Der reiche jüdische Kaufmann
Nathan, den man im Volk den »Weisen« nennt (I, 6), kehrt von einer längeren
Geschäftsreise wieder nach Hause in die Stadt Jerusalem zurück
(I,1). Nach seiner
Ankunft erfährt er von seiner Haushälterin
▪
Daja, dass es in seinem Haus
gebrannt hat und seine Tochter ▪
Recha bei dem Brand beinahe umgekommen wäre, wenn
sie nicht von einem jungen
▪
Tempelherrn in letzter Minute
vor dem Feuer gerettet worden wäre.
Recha, seine (angenommene)
Tochter, glaubt seitdem, dass sie von einem Engel gerettet worden ist.
Nathan kann Recha durch seine einfühlsame Art der Belehrung wieder von
dieser Schwärmerei abbringen (I, 2) und dankt dem Tempelherrn persönlich für
seine Tat
(II,5). Er trifft dabei auf einen jungen Mann, der sich als Tempelherr von
ausgeprägten Ressentiments in seinem Denken und Verhalten gegenüber Juden
leiten lässt ist. Indem Nathan gelingt, dem Tempelherrn diese Vorurteile
bewusst zu machen ("Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als
Mensch? Ah! Wenn ich einen mehr in Euch / Gefunden hätte, dem es gnügt, ein
Mensch / Zu heißen!" -
II, 5), legt er die Grundlage für eine beginnende
Freundschaft zwischen ihnen. In der Folge sperrt sich der Tempelherr auch nicht
mehr länger, selbst den Dank eines "Judenmädchens"
anzunehmen. Als Nathan den (vermeintlichen) Namen des Tempelherrn, Curd von Stauffen,
erfährt, ahnt er bereits, dass Recha und der Tempelherr verwandt sein
könnten, zumal ihn auch die äußere Erscheinung und die Art, wie der
Tempelherr spricht, an seinen vor vielen Jahren verstorbenen,
christlichen Freund Wolf von Filneck
erinnert. (II, 7).
Bevor Nathan dieser Sache
auf den Grund gehen kann, erhält er die Aufforderung, sich zum muslimischen
Herrscher über Jerusalem, Sultan
▪ Saladin, zu begeben. Dessen finanziellen
Mittel sind erschöpft und so fehlt ihm das Geld für seine weiteren Feldzüge gegen die
christlichen Kreuzritter im Heiligen Land und die eigene Hofhaltung. Dies
soll ihm der reiche Nathan leihen. Da
Saladin aber von seinem Finanzverwalter (Defterdar), dem Derwisch
▪ Al-Hafi,
gehört hat, dass Nathan kein Geld verleiht (II, 2), will er ihn mit einer
von seiner Schwester
▪
Sittah ausgedachten List (III, 4) unter Druck setzen,
um sein Ziel zu erreichen.
Als die beiden
Männer zusammentreffen, stellt Saladin Nathan
die Frage, welche von den drei Religionen – Islam, Judentum, Christentum –
die wahre Religion sei (III, 5). Nathan wägt darauf hin für sich ab, was
Saladin mit seiner Frage bezweckt (III,6), und antwortet ihm dann mit einem »Märchen«, der
sogenannten Ringerzählung (III, 7). In dieser
Parabel, deren
Kerngedanke darin besteht, dass alle drei
Religionen auf Offenbarungen ein und desselben Gottes zurückgehen,
wird die Forderung erhoben, dass alle drei Religionen gleichermaßen zu Humanität und Toleranz
verpflichtet sind: "Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien
Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins
in seinem Ring' an Tag / Zu legen!" (III, 7). Saladin ist von Nathan und
seinem "Märchen" so beeindruckt, dass er sein Ansinnen, Nathan
wegen seiner eigenen Geldnot unter Druck zu setzen, aufgibt und Nathan
um seine Freundschaft bittet. Nathan, der über die finanzielle Misere des
Sultans durch seinen Freund Al-Hafi bestens unterricht ist,
bietet Saladin danach sein Geld aus freien Stücken an und dieser
räumt ihm gegenüber ein, was er eigentlich vorgehabt hatte.
