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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
DRITTER AUFZUG
ZEHNTER AUFTRITT
Der Tempelherr und bald darauf Daja.
TEMPELHERR1 Schon mehr als gnug! – Des Menschen Hirn faßt so Unendlich viel; und ist doch manchmal auch So plötzlich voll! von einer Kleinigkeit 2230 So plötzlich voll! – Taugt nichts, taugt nichts; es sei Auch voll wovon es will. – Doch nur Geduld!
Die Seele wirkt den aufgedunsnen Stoff Bald in einander2, schafft sich Raum, und Licht Und Ordnung kommen wieder. – Lieb'
ich denn Zum erstenmale? – Oder war, was ich Als Liebe kenne, Liebe nicht? – Ist
Liebe Nur was ich itzt empfinde? ...3 DAJA
(die sich von der Seite herbeigeschlichen.)
Ritter! Ritter! TEMPELHERR. Wer ruft? – Ha, Daja, Ihr? DAJA.
Ich habe mich Bei ihm vorbei geschlichen. Aber noch 2240 Könnt' er uns sehn, wo Ihr da steht. – Drum kommt Doch näher zu mir,
hinter diesen Baum.4 TEMPELHERR. Was gibts denn? – So geheimnisvoll? – Was ists? DAJA. Ja wohl betrifft es ein
Geheimnis, was Mich zu Euch bringt; und zwar ein doppeltes. Das eine weiß nur ich; das andre wißt Nur Ihr. – Wie wär es, wenn wir tauschten? Vertraut mir Euers: so vertrau' ich Euch Das meine. TEMPELHERR. Mit Vergnügen. – Wenn ich nur Erst weiß, was Ihr für meines achtet. Doch Das wird aus Euerm wohl erhellen. – Fangt 2250 Nur immer an. DAJA.
Ei denkt doch! – Nein, Herr Ritter: Erst Ihr; ich folge. – Denn versichert, mein Geheimnis kann Euch gar nichts nutzen, wenn Ich nicht zuvor das Eure habe. – Nur Geschwind! – Denn frag' ichs Euch erst ab: so habt Ihr nichts vertrauet. Mein Geheimnis dann Bleibt mein Geheimnis; und das Eure seid Ihr los. – Doch armer Ritter! –
Daß ihr Männer Ein solch Geheimnis vor uns Weibern haben 2260 Zu können, auch nur glaubt! TEMPELHERR.
Das wir zu haben Oft selbst nicht wissen. DAJA.
Kann wohl sein. Drum muß Ich freilich erst, Euch selbst damit bekannt Zu machen, schon die
Freundschaft5 haben. – Sagt: Was hieß denn das, daß Ihr so
Knall und Fall6 Euch
aus dem Staube machtet7? daß Ihr uns So sitzen ließet? – daß Ihr nun mit Nathan Nicht wiederkommt? –
Hat Recha denn so
wenig Auf Euch gewirkt? wie? oder auch, so viel? –
So viel! so viel!8 – Lehrt Ihr
des armen Vogels, 2270 Der an der Rute klebt, Geflattre9
mich Doch kennen! – Kurz:
gesteht es mir nur gleich, Daß Ihr sie liebt, liebt bis zum Unsinn; und Ich sag' Euch was ... TEMPELHERR. Zum Unsinn?
Wahrlich; Ihr Versteht Euch trefflich drauf. DAJA.
Nun gebt mir nur Die Liebe zu; den Unsinn will ich Euch Erlassen. TEMPELHERR. Weil er sich von selbst versteht? –
Ein Tempelherr
ein Judenmädchen lieben! ... DAJA. Scheint freilich wenig Sinn zu haben. – Doch Zuweilen ist des Sinns in einer Sache 2280 Auch mehr, als wir vermuten; und es wäre So unerhört doch nicht,
daß uns der Heiland10
Auf Wegen zu sich zöge, die der Kluge Von selbst nicht leicht betreten würde. TEMPELHERR.
Das So feierlich? –
(Und setz' ich statt des Heilands Die Vorsicht11: hat sie denn
nicht Recht?12) – Ihr macht Mich
neubegieriger13, als ich wohl sonst Zu sein gewohnt bin. DAJA.
O! das ist das Land Der Wunder!14 TEMPELHERR. (Nun! – des
Wunderbaren.15 Kann Es auch wohl anders sein?
Die ganze Welt 2290 Drängt sich ja hier zusammen.16) – Liebe Daja,
Nehmt für gestanden an, was Ihr verlangt: Daß ich sie liebe; daß ich nicht begreife, Wie ohne sie ich leben werde; daß ... DAJA. Gewiß? gewiß? –
So schwört mir, Ritter, sie Zur Eurigen zu machen; sie zu retten; Sie zeitlich hier, sie ewig dort zu retten.17
TEMPELHERR. Und wie? – Wie kann ich? – Kann ich schwören, was In meiner Macht nicht steht? DAJA.
