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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
FÜNFTER AUFZUG
FÜNFTER AUFTRITT
Nathan und der Tempelherr, der von der Seite auf ihn
zukömmt.
TEMPELHERR. He! wartet, Nathan; nehmt mich mit! NATHAN.
Wer ruft? - Seid Ihr es, Ritter? Wo gewesen, dass Ihr bei dem Sultan Euch nicht treffen lassen?1 TEMPELHERR. Wir sind
einander fehlgegangen2. Nehmt's Nicht übel. NATHAN. Ich nicht; aber Saladin . . . TEMPELHERR.
Ihr wart nur eben fort . . . NATHAN. Und spracht ihn doch? Nun, so ist's gut. TEMPELHERR.
Er will uns aber beide 3340 Zusammen sprechen.3 NATHAN.
Desto besser. Kommt Nur mit. Mein Gang stand ohnehin zu ihm. - TEMPELHERR. Ich darf ja doch wohl fragen, Nathan, wer Euch da verließ? NATHAN.
Ihr kennt ihn doch wohl nicht? TEMPELHERR. War's nicht
die gute Haut4, der Laienbruder, Des sich der Patriarch so gern zum
Stöber5
Bedient?6 NATHAN. Kann sein! Beim Patriarchen ist Er allerdings. TEMPELHERR. Der
Pfiff7 ist gar nicht übel: Die
Einfalt8 vor der Schurkerei voraus- Zuschicken. NATHAN. Ja, die dumme; - nicht die
fromme. 3350 TEMPELHERR. An fromme glaubt kein Patriarch. NATHAN.
Für den Nun steh ich. Der wird seinem Patriarchen Nichts Ungebührliches vollziehen helfen. TEMPELHERR. So stellt er wenigstens sich an. -
Doch hat Er Euch von mir denn nichts gesagt? NATHAN.
Von Euch? Von Euch nun namentlich wohl nichts. - Er weiß Ja wohl auch schwerlich Euern Namen? TEMPELHERR.
Schwerlich. NATHAN. Von einem Tempelherren freilich hat Er mir gesagt . . . TEMPELHERR. Und was? NATHAN.
Womit er Euch Doch ein für allemal nicht meinen kann! 3360 TEMPELHERR. Wer weiß? Lasst doch nur hören. NATHAN.
Dass mich einer Bei seinem Patriarchen angeklagt
. . . TEMPELHERR. Euch angeklagt? - Das ist, mit seiner
Gunst9 - Erlogen. - Hört mich, Nathan! -
Ich bin nicht Der Mensch, der irgend etwas abzuleugnen Imstande wäre.10 Was ich tat, das tat ich! Doch bin ich auch nicht der, der alles, was Er tat, als wohlgetan verteid'gen möchte. Was sollt' ich eines
Fehls11
mich schämen? Hab Ich nicht den festen Vorsatz ihn zu bessern? 3370 Und weiß ich etwa nicht, wie weit mit dem Es Menschen bringen können? - Hört mich, Nathan! -
Ich bin des Laienbruders Tempelherr, Der Euch verklagt soll haben, allerdings. - Ihr wisst ja, was mich
wurmisch12 machte! was Mein Blut in allen Adern sieden machte! Ich
Gauch13 ! - ich kam, so ganz mit Leib und Seel' Euch in die Arme mich zu werfen.
Wie Ihr mich empfingt14 - wie kalt - wie lau15 - denn lau Ist schlimmer noch als kalt;
wie abgemessen16 3380 Mir
auszubeugen17
Ihr beflissen18 wart; Mit welchen aus der Luft gegriffnen Fragen19 Ihr Antwort mir zu geben scheinen wolltet: Das darf ich kaum mir itzt noch denken, wenn Ich soll gelassen bleiben. - Hört mich, Nathan! - In dieser
Gärung20
schlich mir Daja nach, Und warf mir ihr Geheimnis an den Kopf, Das mir den Aufschluss Euers rätselhaften Betragens zu enthalten schien.21 NATHAN.
