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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
VIERTER AUFZUG
ERSTER AUFTRITT
(Szene: in den Kreuzgängen des Klosters.)*
Der Klosterbruder und bald darauf der Tempelherr.
KLOSTERBRUDER.1 Ja, ja! er hat schon recht, der Patriarch! Es hat mir freilich noch von alledem 2380 Nicht viel gelingen wollen, was er mir So aufgetragen. - Warum trägt er mir Auch lauter solche Sachen auf? - Ich mag Nicht fein sein; mag nicht überreden; mag Mein
Näschen nicht in alles stecken2; mag Mein Händchen nicht in allem haben. - Bin Ich
darum aus der Welt geschieden3, ich Für mich, um mich für andre mit der Welt Noch erst recht zu verwickeln? TEMPELHERR
(mit Hast auf ihn zukommend). Guter Bruder! Da seid Ihr ja. Ich hab Euch lange schon 2390 Gesucht. KLOSTERBRUDER. Mich, Herr? TEMPELHERR.
Ihr kennt mich schon nicht mehr? KLOSTERBRUDER. Doch, doch! Ich glaubte nur, dass ich den Herrn In meinem Leben wieder nie zu sehn Bekommen würde. Denn ich hofft' es zu Dem lieben Gott. - Der liebe Gott, der weiß, Wie
sauer4 mir der
Antrag5 ward, den ich
Dem Herrn zu tun verbunden war.6
Er weiß, Ob ich gewünscht,
ein offnes Ohr bei Euch Zu finden7; weiß, wie sehr ich mich gefreut, Im Innersten gefreut, dass Ihr so rund 2400 Das alles, ohne viel Bedenken,
von Euch wies't8, was einem Ritter nicht geziemt. - Nun kommt Ihr doch; nun hat's doch nachgewirkt! TEMPELHERR. Ihr wisst es schon, warum ich komme? Kaum Weiß ich es selbst. KLOSTERBRUDER. Ihr habt's nun überlegt; Habt nun gefunden, dass der Patriarch So unrecht doch nicht hat; dass Ehr' und Geld Durch seinen Anschlag zu gewinnen; dass Ein Feind ein Feind ist, wenn er unser
Engel9 Auch siebenmal gewesen wäre. Das, 2410 Das habt Ihr nun
mit Fleisch und Blut erwogen10, Und kommt, und tragt Euch wieder an. -
Ach Gott! TEMPELHERR. Mein frommer, lieber Mann! gebt Euch zufrieden. Deswegen komm ich nicht; deswegen will Ich nicht den Patriarchen sprechen. Noch, Noch denk ich über jenen Punkt, wie ich Gedacht, und wollt' um alles in der Welt Die gute Meinung nicht verlieren, deren Mich ein so grader, frommer, lieber Mann Einmal gewürdiget. - Ich komme bloß, 2420 Den Patriarchen über eine Sache Um Rat zu fragen . . . KLOSTERBRUDER. Ihr den Patriarchen? Ein Ritter, einen -
Pfaffen11?
(sich schüchtern umsehend.) TEMPELHERR. Ja; - die Sach' Ist ziemlich
pfäffisch.12 KLOSTERBRUDER. Gleichwohl fragt der Pfaffe Den Ritter nie, die Sache sei auch noch So ritterlich. TEMPELHERR. Weil er das Vorrecht hat, Sich zu vergehn; das unsereiner ihm Nicht sehr beneidet. - Freilich, wenn ich nur Für mich zu handeln hätte; freilich, wenn Ich Rechenschaft nur mir zu geben hätte: 2430 Was braucht' ich Euers Patriarchen? Aber Gewisse Dinge will ich lieber schlecht, Nach andrer Willen, machen; als allein Nach meinem, gut. - Zudem, ich seh nun wohl,
Religion ist auch Partei;13
und wer Sich drob auch noch so unparteiisch glaubt,
Hält, ohn' es selbst zu wissen, doch nur seiner
Die Stange14. Weil das einmal nun so ist: Wird's so wohl recht sein. KLOSTERBRUDER. Dazu schweig ich lieber. Denn ich versteh den Herrn nicht recht. 2440 TEMPELHERR.