In Eurer Macht Steht es. Ich bring' es durch ein einzig Wort 2300 In Eure Macht. TEMPELHERR. Daß selbst der Vater nichts Dawider hätte?18 DAJA.
Ei, was Vater! Vater!
Der Vater soll schon müssen.19 TEMPELHERR.
Müssen, Daja? – Noch ist er unter Räuber nicht gefallen. –
Er muß nicht müssen. DAJA.
Nun, so muß er wollen; Muß gern am Ende wollen. TEMPELHERR.
Muß und gern! – Doch, Daja, wenn ich Euch nun sage, daß Ich selber diese Sait' ihm anzuschlagen Bereits versucht? DAJA.
Was? und er fiel nicht ein? TEMPELHERR.
Er fiel mit einem Mißlaut ein, der mich – 2310 Beleidigte.20 DAJA. Was sagt Ihr? – Wie? Ihr hättet Den Schatten eines Wunsches nur nach Recha Ihm blicken lassen: und er wär' vor Freuden Nicht aufgesprungen? hätte frostig sich Zurückgezogen? hätte Schwierigkeiten Gemacht? TEMPELHERR. So ungefähr. DAJA.
So will ich denn Mich länger keinen Augenblick bedenken –
(Pause.) TEMPELHERR. Und Ihr bedenkt Euch doch? DAJA.
Der Mann ist sonst So gut! – Ich selber
bin so viel ihm schuldig! – Daß er doch gar nicht hören will! –
Gott
weiß, 2320 Das Herze blutet mir, ihn so zu zwingen. TEMPELHERR. Ich bitt' Euch, Daja, setzt mich kurz und gut Aus dieser Ungewißheit. Seid Ihr aber Noch selber ungewiß; ob, was Ihr vorhabt, Gut oder böse, schändlich oder löblich Zu nennen: – schweigt! Ich will vergessen, daß Ihr etwas zu verschweigen habt. DAJA.
Das spornt Anstatt zu halten. Nun; so
wißt denn: Recha Ist keine Jüdin; ist – ist eine Christin. TEMPELHERR
(kalt.) So? Wünsch' Euch Glück!21 Hats schwer gehalten?
Laßt 2330 Euch nicht die Wehen schrecken!22 – Fahret ja Mit Eifer fort, den Himmel zu bevölkern; Wenn Ihr die Erde nicht mehr könnt! DAJA.
Wie, Ritter? Verdienet meine Nachricht diesen Spott? Daß Recha eine Christin ist: das freuet Euch, einen Christen, einen Tempelherrn, Der Ihr sie liebt, nicht mehr? TEMPELHERR.
Besonders, da Sie eine Christin ist von Eurer Mache. DAJA. Ah! so versteht Ihrs? So mags gelten! – Nein! Den will ich sehn, der die bekehren soll! 2340 Ihr Glück ist, längst zu sein, was sie zu werden Verdorben ist. TEMPELHERR. Erklärt Euch, oder – geht! DAJA.
Sie ist ein Christenkind; von Christeneltern Geboren; ist getauft ...23 TEMPELHERR
(hastig.) Und Nathan? DAJA.
Nicht Ihr Vater! TEMPELHERR. Nathan nicht ihr Vater? – Wißt Ihr, was Ihr sagt? DAJA.
Die Wahrheit, die so oft Mich blutge Tränen weinen machen. – Nein, Er ist ihr Vater nicht ... TEMPELHERR.
Und hätte sie, Als seine Tochter nur erzogen? hätte
Das Christenkind als eine Jüdin sich 2350 Erzogen? DAJA. Ganz gewiß. TEMPELHERR.
Sie wüßte nicht, Was sie geboren sei?
– Sie hätt' es nie Von ihm erfahren, daß sie eine Christin Geboren sei, und keine Jüdin? DAJA.
Nie! TEMPELHERR. Er hätt' in diesem Wahne nicht das Kind Bloß auferzogen? ließ das Mädchen noch In diesem Wahne? DAJA.
Leider! TEMPELHERR.
Nathan – Wie? –
Der weise gute Nathan hätte sich Erlaubt, die Stimme der Natur so zu Verfälschen? – Die Ergießung eines Herzens 2360 So zu
verlenken24, die,
sich selbst gelassen25, Ganz andre Wege nehmen würde? – Daja, Ihr habt mir allerdings etwas vertraut – Von Wichtigkeit, – was Folgen haben kann, – Was mich verwirrt, – worauf ich gleich nicht weiß, Was mir zu tun. – Drum laßt mir Zeit. – Drum geht!
Er kömmt hier wiederum vorbei. Er möcht' Uns
überfallen26. Geht!
DAJA.
Ich wär' des Todes! TEMPELHERR.
Ich
bin ihn itzt zu sprechen ganz und gar Nicht fähig. Wenn Ihr ihm begegnet, sagt 2370 Ihm nur, daß wir einander bei dem Sultan Schon finden würden. DAJA.
