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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
VIERTER AUFZUG
DRITTER AUFTRITT
Szene: ein Zimmer im Palaste des Saladin, in welches von Sklaven
eine Menge Beutel1 getragen, und auf dem Boden neben einander gestellt
werden. Saladin und bald darauf Sittah.
SALADIN (der dazu kömmt.) Nun wahrlich! das hat noch kein Ende. – Ist Des Dings noch viel zurück? EIN SKLAVE.
Wohl noch die Hälfte. SALADIN. So tragt das übrige zu Sittah. – Und Wo bleibt Al-Hafi? Das hier soll sogleich Al-Hafi zu sich nehmen. – Oder ob Ichs nicht vielmehr dem Vater schicke?
Hier Fällt mir es doch nur durch die Finger. – Zwar
Man wird wohl endlich hart;
und nun gewiß Solls Künste kosten, mir viel abzuzwacken. Bis wenigstens die Gelder aus Ägypten
2610 Zur Stelle kommen, mag das Armut2
sehn Wies fertig wird! – Die Spenden bei dem Grabe, Wenn die nur fortgehn!
Wenn die Christenpilger Mit leeren Händen nur nicht abziehn dürfen! Wenn nur – SITTAH. Was soll nun
das? Was soll das Geld Bei mir? SALADIN.
Mach dich davon bezahlt; und leg' Auf Vorrat, wenn was übrig bleibt. SITTAH.
Ist Nathan Noch mit dem Tempelherrn nicht da? SALADIN.
Er sucht Ihn aller Orten. SITTAH.
Sieh doch, was ich hier, Indem mir so mein alt Geschmeide durch
2620 Die Hände geht, gefunden.
(Ihm ein klein
Gemälde zeigend.) 3 SALADIN.
Ha! mein Bruder!
Das ist er, ist er! – War er! war er! ah! – Ah wackrer lieber Junge, daß ich dich So früh verlor!
4 Was hätt' ich erst mit dir, An deiner Seit' erst unternommen! – Sittah, Laß mir das Bild.
Auch kenn' ichs schon5: er gab Es deiner ältern Schwester,
seiner Lilla,6 Die eines Morgens ihn so ganz und gar Nicht aus den Armen lassen wollt'. Es war Der letzte, den er ausritt. – Ah,
ich ließ
2630 Ihn reiten, und allein! – Ah,
Lilla starb Vor Gram, und hat mirs nie vergeben, daß Ich so allein ihn reiten lassen. – Er Blieb weg!7 SITTAH. Der arme Bruder!
SALADIN.
Laß nur gut Sein! – Einmal bleiben wir doch alle weg! – Zudem, – wer weiß? Der Tod ists nicht allein, Der einem
Jüngling seiner Art das Ziel Verrückt.8 Er hat der Feinde mehr; und oft Erliegt der Stärkste gleich dem Schwächsten. – Nun, Sei wie ihm sei! –
Ich muß das Bild doch mit
2640 Dem jungen Tempelherrn vergleichen; muß Doch sehn,
wie
viel mich meine Phantasie Getäuscht.9 SITTAH. Nur darum bring' ichs. Aber gib Doch, gib! Ich will dir das wohl sagen; das Versteht ein weiblich Aug am besten. SALADIN
(zu einem Türsteher, der hereintritt.)
Wer Ist da? – der Tempelherr? – Er komm'! SITTAH.
