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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
FÜNFTER AUFZUG
ACHTER AUFTRITT
Nathan und der Tempelherr zu den Vorigen
SALADIN. Ah, meine guten lieben Freunde! - Dich, Dich, Nathan, muss ich nur vor allen Dingen
3690 Bedeuten, dass du nun, sobald du willst,
Dein Geld kannst wieder holen lassen!1 . . . NATHAN.
Sultan! . . . SALADIN. Nun steh ich auch zu deinen Diensten . . . NATHAN.
Sultan! . . . SALADIN. Die Karawan' ist da2.
Ich bin so reich Nun wieder, als ich lange nicht gewesen.
- Komm, sag mir, was du brauchst, so recht was Großes Zu unternehmen! Denn auch ihr, auch ihr, Ihr Handelsleute,
könnt des baren Geldes Zuviel nie
haben!3 NATHAN.
Und warum zuerst Von dieser Kleinigkeit? - Ich
sehe dort
3700 Ein Aug' in Tränen4, das zu trocknen, mir Weit
angelegner5 ist. (Geht auf Recha zu.) Du hast
geweint? Was fehlt dir? - bist doch meine Tochter noch? RECHA. Mein Vater! . . . NATHAN.
Wir verstehen uns. Genug! - Sei heiter! Sei gefasst! Wenn sonst dein Herz Nur dein noch ist! Wenn deinem Herzen sonst Nur kein Verlust nicht droht! -
Dein Vater ist Dir unverloren! RECHA.
Keiner, keiner sonst! TEMPELHERR. Sonst keiner? - Nun! so hab ich mich betrogen. Was man nicht zu verlieren fürchtet, hat
3710 Man zu besitzen nie geglaubt, und nie Gewünscht. - Recht wohl! recht wohl! - Das ändert, Nathan, Das ändert alles! - Saladin, wir kamen Auf dein Geheiß. Allein, ich hatte dich Verleitet;6 itzt bemüh dich nur nicht weiter! SALADIN. Wie
gach7
nun wieder, junger Mann!8 - Soll alles Dir denn entgegenkommen? Alles dich Erraten? TEMPELHERR. Nun du hörst ja! siehst ja, Sultan! SALADIN. Ei wahrlich! - Schlimm genug, dass deiner Sache Du nicht gewisser warst! TEMPELHERR.
So bin ich's nun.
3720 SALADIN. Wer so auf irgendeine Wohltat trotzt9, Nimmt sie zurück. Was du gerettet, ist Deswegen nicht dein Eigentum. Sonst wär' Der Räuber, den sein Geiz ins Feuer jagt, So gut ein Held wie du! (Auf Recha zugehend, um sie dem Tempelherrn zuzuführen.) Komm, liebes Mädchen, Komm! Nimm's mit ihm nicht so genau. Denn wär' Er anders; wär' er minder
warm10 und stolz: Er hätt' es bleiben lassen, dich zu retten. Du musst ihm eins fürs andre rechnen11. - Komm! Beschäm ihn! tu, was ihm zu tun geziemte!
3730 Bekenn ihm deine Liebe! trage dich ihm an!12 Und wenn er dich verschmäht; dir's je vergisst, Wie ungleich mehr in diesem Schritte du Für ihn getan, als er für dich . . . Was hat Er denn für dich getan?
Ein wenig sich Beräuchern lassen!13 ist was Rechts! - so hat Er meines Bruders,
meines Assad,14 nichts! So trägt er seine Larve, nicht sein Herz. Komm, Liebe . . . SITTAH.
Geh! geh, Liebe, geh! Es ist Für deine Dankbarkeit noch immer wenig;
3740 Noch immer nichts. NATHAN.
Halt Saladin! halt Sittah! SALADIN. Auch du? NATHAN.
Hier hat noch einer mitzusprechen . . . SALADIN. Wer leugnet das? - Unstreitig, Nathan,
kömmt So einem Pflegevater eine Stimme Mit zu! Die erste, wenn du willst. - Du hörst, Ich weiß der Sache ganze Lage. NATHAN.