In der Zwischenzeit hat sich der Tempelherr
mit Nathans Tochter Recha getroffen und sich
dabei in die junge Frau verliebt (III, 2). Bei seinem nächsten Treffen
mit Nathan, hält er bei ihm um ihre
Hand an. Doch Nathan weicht aus und hält ihn, ganz anders als von diesem
erwartet, hin. Er muss zunächst seinen Ahnungen die Herkunft des Tempelherrn
nachgehen und sich Gewissheit verschaffen (III,9).
Im Gespräch zwischen Nathan
und dem
▪
Klosterbruder Bonafides (IV, 7) kommen dabei wesentliche Fakten ans
Licht, die auch schon zuvor gemachte Anspielungen, z. B. Dajas Anspielungen
darauf, dass er nicht Rechas Vater ist (I, 1) "auflösen".
In Wirklichkeit
ist Recha, was das
analytische Drama nach und nach enthüllt, eben nicht Nathans leibliche Tochter, sondern das Kind seines Freundes Wolf von Filneck.
Dessen Frau, eine Schwester des Conrad von Stauffen (der Tempelherr
hält diesen fälschlicherweise für seinen Vater hält bzw. ausgibt)
hat Recha zur Welt gebracht. Als die Mutter Rechas vor 18 Jahren
gestorben war, hatte Wolf von Filneck den wenige Wochen alten
Säugling von einem Reitknecht zu Nathan bringen lassen. Wenig
später war Wolf von Filneck bei den Kämpfen um Askalon selbst
umgekommen.
Als Nathan das
Kind seines Freundes übergeben wird, steckt er selbst in einer
schweren Lebenskrise. Wenige Tage zuvor hatte er nämlich seine
Frau und sieben Söhne bei einem von Christen begangenen Judenpogrom verloren.
Und doch hatte er
nicht gezögert, die Tochter eines (vermeintlichen) Christen an
Kindes Statt anzunehmen und mit väterlicher Liebe aufzuziehen (IV, 7).
Der Klosterbruder gibt sich
im Gespräch mit Nathan als genau jener Reitknecht zu erkennen,
der Nathan Recha einst gebracht hatte. Zugleich überreicht er ihm ein Gebetbüchlein seines
ehemaligen Herrn, in dem Wolf von Filneck die Ahnentafel seiner Familie und
die seiner Frau aufgezeichnet hat (IV, 7;
V, 4).
Mit Hilfe dieses Breviers und den darin enthaltenen Aufzeichnungen erhält
Nathan schließlich Gewissheit und sieht sich in seinen Vermutungen
bestätigt. Es verhält sich, wie er geahnt hat: Auch der Tempelherr ist ein Kind seines Freundes
Wolf von Filneck und damit also Rechas
Bruder. Die Annahme des Tempelherrn, er sei ein Sohn Conrad von Stauffens
ist damit offenkundig widerlegt, denn dieser ist "nur" dessen Onkel.
Die
▪
vollständige Klärung der Familienverhältnisse findet vor den
Augen der Zuschauer - entsprechend den ▪
Kompositionsprinzipien
des analytischen Dramas - erst am Ende des Dramas (V,8)
in der Schlussszene statt.
Am Ende stellt sich nämlich heraus, dass Wolf von Filneck gar kein Christ
gewesen ist, sondern ein Muslim und zugleich der
Bruder Saladins und Sittahs mit dem Namen Assad, der als
verschollen gegolten hatte. Saladin erkennt in der Handschrift
in dem Brevier sofort die seines Bruders (V,8).