Wie das? TEMPELHERR. Hört mich nur aus! - Ich bildete mir ein, 3390 Ihr wolltet, was Ihr einmal nun den Christen So abgejagt, an einen Christen wieder Nicht gern verlieren. Und so fiel mir ein, Euch kurz und gut
das Messer an die Kehle Zu setzen.22 NATHAN. Kurz und gut? und gut? - Wo steckt Das Gute? TEMPELHERR. Hört mich, Nathan! - Allerdings: Ich tat nicht recht! - Ihr seid wohl gar nicht schuldig. - Die Närrin Daja weiß nicht was sie spricht -
Ist Euch gehässig23 - sucht Euch nur damit In einen bösen Handel zu verwickeln - 3400 Kann sein! kann sein! -
Ich bin ein junger Laffe, Der immer nur an beiden Enden schwärmt; Bald viel zuviel, bald viel zuwenig tut -
24 Auch das kann sein! Verzeiht mir, Nathan. NATHAN.
Wenn Ihr so mich freilich fasset - TEMPELHERR.
Kurz, ich ging Zum Patriarchen!25 - hab Euch aber nicht Genannt. Das ist erlogen, wie gesagt! Ich hab ihm bloß den Fall ganz allgemein Erzählt, um seine Meinung zu vernehmen. - Auch das hätt' unterbleiben können: ja doch! - 3410 Denn kannt' ich nicht den Patriarchen schon Als einen Schurken?26 Konnt' ich Euch nicht selber Nur gleich zur Rede stellen? - Musst' ich der Gefahr, so einen Vater zu verlieren, Das arme Mädchen opfern? - Nun, was tut's? Die Schurkerei des Patriarchen, die So ähnlich immer sich erhält, hat mich Des nächsten Weges wieder zu mir selbst Gebracht. - Denn hört mich, Nathan; hört mich aus! - Gesetzt; er wüsst' auch Euern Namen: was 3420 Nun mehr, was mehr? - Er kann Euch ja das Mädchen Nur nehmen, wenn sie niemands ist, als Euer.
Er kann sie doch aus Euerm Hause nur Ins Kloster schleppen. -
Also - gebt sie mir! Gebt sie nur mir; und lasst ihn kommen. Ha! Er soll's wohl bleiben lassen, mir mein Weib Zu nehmen. - Gebt sie mir; geschwind! - Sie sei Nun Eure Tochter, oder sei es nicht!
Sei Christin, oder Jüdin, oder keines! Gleichviel! gleichviel! Ich werd Euch weder itzt 3430 Noch jemals sonst in meinem ganzen Leben Darum befragen.
Sei, wie's sei! NATHAN.
Ihr wähnt Wohl gar, dass mir die Wahrheit zu verbergen Sehr nötig? TEMPELHERR. Sei, wie's sei! NATHAN.
Ich hab es ja Euch - oder wem es sonst zu wissen ziemt - Noch nicht geleugnet, dass sie eine Christin, Und nichts als meine Pflegetochter ist. -
Warum ich's aber ihr noch nicht entdeckt? - Darüber brauch ich nur bei ihr mich zu Entschuldigen. TEMPELHERR. Das sollt Ihr auch bei ihr 3440 Nicht brauchen. - Gönnt's ihr doch, dass sie Euch nie Mit andern Augen darf betrachten!
Spart Ihr die Entdeckung doch! - Noch habt Ihr ja, Ihr ganz allein, mit ihr zu schalten. Gebt Sie mir! Ich bitt Euch, Nathan; gebt sie mir!
Ich bin's allein, der sie zum zweiten Male Euch retten kann - und will. NATHAN.
Ja - konnte! konnte! Nun auch nicht mehr. Es ist damit zu spät. TEMPELHERR. Wieso? zu spät? NATHAN.
Dank sei dem Patriarchen . . . TEMPELHERR. Dem Patriarchen? Dank? ihm Dank? wofür? 3450 Dank hätte der bei uns verdienen wollen? Wofür? wofür? NATHAN.