Nicht so ganz! - Ich rede nicht von mir. Es ist ein andrer; Weit, weit ein andrer, den ich, Saladin, Doch auch vorher zu hören bitte. SALADIN.
Wer?
3750 NATHAN. Ihr Bruder! SALADIN.
Rechas Bruder? NATHAN.
Ja! RECHA.
Mein Bruder? So hab ich einen Bruder? TEMPELHERR (aus seiner wilden, stummen Zerstreuung auffahrend).
Wo? wo ist Er, dieser Bruder? Noch nicht hier? Ich sollt' Ihn hier ja treffen. NATHAN.
Nur Geduld! TEMPELHERR (äußerst bitter).
Er hat Ihr einen Vater aufgebunden15: - wird Er keinen Bruder für sie finden? SALADIN.
Das Hat noch gefehlt! Christ! ein so niedriger Verdacht wär' über Assads Lippen nicht Gekommen. - Gut! fahr nur so fort! NATHAN.
Verzeih Ihm! - Ich verzeih ihm gern. - Wer weiß, was wir An seiner Stell', in seinem Alter dächten!
3760 (Freundschaftlich auf ihn zugehend.) Natürlich, Ritter! - Argwohn folgt auf Misstraun! -
Wenn Ihr mich Eures wahren Namens gleich Gewürdigt hättet . . .16 TEMPELHERR. Wie? NATHAN.
Ihr seid kein Stauffen! TEMPELHERR. Wer bin ich denn? NATHAN.
Heißt Curd von Stauffen nicht! TEMPELHERR. Wie heiß ich denn? NATHAN.
Heißt Leu von Filnek. TEMPELHERR.
Wie? NATHAN. Ihr stutzt? TEMPELHERR. Mit
Recht! Wer sagt das? NATHAN.
Ich; der mehr, Noch mehr Euch sagen kann. Ich straf indes Euch keiner Lüge. TEMPELHERR. Nicht? NATHAN.
Kann doch wohl sein, Dass jener Nam' Euch ebenfalls gebührt. TEMPELHERR. Das sollt' ich meinen! - (Das hieß Gott ihn sprechen!17) 3770 NATHAN. Denn
Eure Mutter - die war eine Stauffin.
Ihr Bruder, Euer Ohm, der Euch erzogen, Dem Eure Eltern Euch in Deutschland ließen, Als, von dem rauhen Himmel dort vertrieben, Sie wieder hierzulande kamen: - Der Hieß
Curd von Stauffen; mag an Kindes Statt Vielleicht Euch angenommen haben! - Seid Ihr lange schon mit ihm nun auch herüber- Gekommen? Und er lebt doch noch? TEMPELHERR.
Was soll Ich sagen? - Nathan! - Allerdings! So ist's!
3780 Er selbst ist tot. Ich kam erst mit der letzten Verstärkung unsers Ordens.
- Aber, aber - Was hat mit diesem allen Rechas Bruder Zu schaffen? NATHAN. Euer Vater . . . TEMPELHERR.
Wie? auch den Habt Ihr gekannt? Auch den? NATHAN.
Er war mein Freund.18 TEMPELHERR. War Euer Freund? Ist's möglich, Nathan! . . . NATHAN.
Nannte Sich Wolf von Filnek;
aber war kein Deutscher . . . TEMPELHERR. Ihr wisst auch das? NATHAN.
War einer Deutschen nur Vermählt;
war Eurer Mutter nur nach Deutschland Auf kurze Zeit gefolgt . . . TEMPELHERR.
Nicht mehr! Ich bitt
3790 Euch! - Aber Rechas Bruder? Rechas Bruder . . . NATHAN. Seid Ihr! TEMPELHERR.
Ich? ich ihr
Bruder? RECHA.
Er mein Bruder? SITTAH. Geschwister! SALADIN.
Sie Geschwister! RECHA (will auf ihn zu).
Ah! mein Bruder! TEMPELHERR (tritt zurück). Ihr Bruder! RECHA (hält an, und wendet sich zu Nathan).
