braut und Bräutigam wäre. Er muß aus dem Haus. Und ich
denke, du wirst ihn missen können.«
»Lass doch. Es sind ja Kinder.«
»Nein; es sind nicht Kinder mehr. Valtin ist sechzehn oder wird's,
und Gret ist über ihre Jahre und hat's von der Mutter.«
»Nicht doch. Ich war ebenso.«
»Das ist dein Sach, Emrentz.«
»Und dich verdrießt es«, lachte diese.
»Ja, mich verdrießt es; denn es gibt einen Anstoß im Haus und in der
Stadt. Und ich mag's und will's nicht. Du hast einen leichten Sinn,
Emrentz, und siehst es nicht, weil du zuviel in den Spiegel siehst.
Lache nur; ich weiß es wohl, er will es; alle Alten wollen's, und du
sollst dich putzen und seine Puppe sein. Aber ich, ich seh um mich, und
was ich eben gesehen hab... Emrentz, mir schlägt noch das Herz. Ich
komme von Gigas und suche Greten und will ihr sagen, dass sie sich
vorbereitet und ernst wird in ihrem Gemüt, da find ich sie... nun rate,
wo? Im Garten zwischen den Himbeerbüschen. Und wen mit ihr? Deinen
Valtin...«
»Und er gibt ihr einen Kuss. Ach Trud, ich hab's ja mitangesehn,
alles, hier von meinem Fenster, und musst an alte Zeiten denken, und an
den Sommer, wo ich auch dreizehn war und mit Hans Hensen Versteckens
spielte und eine geschlagene Glockenstunde hinter dem Rauchfang saß,
Hand in Hand und immer nur in Sorge, dass wir zu früh gefunden, zu früh
in unserm Glück gestört werden könnten. Lass doch, Trud, und gönn's
ihnen. 's ist nichts mit alter Leute Zärtlichkeiten, und ich wollt, ich
stünde wieder, wie heute die Grete stand. Es war so hübsch, und ich hatt
eine Freude dran. Nun bin ich dreißig, und er ist doppelt so alt. Hätt
ich noch vier Jahre gewartet, höre, Trud, ich glaube fast, ich hätte
besser zu dem Jungen als zu dem Alten gepasst. Sieh nicht so bös drein
und bedenk, es trifft's nicht jeder so gut wie du. Gleich zu gleich und
jung zu jung.«
»Jung zu jung!« sagte diese bitter. »Es geht ins dritte Jahr, und
unser Haus ist öd und einsam.«
»Alt oder jung, wir müssen uns eben schicken, Trud«; und dabei nahm
Emrentz ihrer Muhme Arm und schritt mit ihr in dem geräumigen Zimmer auf
und ab. »Mein Alter ist zu jung, und dein Junger ist zu alt; und so
haben wir's gleich, trotzdem uns der Schuh an ganz verschiedenen Stellen
drückt. Nimm's leicht, und wenn du das Wort nicht leiden kannst, so sei
wenigstens billig und gerecht. Wie liegt's denn? Höre, Trud, ich denke,
wir haben nicht viel eingesetzt und dürfen nicht viel fordern.