Dass wir nun
wissen, wem Sie anverwandt; nun wissen, wessen Händen Sie sicher ausgeliefert werden kann. TEMPELHERR. Das dank' ihm - wer für mehr ihm danken wird! NATHAN. Aus diesen müsst Ihr sie nun auch erhalten; Und nicht aus meinen. TEMPELHERR.
Arme Recha! Was Dir alles zustößt, arme Recha! Was Ein Glück für andre Waisen wäre, wird Dein Unglück! - Nathan! - Und wo sind sie, diese 3460 Verwandte? NATHAN. Wo sie sind? TEMPELHERR.
Und wer sie sind? NATHAN.
Besonders hat ein Bruder sich gefunden,27 Bei dem Ihr um sie werben müsst. TEMPELHERR.
Ein Bruder? Was ist er, dieser Bruder? Ein Soldat? Ein Geistlicher? - Lasst hören, was ich mir Versprechen darf. NATHAN.
Ich glaube, dass er keines Von beiden - oder beides ist. Ich kenn Ihn noch nicht recht. TEMPELHERR.
Und sonst? NATHAN.
Ein braver Mann Bei dem sich Recha gar nicht übel wird Befinden. TEMPELHERR.
Doch ein Christ! - Ich weiß zuzeiten 3470 Auch gar nicht, was ich von Euch denken soll: - Nehmt mir's nicht ungut, Nathan. -
Wird sie nicht Die Christin spielen müssen, unter Christen? Und wird sie, was sie lange g'nug gespielt, Nicht endlich werden? Wird den lautern Weizen, Den Ihr gesät, das Unkraut endlich nicht Ersticken? - Und das kümmert Euch so wenig? Dem ungeachtet könnt Ihr sagen - Ihr? - Dass sie bei ihrem Bruder sich nicht übel Befinden werde? NATHAN.
Denk ich! hoff ich! - Wenn 3480 Ihr ja bei ihm was mangeln sollte, hat Sie Euch und mich denn nicht noch immer? - TEMPELHERR.
Oh! Was wird bei ihm ihr mangeln können! Wird Das Brüderchen mit Essen und mit Kleidung, Mit Naschwerk und mit Putz, das Schwesterchen Nicht reichlich g'nug versorgen? Und was braucht Ein Schwesterchen denn mehr? - Ei freilich: auch Noch einen Mann! - Nun, nun, auch den, auch den Wird ihr das Brüderchen zu seiner Zeit Schon schaffen; wie er immer nur zu finden! 3490 Der Christlichste der Beste! - Nathan, Nathan! Welch einen Engel hattet Ihr gebildet, Den Euch nun andre so
verhunzen28 werden! NATHAN. Hat keine Not! Er wird sich unsrer Liebe Noch immer wert genug behaupten. TEMPELHERR.
Sagt Das nicht!
Von meiner Liebe sagt das nicht! Denn die lässt nichts sich unterschlagen; nichts.29 Es sei auch noch so klein! Auch keinen Namen! - Doch halt! -
Argwohnt30 sie wohl bereits, was mit Ihr vorgeht? NATHAN. Möglich; ob ich schon nicht wüsste, 3500 Woher? TEMPELHERR. Auch eben viel; sie soll - sie muss In beiden Fällen, was ihr Schicksal droht, Von mir zuerst erfahren. Mein Gedanke, Sie eher wieder nicht zu sehn, zu sprechen, Als bis ich sie die Meine nennen dürfe, Fällt weg.31 Ich eile . . . NATHAN.
Bleibt! wohin? TEMPELHERR.
Zu ihr! Zu sehn,
ob diese Mädchenseele Manns genug Wohl ist, den einzigen Entschluss zu fassen, Der ihrer würdig wäre! NATHAN.
Welchen? TEMPELHERR.
Den: Nach Euch und ihrem Bruder weiter nicht 3510 Zu fragen - NATHAN. Und? TEMPELHERR. Und mir zu folgen; - wenn Sie drüber eines
Muselmannes32 Frau Auch werden müsste. NATHAN.