Und doch! - (Lass sehn, warum mir eigentlich zu tun! Um Machtspruch oder Rat? - Um lautern, oder Gelehrten Rat?)15 - Ich dank Euch, Bruder; dank Euch für den guten Wink. - Was Patriarch? - Seid Ihr mein Patriarch! Ich will ja doch Den Christen mehr im Patriarchen, als Den Patriarchen in dem Christen fragen. - Die Sach' ist die . . . KLOSTERBRUDER. Nicht weiter, Herr, nicht weiter! Wozu? - Der Herr verkennt mich. - Wer viel weiß, Hat viel zu sorgen; und ich habe ja 2450 Mich einer
Sorge nur gelobt16. - O gut! Hört! seht!
Dort kömmt, zu meinem Glück, er selbst. Bleibt hier nur stehn. Er hat Euch schon erblickt.17
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
* Kreuzgang: ein überdeckter Rundgang neben einer Dom- oder
Klosterkirche, der um einen Innenhof oder einen Garten herum angelegt
ist 1 V 2379-2388
Monolog bzw.
monologisches Beiseite (a
parte), das aber u. U. vom Tempelherrn gegen Ende gehört werden kann
2
Redewendung: sich neugierig um Dinge kümmern, die einen nichts angehen
3
Klosterbruder spielt auf Einsiedlerdasein an, das er nach seinem Leben
als Reitknecht eine Zeitlang geführt hat, vgl.
IV,7 V 2935f.
4
unangenehm, unerfreulich 5 Auftrag,
Vorschlag
6
vgl.
I,5
V 607; h: verbunden im Sinne von verpflichtet
7
Redewendung: Gehör finden; auf Bereitschaft treffen, etwas (wohlwollend)
anzuhören 8
vgl.
I,5 V 652 9
Retter, Hinweis auf Begnadigung des Tempelherrn durch Saladin - vgl.
vgl.
I,5 V 582
10
als Mensch, der eher seinen Verstand einsetzt, auf seine Vernunft
vertraut als auf göttliche Eingebung
11
Priester; im 18. Jh. war die Bezeichnung Pfaffe im Vergleich zu heute
noch keineswegs immer eine Abwertung
12
Angelegenheit eines Priesters/Theologen, unter theologischem
Gesichtspunkt spitzfindig
13
vgl. hierzu die Äußerung des Tempelherrn im Gespräch mit Nathan
II,5 V 1313f., mit
der er Nathans Feststellung es komme doch mehr als auf die jeweilige
Religion darauf an, ein Mensch zu sein (II,5
V 1312), bestätigt
14
Redensart: Die Treue halten, nicht im Stich lassen,
kritiklos Partei ergreifen; ursprgl. Mittel der Rechtsfindung im
Zweikampf, bei dem der Sekundant, d. h. der Begleiter/Berater/Zeuge
eines Duellanten schützend eine Stange über den überwundenen Zweikämpfer
hielt
15
ad
spectatores:
monologisches Beiseite (a
parte) 16
als Laienbruder hat der Klosterbruder nur das Gehorsamgelübde abgelegt,
er kann auch dementsprechend zu theologischen Streitfragen keine
Auskunft erteilen
17
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
Textauswahl
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IV,2
- Der Tempelherr beim Patriarchen
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IV,3 - Saladin und Sittah warten auf den Tempelherrn
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IV,4
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Der Tempelherr bringt vor Saladin seine Klage
gegen Nathan vor
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IV,5
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Saladin und Sittah sprechen über die Klage
des Tempelherrn
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IV,6
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Nathan wird von Daja unter Druck gesetzt, der
Heirat zuzustimmen
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IV,7
- Nathan und der Klosterbruder
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IV,8
-
Daja versichert Nathan, ihn nicht beim
Patriarchen angezeigt zu haben und berichtet,
Recha sei zu Sittah geholt worden
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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