Hineingeheiratet haben wir uns. Und war's denn besser, als wir mit
fünfundzwanzig, oder war's noch ein Jahr mehr, auf dem Gardelegner
Marktplatz saßen und gähnten und strickten und von unsrem Fenster aus
den Bauerfrauen die Eier in der Kiepe zählten? Jetzt kaufen wir sie
wenigstens und leben einen guten Tag. Und das Sprichwort sagt, man kann
nicht alles haben. Was fehlt, fehlt. Aber dir zehrt's am Herzen, dass
dir nichts Kleines in der Wiege schreit, und du versuchst es nun mit
Gigas und mit Predigt und Litanei. Aber das hilft zu nichts und hat noch
keinem geholfen. Halte dich ans Leben; ich tu's und getröste mich mit
der Zukunft. Und wenn der alte Zernitz eine zweite Frau nahm, warum
sollt ich nicht einen zweiten Mann nehmen? Da hast du meine Weisheit,
und warum es mir gedeiht. Lache mehr und bete weniger.«
Es schien, dass Trud antworten wollte, aber in diesem Augenblick
hörte man deutlich von der Straße her das Schmettern einer Trompete und
dazwischen Paukenschläge. Es kam immer näher, und Emrentz sagte: »Komm,
es müssen die Puppenspieler sein. Ich sah sie schon gestern auf dem
Anger, als ich mit meinem Alten aus dem Lorenzwäldchen kam. Und danach
gingen beide junge Frauen in das Frau Zernitzsche Vorderzimmer mit den
hohen Lehnstühlen und den verhangenen Familienbildern und stellten sich
an eins der Fenster, das sie rasch öffneten.«
Und richtig, es waren die Puppenspieler, zwei Männer und eine Frau,
die, bunt und phantastisch aufgeputzt, ihren Umritt hielten. Hunderte
von Neugierigen drängten ihnen nach. Es war ersichtlich, dass sie nicht
hier, sondern erst weiter abwärts, an einem unmittelbar am Markte
gelegenen Eckhause zu halten gedachten, als aber der zur Rechten
Reitende, der lange, gelb und schwarz gestreifte Trikots und ein
schwarzes, enganliegendes Samt- und Atlascollet trug, der beiden jungen
Frauen gewahr wurde, hielt er sein Pferd plötzlich an und gab ein
Zeichen, dass der die Pauke rührende, hagre Hanswurst, dessen weißes
Hemd und spitze Filzmütze bereits der Jubel aller Kinder waren, einen
Augenblick schweigen solle. Zugleich nahm er sein Barett ab und grüßte
mit ritterlichem Anstand zu dem Fenster des Zernitzschen Hauses hinauf.
Und nun erst begann er: »Heute Abend, sieben Uhr, mit hoher
obrigkeitlicher Bewilligung, auf dem Rathause hiesiger kurfürstlicher
Stadt Tangermünde: Das Jüngste Gericht.«
Dies Wort wurde, während der Schwarzundgelbgestreifte die Trompete
hob, von einem ungeheuern Paukenschlage begleitet.
»Das Jüngste Gericht! Großes Spiel in drei Abteilungen, so von uns
gespielet worden vor Ihren christlichen Majestäten, dem römischen Kaiser
und König und dem Könige von Ungarn und Polen. Desgleichen vor allen
Kurfürsten und Fürsten deutscher Nation. Worüber wir Zeugnisse haben
allerdurchlauchtigster Satisfaktion. Das Jüngste Gericht! Großes Spiel
in drei Abteilungen, mit Christus und Maria, samt dem Lohn aller Guten
und der Verdammnis aller Bösen. Dazu beides, Engel und Teufel, und
großes Feuerwerk, aber ohne Knall und Schießen und sonstige
Fährlichkeit, um nicht ›denen schönen Frauen‹, so wir zu sehen hoffen,
irgendwie störend oder missfällig zu sein.«
Und nun wieder Paukenschlag und Trompetenstoß, und auf den Marktplatz
zu nahm der Umritt seinen Fortgang, während der Puppenspieler im Trikot
noch einmal zu dem Zernitzschen Hause hinaufgrüßte. Auch die
dunkelfarbige Frau, die zwischen den beiden andern zu Pferde saß,
verneigte sich. Sie schien groß und stattlich und trug ein Diadem mit
langem schwarzem Schleier, in den zahllose Goldsternchen eingenäht
waren.
»Gehst du heute?« fragte Emrentz.
»Nein. Nicht heut und nicht morgen. Es widersteht mir, Gott und
Teufel als bloße Puppen zu sehen. Das Jüngste Gericht ist kein Spiel,
und ich begreif unsre Ratmannen nicht, und am wenigsten unsern alten
Peter Guntz, der doch sonst ein christlicher Mann ist. Heiden und Türken
sind's. Sahst du die Frau? Und wie der lange schwarze Schleier ihr vom
Kopfe hing?«
»Ich gehe doch«, lachte Emrentz.
Damit trennten sich die Frauen, und Trud, unzufrieden über das
Gespräch und das Scheitern ihrer Pläne, kehrte noch übellauniger, als
sie gekommen, in das Mindesche Haus zurück.
Weitere Kapitel bei:
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.01.2024