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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
DRITTER AUFZUG
NEUNTER AUFTRITT
Nathan und der Tempelherr.
NATHAN.
Wie? seid Ihrs?
TEMPELHERR.
Ihr habt
Sehr lang' Euch bei dem Sultan aufgehalten.
2160
NATHAN. So lange nun wohl nicht. Ich ward im Hingehn
Zu viel verweilt.1 – Ah, wahrlich Curd; der Mann
Steht seinen Ruhm.2 Sein Ruhm ist bloß sein Schatten.
Doch laßt vor allen Dingen Euch geschwind
Nur sagen ...
TEMPELHERR. Was?
NATHAN.
Er will Euch sprechen; will,
Daß ungesäumt Ihr zu ihm kommt. Begleitet
Mich nur nach Hause, wo ich noch für ihn
Erst etwas anders zu verfügen habe:3
Und dann, so gehn wir.
TEMPELHERR.
Nathan, Euer Haus
Betret' ich wieder eher nicht ...
NATHAN.
So seid
2170
Ihr doch indes schon da gewesen? habt
Indes sie doch gesprochen? – Nun? – Sagt: wie
Gefällt Euch Recha?
TEMPELHERR.
Über allen Ausdruck! –
Allein, – sie
wiedersehn – das werd ich nie!
Nie! nie! –
Ihr müßtet mir zur Stelle denn
Versprechen: – daß ich sie auf immer, immer –
Soll können sehn.
NATHAN.
Wie wollt Ihr, daß ich das
Versteh'?
TEMPELHERR (nach einer kurzen Pause
ihm plötzlich um den Hals
fallend.)
Mein Vater!4
NATHAN.
– Junger Mann!
TEMPELHERR (ihn eben so plötzlich wieder lassend.)
Nicht Sohn? –
Ich bitt' Euch, Nathan! –
NATHAN.
Lieber junger Mann!
TEMPELHERR. Nicht Sohn? – Ich bitt' Euch, Nathan! – Ich beschwör' 2180
Euch bei den ersten Banden der Natur!5 –
Zieht ihnen spätre Fesseln doch nicht vor! –
Begnügt Euch doch
ein Mensch zu sein! – Stoßt mich
Nicht von Euch!
NATHAN.
Lieber, lieber Freund! ...
TEMPELHERR.
Und Sohn?
Sohn nicht? – Auch dann nicht, dann nicht einmal, wenn
Erkenntlichkeit6 zum Herzen Eurer Tochter
Der Liebe schon den Weg
gebahnet hätte?
Auch dann nicht einmal, wenn in eins zu schmelzen
Auf Euern Wink nur
beide warteten?7 –
Ihr schweigt?
2190
NATHAN. Ihr überrascht
mich, junger Ritter.
TEMPELHERR. Ich überrasch' Euch? – überrasch' Euch, Nathan,
Mit Euern eigenen Gedanken?8 – Ihr
Verkennt sie doch in meinem Munde nicht? –
Ich überrasch' Euch?
NATHAN.
Eh ich einmal weiß,
Was für ein Stauffen Euer Vater denn
Gewesen ist!9
TEMPELHERR. Was sagt Ihr, Nathan? was? –
In diesem Augenblicke fühlt Ihr nichts,
Als Neubegier?10
NATHAN.
Denn seht! Ich habe selbst
Wohl einen
Stauffen ehedem gekannt,
Der Conrad hieß.
TEMPELHERR. Nun – wenn mein Vater denn
2200
Nun eben so geheißen hätte?
NATHAN.
Wahrlich?
TEMPELHERR.
Ich
heiße selber ja nach meinem Vater: Curd
Ist Conrad.
NATHAN. Nun –
so war mein Conrad doch
Nicht Euer Vater. Denn mein Conrad war,
Was Ihr; war Tempelherr; war nie vermählt.11
TEMPELHERR.
O darum!
NATHAN. Wie?
TEMPELHERR. O darum könnt' er doch
Mein Vater wohl gewesen sein.
NATHAN.
Ihr scherzt.
