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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
DRITTER AUFZUG
ERSTER AUFTRITT
Szene: in Nathans Hause Recha und Daja
RECHA. Wie, Daja, drückte sich mein Vater aus? »Ich dürf' ihn jeden Augenblick erwarten?1« Das klingt – nicht wahr? – als ob er noch so bald Erscheinen werde. – Wie viel Augenblicke 1520 Sind aber schon vorbei! – Ah nun: wer denkt An die verflossenen? – Ich will allein In jedem nächsten Augenblicke leben. Er wird doch einmal kommen, der ihn bringt. DAJA. O der verwünschten Botschaft von dem Sultan! Denn Nathan hätte sicher ohne sie Ihn gleich mit hergebracht. RECHA.
Und wenn er nun Gekommen dieser Augenblick; wenn denn Nun meiner Wünsche wärmster, innigster Erfüllet ist: was dann? – was dann? 1530 DAJA.
Was dann? Dann hoff' ich, daß auch
meiner
Wünsche wärmster Soll in Erfüllung gehen.2 RECHA.
Was wird dann In meiner Brust an dessen Stelle treten, Die schon verlernt, ohn einen herrschenden Wunsch
aller Wünsche sich zu dehnen3? – Nichts? Ah, ich erschrecke! ... DAJA.
Mein, mein Wunsch wird dann An des erfüllten Stelle treten; meiner.
Mein Wunsch, dich in Europa, dich in Händen Zu wissen, welche deiner würdig sind. RECHA. Du irrst. – Was diesen Wunsch zu deinem macht, 1540 Das nämliche verhindert, daß er meiner Je werden kann.
Dich zieht
dein Vaterland:4 Und meines, meines sollte mich nicht halten?
Ein Bild der Deinen, das in deiner Seele Noch nicht verloschen, sollte mehr vermögen, Als die ich sehn, und greifen kann, und hören, Die Meinen? DAJA.
Sperre dich, so viel du willst!
Des Himmels Wege
sind des Himmels Wege. Und wenn es nun dein Retter selber wäre, Durch den sein Gott, für den er kämpft, dich in 1550 Das Land,
dich zu dem Volke führen wollte, Für welche du geboren wurdest? RECHA.
Daja! Was sprichst du da nun wieder, liebe Daja!
Du
hast doch wahrlich deine sonderbaren Begriffe! »Sein, sein Gott! für den er kämpft!«
Wem eignet Gott5?
was ist das für ein Gott, Der einem Menschen eignet? der für sich Muß kämpfen lassen? – Und wie weiß Man denn, für welchen
Erdkloß6
man geboren, Wenn mans für den nicht ist, auf welchem man 1560 Geboren? – Wenn mein Vater dich so hörte! – Was tat er dir, mir immer nur mein Glück So weit von ihm als möglich vorzuspiegeln? Was tat er dir,
den Samen der Vernunft, Den er so rein in meine Seele streute7, Mit deines Landes Unkraut oder Blumen So gern zu mischen? – Liebe, liebe Daja, Er will nun deine bunten Blumen nicht Auf meinem Boden! – Und ich muß dir sagen, Ich selber fühle meinen Boden, wenn 1570 Sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet, So ausgezehrt durch deine Blumen; fühle In ihrem Dufte, sauersüßem Dufte, Mich so betäubt, so schwindelnd! – Dein Gehirn Ist dessen mehr gewohnt. Ich tadle drum[ Die stärkern Nerven nicht, die ihn vertragen. Nur schlägt er mir nicht zu;
und schon dein Engel, Wie wenig fehlte, daß er mich zur Närrin Gemacht?8 – Noch schäm' ich mich vor meinem Vater Der
Posse9! 1580 DAJA. Posse! – Als
ob der Verstand Nur hier zu Hause wäre! Posse! Posse!
Wenn ich nur reden dürfte!10 RECHA.
Darfst du nicht? Wenn war ich nicht ganz Ohr11, so oft es dir Gefiel, von deinen Glaubenshelden mich Zu unterhalten? Hab' ich ihren Taten Nicht stets Bewunderung; und ihren Leiden Nicht immer Tränen gern
gezollt12? Ihr
Glaube Schien freilich mir das Heldenmäßigste An ihnen nie. Doch so viel tröstender War mir die Lehre, daß
Ergebenheit 1590 In Gott13
von unserm Wähnen14 über Gott So ganz und gar nicht abhängt. – Liebe Daja, Das hat mein Vater uns so oft gesagt; Darüber hast du selbst mit ihm so oft
Dich einverstanden15: warum untergräbst Du denn allein, was du mit ihm zugleich Gebauet? – Liebe Daja, das ist kein Gespräch, womit wir unserm Freund' am besten Entgegen sehn. Für mich zwar, ja! Denn mir, Mir liegt daran unendlich, ob auch er ... 1600
Horch, Daja! – Kommt es nicht an unsre Türe? Wenn Er es wäre! horch!16
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
vgl.
II,8 V 1409
2
erste Andeutung Dajas, dass sie ihr Nathan gegebenes Versprechen zu
brechen beabsichtigt - vgl.
II, 8 V 1417
3
gemeint ist wohl das Heben und Senken des Brustkorbs beim Atmen, h: frei
atmen 4
vgl. Vorgeschichte Dajas
I, 6 V 754 (→Analytische Dramenstruktur)
5
wem gehört Gott? 6
Flecken Erde
7
Motiv des
Samens,
8
vgl.
I,2 V 188ff.
9
Unsinn, Unfug
10
deutet ein Geheimnis an 11
habe ich dir nicht immer aufmerksam zugehört, dir mein Ohr geschenkt
12
mit Tränen bezahlt, deshalb geweint
13
→Motiv der Ergebenheit in Gott, vgl.
auch IV,7 Nathans Schilderung
der Vorkommnisse während und nach dem Judenpogrom in Gath (→Vorgeschichte)
14 h:
Vorstellungen, Annahmen
15 sich
einverstehen = miteinander einverstanden sein
16
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
Textauswahl
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II,9
- Al-Hafi verabschiedet sich von Nathan
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III,2
-
Recha begegnet dem Tempelherrn
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III,3
-
Recha verarbeitet ihre Gefühle nach dem
Treffen mit dem Tempelherrn
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III,4
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Saladin und Sittah sprechen über die
bevorstehende Zusammenkunft mit Nathan
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III,5
-
Erste Begegnung von Saladin und Nathan: Die
Frage nach der Wahrheit
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III,6
- Nathans Monolog
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III,7
- Nathan bei Saladin: Die Ringparabel
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III,8 - Der Tempelherr entscheidet sich im
Selbstgespräch für seine Liebe zu Recha
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III,9 - Nathan blockt den Heiratsantrag des Tempelherrn
zunächst einmal ab
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III,10
-
Daja enthüllt dem Tempelherrn die wahre
Herkunft Rechas
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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