Der
Schlussszene, die die Familie in friedlicher Eintracht vereint,
gehen eine Reihe weiterer Verwicklungen voraus, an denen Nathan
keinen Teil hat und von denen er auch nur am Rande erfährt (IV,
7; V, 4;
V, 5). Dazu zählt z. B., dass der gekränkte Tempelherr, angestiftet durch Dajas
Verrat (III, 10), Recha sei nicht Nathans Tochter und dazu
Christin, die Hilfe des Sultans gegen Nathans Weigerung in
Anspruch nehmen will, ihm Recha, das vermeintliche von Nathan
jüdisch erzogene Christenkind, zur Frau zu geben. Nathans
Aufgabe ist es am Ende, die
christlich-muslimische "Familie" in glücklicher Harmonie zusammenzuführen.
Dass ihn dabei keine blutsverwandtschaftlichen Bindungen an
Recha zu dieser Familie gehören lassen, zeigt die Kraft der "von Vorurteilen
freien Liebe", wie er sie mit der Ringparabel und
ihrer Botschaft unmissverständlich eingefordert hatte.
Immer wieder kommt die Frage
auf, warum Lessing wohl "einen Juden zur Hauptfigur und zum Muster der
Weisheit gemacht hat, und nicht einen Moslem" (Nisbet
2008, S.805), zumal er von Anfang an eine positive Einstellung zum Islam
hatte (ebd.,
S.794). Besonders schätzte er an diesem "die Toleranz anderen Religionen gegenüber
und die Nähe zur natürlichen Religion, und zwar vor allem zur unitarischen
Gottesvorstellung" (ebd.,
S.795).
Vielleicht hat Lessing auch, "genau wie andere
Aufklärer und Klassiker unter ihnen J. W. v. Goethe (erkannt), dass der
Islam eine vernünftige Religion ist, die dem Prinzip der Aufklärung
entspricht." (Muslim
2010, S.23)
Für Lessing, so betont der Autor weiter, stellt der Islam
"eine 'natürliche' Offenbarungsreligion" dar, "die die anderen Religionen -
Judentum und Christentum - anerkennt und er findet im Koran den 'gesunden
Menschenverstand'." (ebd.,
S.249)
Um so erstaunlicher also, zumal Lessing ja bekannt war, dass Islam in
deutscher Übersetzung etwa "die Überlassung seiner in den Willen Gottes"
bedeutet. Diese "Gottergebenheit" die Voraussetzung dafür, dass Nathan nach
der Ermordung seiner Familie bei dem von Christen verübten Judenpogrom in Gath (Vorgeschichte) überhaupt weiterleben und Recha, das Christenkind, an
Kindes statt aufnehmen konnte. (vgl. IV,7:
IV,7-
Nathan und der Klosterbruder im Gespräch
über die Ereignisse in Darun vor achtzehn
Jahren)
Offenbar bezieht Lessing
dieses Prinzip damit eben nicht nur auf den Islam, sondern auf alle
Religionen, denen er damit zutraut, zu einer solchen Gottergebenheit
beizutragen.
Dass Lessing sich für die Figur des Juden Nathan als "aufgeklärteste(n) von
allen" und als "die einzige wahrhaft ideale Gestalt in Lessings dramatischen
Gesamtwerk" (ebd.,
S.793) entschied, war möglicherweise die Vorstellung, "dass Juden als dem
Publikum vertraute benachteiligte Minderheit überzeugender wirken würden als
Moslems, und hinzukam, dass der Judaismus die einzige der drei Religionen
des Dramas ist, die nicht missioniert, also grundsätzlich weniger dogmatisch
ist als die anderen." (ebd.,
S.805f.)
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Figurengestaltung in dramatischen Texten
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Kontrast-
und Korrespondenzbeziehungen der Figuren
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Figurencharakterisierung
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Techniken
der Figurencharakterisierung in dramatischen Texten
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Auktoriale Techniken
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Figurale
Techniken
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Literarische Charakteristik
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.05.2021