Bleibt! Ihr trefft sie nicht. Sie ist bei Sittah, bei des Sultans Schwester.33 TEMPELHERR. Seit wenn? warum? NATHAN.
Und wollt Ihr da bei ihnen Zugleich den Bruder finden: kommt nur mit.
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
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Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
vgl. III,9 V 2169:
Nathan will eigentlich mit dem Tempelherrn gemeinsam zu Saladin gehen,
dem er versprochen hatte, den Tempelherrn zu holen (III,7
V 2104) 2
haben uns verpasst, einander verfehlt; "Notlüge" des Tempelherrn, der
mittlerweile ja schon selbst bei Saladin gewesen war, um seine Klage
gegen Nathan dort vorzubringen (IV,4)
3
vgl.
III,7 V 2100 4
Redensart:
ein guter Mensch sein 5 h: Spion;
eigentl. »Jagdhund,
der zur Stöberjagd eingesetzt wird, bei der die Hunde das Wild aus dem
dichten Wald/Gebüsch auf die wartenden Jäger heraustreiben und dann
sofort wieder dorthin zurückkehren, um weiter Wild aufzustöbern.
6 vgl.
I,5 V 605ff.
7 Trick, vgl.
dazu die heutige Verwendung des Adjektivs pfiffig
8 hier
gemeint als fromme Einfachheit und Lauterkeit des Geistes und Gemüts,
das nicht von theologischen und religiös-dogmatischen Grundsätzen
geleitet ist, die der Tempelherr, genau wie Nathan in dem
Klosterbruder verkörpert sieht (IV
7 V 3332) 9
altertümliche Höflichkeitsformel vergleichbar etwa mit der Formulierung
"mit Verlaub"
10 Selbstcharakterisierung des Tempelherrn
11 Irrtum, Fehler
12 eigensinnig,
unverträglich, gereizt 13
Narr, Tor 14
vgl. III,9 V 2177ff.
15 h: halbherzig, nur
vordergründig zugewandt
16
h: einem nüchternen Kalkül folgend, berechnend
17
auszuweichen 18
bemüht
19
Redensart:
frei erfundene, abwegige Fragen, die auf keinem soliden Boden/Grund
stehen 20 h: in dieser vor
sich in brodelnden Stimmung, aufgeregten Verärgerung
21
vgl.
III,10 V 2328f.
22
h: mit Gewalt zu zwingen
23 h: ist
Euch feindlich gesinnt, hasst Euch
24
Selbstcharakterisierung des Tempelherrn
25
vgl.
IV,2
26
vgl.
I,5 V 692f.
27
vgl. IV,7 V 3099: Der Klosterbruder bestätigt Nathan, dass Rechas Mutter
einen Bruder namens Conrad von Stauffen gehabt hat. An dieser Stelle der
dramatischen Handlung weiß Nathan noch nicht sicher, ahnt aber dass
Recha und der Tempelherr tatsächlich Geschwister sind.
28
verderben, redensartlich: auf den Hund bringen
29
→Motiv der Liebe
30
argwöhnt; vermutet sie/ schöpft sie Verdacht
31 schwindet
32
veraltete, ins Deutsche übernommene Bezeichnung für Moslem/Muslim
33
vgl. IV,5
V 2853;
V,6
Textauswahl
-
V,1 -
Saladin wird von seinen mameluckischen Reiter
über das Eintreffen der Tribute informiert
-
V,2
-
Nathan trägt dem Emir Manson auf, den
Großteil der Gelder in den Libanon zu seinem
Vater zu bringen
-
V,3
- Der Tempelherr besinnt sich neu
-
V,4 - Nathan erhält das Brevier vom Klosterbruder
-
-
V,6
-
Recha, die die Wahrheit erfahren hat, bittet
Sittah um Hilfe
-
V,7
-
Saladin verspricht Recha, ihr den Vater nicht
zu nehmen
-
V,8
- Die Enthüllung der Familienverhältnisse
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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