TEMPELHERR. Und Ihr nehmts wahrlich zu genau! – Was wärs
Denn nun? So was von
Bastard oder Bankert!12
Der Schlag13 ist auch nicht zu verachten. – Doch
2210
Entlaßt14 mich immer
meiner Ahnenprobe.
Ich will Euch Eurer wiederum entlassen.
Nicht zwar, als ob ich den geringsten Zweifel
In Euern Stammbaum setzte. Gott behüte!
Ihr könnt ihn Blatt vor Blatt bis Abraham
Hinauf belegen.15 Und von da so weiter,
Weiß ich ihn selbst; will ich ihn selbst beschwören.
NATHAN. Ihr werdet bitter. – Doch verdien' ichs? – Schlug
Ich denn Euch schon was ab? –
Ich will Euch ja
Nur bei dem Worte nicht den Augenblick
2220
So fassen. – Weiter nichts.
TEMPELHERR.
Gewiß? – Nichts weiter?
O so vergebt! ...
NATHAN. Nun
kommt nur, kommt!
TEMPELHERR.
Wohin?
Nein! – Mit in Euer Haus? – Das nicht! das nicht! –
Da brennts!16 – Ich will Euch hier
erwarten. Geht! –
Soll ich sie wiedersehn: so seh ich sie
Noch oft genug. Wo nicht: so sah ich sie
Schon viel zu viel ...
NATHAN. Ich will mich möglichst eilen.
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
aufgehalten, geblieben
2
ist sie gut wie oder besser als sein Ruhm, entspricht seinem Ruhm
3
will Saladin versprochenen Geldmittel zukommen lassen (III,7
V 2066-2086), die
Saladin dann von Sklaven in zahlreichen Beuteln in den Palast gebracht
werden (IV,3
Nebentext im nach dem Szenentitel) 4 Unter
Umständen bezieht sich Nathans Äußerung in
IV, V 2190 auch auf diese Aussage des Tempelherrn
5
bei den ersten natürlichen Bindungen, die zwischen Menschen bestehen, z.
B. Kindesliebe oder Religionszugehörigkeit u. ä.
6
Dankbarkeit
7
vgl. dazu auch Rechas "abgeklärte" Reaktion auf ihr Zusammentreffen mit
dem Tempelherrn (III,3)
- vgl.
III,3 V 1719ff.
8
Der Tempelherr bezieht sich hier offensichtlich auf den Grund für
Nathans Frage, ob ihm Recha gefalle, wenig zuvor (III,9
V 2172f.) und seine Aufforderung an ihn, Recha kennen zu lernen (II,5
V 1322) und die unmittelbare Reaktion des Tempelherrn darauf.
9
Verwandtschaftsbeziehungen
der Figuren
10
Neugier, Neugierde
11
aufgrund seines als Tempelritter abgelegten »Keuschheitgelübdes
(»Ordensregeln
der Tempelritter) nimmt Nathan an, dass sein Conrad von Stauffen
nicht der Vater des Tempelherrn sein kann
12
Tempelherr fühlt sich "beleidigt", wie er in
III,10 V 2310 Daja gegenüber bemerkt.. Als Bankart wurden Kinder bezeichnet, die außerhalb des Ehebettes, also
z. B. auf einer Bank, gezeugt wurden, also z.B. auch von einer
Geliebten, illegitimen, nicht verheirateten oder einer Mutter von weit
geringerem Stand geboren wurden.
13
Art, Gattung, Menschenschlag
14
erspart, erlasst
15
Hinweis darauf, dass die Juden ihre Abstammung alle auf den »Stammvater
Israels, »Abraham,
zurückführen; allerdings berufen sich auch das »Christentum
und der »Islam auf
Abraham als Stammvater. Darum bezeichnet man alle drei auch als »abrahamitische
Religionen. 16
Das→Motiv des
(Ver-)Brennens taucht an anderen Stellen des Dramas immer wieder
auf,
vgl. I,2 V 177,
I,6 V 773, - vgl. Anmerkung (1)
zu I,1 V 13 ,
I,2 V 177,
IV,7: "Verbrennen"
der Familie Nathans beim Judenpogrom in Gath 18 Jahre vor Einsetzen der
dramatischen Handlung (→Vorgeschichte),
Textauswahl
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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