Aber laßt Euch ja Nichts merken gegen ihn. – Das soll nur so Den letzten Druck dem Dinge geben; soll Euch, Rechas wegen, alle Skrupel nur Benehmen! –
Wenn Ihr aber dann, sie nach Europa führt: so laßt Ihr doch mich nicht Zurück? TEMPELHERR. Das wird sich finden. Geht nur, geht!
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
V 2228-2238 Monolog bzw.
monologisches Beiseite (a
parte), das aber u. U. von Daja, die sich an ihn heranschleicht,
gehört wird
2
wirkt h. i. S. v. verarbeitet, formt; h: sie kann die Eindrücke nicht
alle verarbeiten;
3
→Motiv der Liebe; der Tempelherr hat
offenbar weiterhin Probleme mit seinen Gefühlen, seinem Verliebtsein -
vgl. III,8 V 2129f., wo er sich die (erotische) Liebe zu Recha erstmals
eingesteht 4
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
5
h: Freundlichkeit 6
Redensart:
plötzlich, auf der Stelle;
7
Redensart:
unbemerkt und schnell verschwinden
8
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext);
macht eigentlich nur Sinn, wenn ihr eine entsprechende gestische
Reaktion des Tempelherrn vorausgeht
9
Bild aus der Vogeljagd: ein Vogel, der sich auf einem langen, mit Leim
bestrichenen Zweig (=Rute) niedergelassen hat und nicht mehr wegfliegen
kann 10
Jesus Christus als Erlöser der Menschen
11
Vorsehung, h: die Vorstellung, dass der Gang der Dinge auf der Welt
einem göttlichen Plan folgt
12
→Motiv der Liebe
- Aufgrund der Tatsache, dass die Liebe zwischen einem Christen und
einem Juden sowohl während der Handlungszeit des Dramas als auch zu
Zeiten Lessings illegitim und, zumindest zu Zeiten Lessings auch
verboten war (vgl.
Fittbogen 1923, S.74), erklärt sich der Tempelherr seine Gefühle für
das vermeintliche Judenmädchen Recha mit der göttlichen Vorsehung.
13
neugieriger
14
Daja setzt zur gleichen Strategie an, mit der sie Recha nach dem Brand
des Hauses bearbeitet hatte: Wunder und Wunderglaube. - vgl. z. B.
I,2 V 288f.,
Recha im Rückblick darauf:
III,1 V 1577f.; die Art und Weise, wie der Tempelherr diese
Strategie durchkreuzt, in dem er -
a parte
gesprochen - sich auf solche Wundergeschichten nicht einlässt, sondern
in den Bereich des Wunderbaren, gemeint Erstaunlichen, verweist, zeigt,
dass auch Lessing das Thema der Wundergläubigkeit, das er ja in den den
ersten beiden Szenen des Dramas behandelt, nicht erneut aufgreifen will.
15
h: Erstaunlichen, zum Verwundern anregend; vgl. Anm. 14
16
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext);
gemeint ist die Tatsache, dass in »Palästina
die aus europazentrischer Perspektive wichtigsten Kulturen, der damals
in Europa bekannten Welt aufeinander trafen und an die »Kreuzzugheere
sich aus etlichen europäischen Ländern zusammensetzten.
17
Daja zeigt sich hier überzeugt davon, dass nur die Wiedereingliederung
Rechas in die christliche Gemeinschaft, Recha vor der Verdammnis
bewahren könne.
18
vgl. III,9 V 2178,
V 2219f.
19
vgl. Nathans Aussage gegenüber dem Derwisch Al Hafi in
I,3 V 385
20
vgl. z.B.
III,9
V 2209
21
ironisch, wie auch das weiter dazu Geäußerte
22
h: Lasst euch nicht durch die Schmerzen davon abbringen; ironisch
23
→Verwandtschaftsbeziehungen
der Figuren
24
in die falsche Richtung lenken, fehlleiten
25
sich selbst überlassen 26
überraschen
Textauswahl
-
Gesamttext
(Recherche-/Leseversion)
-
III,1 -
Recha und Daja warten auf den Tempelherrn
-
III,2
-
Recha begegnet dem Tempelherrn
-
III,3
-
Recha verarbeitet ihre Gefühle nach dem
Treffen mit dem Tempelherrn
-
III,4
-
Saladin und Sittah sprechen über die
bevorstehende Zusammenkunft mit Nathan
-
III,5
-
Erste Begegnung von Saladin und Nathan: Die
Frage nach der Wahrheit
-
III,6
- Nathans Monolog
-
III,7
- Nathan bei Saladin: Die Ringparabel
-
III,8 - Der Tempelherr entscheidet sich im
Selbstgespräch für seine Liebe zu Recha
-
III,9 - Nathan blockt den Heiratsantrag des Tempelherrn
zunächst einmal ab
-
IV,1
- Die zweite Begegnung von Tempelherr und Klosterbruder
▪
Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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