Euch nicht Zu stören: ihn mit meiner Neugier nicht Zu irren –
(Sie setzt sich seitwärts auf einen Sofa und läßt den
Schleier fallen.) SALADIN. Gut so! gut! – (Und nun sein Ton! Wie der wohl sein wird! – Assads Ton Schläft auch wohl wo in meiner Seele noch!10) 2650
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
Nathan hat Saladin in ihrem Gespräch im Audienzsaal des Palastes
zugesagt, ihn finanziell zu unterstützen ((III,7
V 2066-2086) und die
Lieferung des Geldes unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Palast in
Auftrag gegeben (III,9
V 2168);
Motiv
des Geldes 2 die Armen
(Sammelbezeichnung); vgl. auch weitere Textstellen, die Aufschluss über
Saladins
Umgang mit Geld und seine Mildtätigkeit betreffen, z. B. Gespräch
Nathans mit Al-Hafi (I,3
V 406ff.) (→Saladins
Geldnot und die Staatsräson -
Strukturbild)
3 Das kleine Gemälde zeigt Assad, bevor er den Hof Saladins
verlassen, und seine neue Identität als Wolf von Filneck angenommen hat.
vgl. Anm.5
4
Enttäuschung Saladins, der offenbar auf die Unterstützung durch seinen
jüngeren Bruder, wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit seiner
dynastischen Friedenspolitik gerechnet hat, die er dann ohne diesen
Bruder verfolgt. (vgl.
Saladins Konzept einer dynastischen Friedensordnung)
5
Saladin kennt das Gemälde, ist aber offenkundig nicht
gewillt, es zur Erinnerung an seinen Bruder irgendwo aufzustellen; es
stammt aus dem Nachlass von Lilla, die ihren älteren Bruder Assad
besonders geliebt und zu dem von ihm offenbar geplanten Abschied das
kleine Gemälde zur Erinnerung bekommen hat; für die besondere innige
Beziehung zwischen Lilla und Assad spricht neben dem Tod der jüngeren
Schwester, die die Trennung von ihrem Bruder offenbar nicht überwinden
kann, auch die Tatsache, dass sie am Morgen des Abschieds von Assad, der
einer geplanten Flucht vom Hofe gleicht, spürt, dass ihr geliebter
Bruder sie für immer verlassen wird, als er "seiner
Lilla" das kleine
Gemälde zur Erinnerung aushändigt.
6 →Verwandtschaftsbeziehungen
der Figuren; Lilla ist deutlich älter als Sittah, denn
im Gegensatz zu dieser hat sie Assad gekannt (vgl.
III,7 V 2101f.)
; Sittah kennt Assad nur aus Schilderungen und von dem
kleinen Bildchen her,
das sie unter ihren Sachen findet und Saladin zeigt
7
Hinweis Saladins darauf, dass sein Bruder Assad aus freien Stücken, die
Familie Saladins und dessen Hof verlassen hat;
8
Anspielung auf das von Saladin tabuisierte weitere Schicksal seines
Bruders Assad, der (aller Wahrscheinlichkeit nach) zum Christentum
übergetreten ist
9
vgl. dazu die Schilderung der Begnadigung des Tempelherrn durch Saladin,
die jener gegenüber dem Klosterbruder(I,5
V 583f.) äußert 10
vgl. Eindruck, den Stimme, Habitus usw. des Tempelherrn auf Saladin bei
ihrer zweiten Begegnung hinterlässt (IV,4
V 2664) Auch Nathan erinnert die Stimme und Sprechweise des
Tempelherrn in besonders starkem Maße an Wolf von Filnek (Assad) (II,7
V 1390) ( Die Äußerung in Klammern ist als Information an die
Zuschauer adressiert (
ad
spectatores:
monologisches Beiseite (a
parte))
Textauswahl
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IV,1
- Die zweite Begegnung von Tempelherr und Klosterbruder
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IV,2
- Der Tempelherr beim Patriarchen
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IV,4
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Der Tempelherr bringt vor Saladin seine Klage
gegen Nathan vor
-
IV,5
-
Saladin und Sittah sprechen über die Klage
des Tempelherrn
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IV,6
-
Nathan wird von Daja unter Druck gesetzt, der
Heirat zuzustimmen
-
IV,7
- Nathan und der Klosterbruder
-
IV,8
-
Daja versichert Nathan, ihn nicht beim
Patriarchen angezeigt zu haben und berichtet,
Recha sei zu Sittah geholt worden
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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