▪
Gesamttext (Recherche-/Leseversion
ZWEITER AUFZUG
SIEBENTER AUFTRITT
Nathan und der Tempelherr.
TEMPELHERR. So kennt Ihr ihn noch nicht? – ich meine, von 1340 Person.
NATHAN. Den Saladin? Noch nicht.
Ich
habe Ihn nicht vermieden, nicht gesucht zu kennen.
Der allgemeine Ruf sprach viel zu gut Von ihm, daß ich nicht lieber glauben wollte,
Als sehn. Doch nun, – wenn anders dem so ist, –
Hat er durch Sparung1 Eures Lebens ... TEMPELHERR.
Ja; Dem allerdings ist so. Das Leben,
das Ich leb', ist sein Geschenk.
NATHAN.
Durch das er mir Ein doppelt, dreifach Leben schenkte.
Dies
Hat alles zwischen uns verändert;
hat 1350 Mit eins ein Seil mir umgeworfen, das
Mich seinem Dienst auf ewig fesselt. Kaum,
Und
kaum, kann ich es nun erwarten, was Er mir zuerst befehlen wird.
Ich bin Bereit zu allem;2 bin bereit ihm zu
Gestehn, daß ich es Euertwegen bin. TEMPELHERR. Noch hab ich selber
ihm nicht danken können:3
So oft ich auch ihm in den Weg getreten. Der Eindruck, den ich auf ihn machte, kam
So schnell, als schnell er wiederum verschwunden. 1360 Wer weiß, ob er sich meiner gar erinnert.
Und dennoch muß er, einmal wenigstens, Sich meiner noch erinnern, um mein Schicksal
Ganz zu entscheiden. Nicht genug, daß ich Auf sein Geheiß noch bin, mit seinem Willen
Noch leb':
ich muß nun auch von ihm erwarten,
Nach wessen Willen ich zu leben habe. NATHAN. Nicht anders; um so mehr will ich nicht säumen. –
Es fällt vielleicht ein Wort, das mir, auf Euch Zu kommen, Anlaß gibt. – Erlaubt, verzeiht – 1370 Ich eile – Wenn, wenn aber sehn wir Euch
Bei uns? TEMPELHERR. So bald ich darf. NATHAN.
So bald Ihr wollt. TEMPELHERR. Noch heut. NATHAN.
Und Euer Name? – muß ich bitten. TEMPELHERR.
Mein Name
war – ist Curd von Stauffen. – Curd!4 NATHAN.
Von Stauffen? –
Stauffen? – Stauffen? TEMPELHERR.
Warum fällt Euch das so auf? NATHAN.
Von Stauffen? – Des Geschlechts Sind wohl schon mehrere ...
TEMPELHERR.
O ja! hier waren,
Hier faulen
des Geschlechts schon mehrere.
Mein
Oheim selbst, – mein Vater will ich sagen, –
Doch warum schärft sich Euer Blick auf mich 1380 Je mehr und mehr?
5
NATHAN.
O nichts! o nichts! Wie kann Ich Euch zu sehn ermüden?
TEMPELHERR.
Drum verlaß Ich Euch zuerst.
Der Blick des Forschers fand
Nicht selten mehr, als er zu finden wünschte. Ich fürcht' ihn, Nathan. Laßt die Zeit allmählig,
Und nicht die Neugier, unsre Kundschaft6 machen. (Er geht.)
NATHAN (der ihm mit Erstaunen nachsieht.)
»Der Forscher fand nicht selten mehr, als er
Zu finden wünschte.«7–
Ist es doch, als ob In meiner Seel' er lese! – Wahrlich ja; Das könnt auch mir begegnen. – Nicht allein 1390
Wolfs Wuchs, Wolfs Gang:
auch seine Stimme.8 So, Vollkommen so, warf Wolf sogar den Kopf;
Trug Wolf sogar das Schwert im Arm'; strich Wolf Sogar die Augenbraunen mit der Hand,
Gleichsam das Feuer seines Blicks zu bergen. –
Wie solche tiefgeprägte Bilder doch Zu Zeiten in uns schlafen können, bis
Ein Wort, ein Laut sie weckt. – Von
Stauffen! – Ganz recht, ganz recht; Filneck und Stauffen.
–
Ich will das
bald genauer wissen; bald. 1400 Nur erst zum Saladin. –
Doch wie? lauscht dort Nicht Daja? – Nun so komm nur näher, Daja.
9
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1 Schonung
2 vgl. die
Ablehnung Nathans im Dialog mit Al-Hafi (I,3
V 424 ff. ) dem Sultan Kredit zu gewähren
3
vgl. IV,4
V 2651ff.
4 →Verwandtschaftsbeziehungen
der Figuren
5
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext),
h: warum fixiert ihr mich so genau
6
Bekanntschaft
7
vgl.
V 1383 , Nathan wiederholt die Aussage des Tempelherrn wörtlich (ad
spectatores?)
8 Auch für Saladin ist die
Stimme und Sprechweise des Tempelherrn eine besonders herausragende
Ähnlichkeit zwischen dem Tempelherrn und seinem verstorbenen Bruder
Assad (Wolf von Filnek) (IV,4
V 2664)x
9
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext),
Textauswahl
-
Gesamttext
(Recherche-/Leseversion)
-
II,1 - Saladin und Sittah beim
Schachspiel
-
II,2
-
Saladin wird von Al-Hafi über seine
Finanzlage aufgeklärt
-
II,3
-
Saladin und Sittah sprechen über Nathan
-
II,4
-
Nathan und Recha warten auf das Erscheinen des
Tempelherrn
-
II,5
- Nathans erste Begegnung mit dem Tempelherrn
-
II,6
- Daja unterrichtet Nathan von seiner
Einbestellung beim Sultan
-
II,8
- Daja soll auf Anweisung Nathans, Recha von
dem bevorstehenden Zusammentreffen mit dem
Tempelherrn unterrichten
-
II,9
- Al-Hafi verabschiedet sich von Nathan
-
III,1 -
Recha und Daja warten auf den Tempelherrn
▪
Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
|