Kann nicht sein! nicht sein! Sein Herz Weiß nichts davon! -
Wir sind Betrüger! Gott! SALADIN (zum Tempelherrn). Betrüger? wie? Das denkst du? kannst du denken? Betrüger selbst! Denn alles ist erlogen An dir: Gesicht und Stimm' und Gang! Nichts dein! So eine Schwester nicht erkennen wollen! Geh! TEMPELHERR (sich demütig ihm nahend). Missdeut auch du nicht mein Erstaunen, Sultan!
3800 Verkenn in einem Augenblick', in dem Du schwerlich deinen Assad je gesehen, Nicht ihn und mich! (Auf Nathan zueilend.) Ihr nehmt und gebt mir, Nathan! Mit vollen Händen beides! - Nein! Ihr gebt Mir mehr, als Ihr mir nehmt! unendlich mehr! (Recha um den Hals fallend.)
Ah! meine Schwester! meine Schwester! NATHAN.
Blanda Von Filnek. TEMPELHERR. Blanda? Blanda? - Recha nicht? Nicht Eure Recha mehr? - Gott!
Ihr verstoßt Sie! gebt ihr ihren Christennamen wieder! Verstoßt sie meinetwegen! - Nathan! Nathan!
3810 Warum es sie entgelten lassen? sie! NATHAN. Und was? -
O meine Kinder! meine Kinder! - Denn meiner Tochter Bruder wär' mein Kind Nicht auch, - sobald er will? (Indem er sich ihren Umarmungen überlässt, tritt Saladin mit unruhigem Erstaunen zu seiner Schwester.) SALADIN.
Was sagst du, Schwester? SITTAH. Ich bin gerührt . . . SALADIN.
Und ich, - ich schaudere Vor einer größern Rührung fast zurück! Bereite dich nur drauf, so gut du kannst. SITTAH.
Wie? SALADIN. Nathan, auf ein Wort! ein Wort! - (Indem Nathan zu ihm tritt, tritt Sittah zu dem Ge- schwister, ihm ihre Teilnahme zu bezeigen; und
Nathan und Saladin sprechen leiser.19) Hör! hör doch, Nathan! Sagtest du vorhin Nicht -? NATHAN. Was? SALADIN.
Aus Deutschland sei ihr Vater nicht
3820 Gewesen; ein geborner Deutscher nicht. Was war er denn? Wo war er sonst denn her? NATHAN. Das hat er selbst mir nie vertrauen wollen. Aus seinem Munde weiß ich nichts davon. SALADIN. Und war auch sonst kein Frank? kein Abendländer? NATHAN. Oh! dass er der nicht sei, gestand er wohl. -
Er sprach am liebsten Persisch . . . SALADIN.
Persisch? Persisch? Was will ich mehr? - Er ist's! Er war es! NATHAN.
Wer? SALADIN. Mein Bruder! ganz gewiss! Mein Assad!20 ganz Gewiss! NATHAN. Nun, wenn du selbst darauf verfällst: -
3830 Nimm die Versichrung21 hier in diesem
Buche!22 (Ihm das Brevier überreichend.) SALADIN (es begierig aufschlagend).
Ah! seine Hand23! Auch die erkenn ich wieder! NATHAN. Noch wissen sie von nichts! Noch steht's bei dir Allein, was sie davon erfahren sollen! SALADIN (indes er darin geblättert). Ich meines Bruders Kinder nicht erkennen? Ich meine Neffen - meine Kinder nicht? Sie
nicht erkennen24? ich? Sie dir wohl lassen? (Wieder laut.) Sie sind's! Sie sind es, Sittah, sind's! Sie sind's! Sind beide meines . . . deines Bruders Kinder! (Er rennt in ihre Umarmungen.) SITTAH (ihm folgend). Was hör ich! - Konnt's auch anders, anders sein! -
3840 SALADIN (zum Tempelherrn). Nun musst du doch wohl, Trotzkopf, musst mich lieben! (Zu Recha.) Nun bin ich doch, wozu ich mich erbot? Magst wollen, oder nicht! SITTAH.
Ich auch! ich auch! SALADIN (zum Tempelherrn zurück). Mein Sohn! mein Assad! meines Assads Sohn! TEMPELHERR. Ich deines Bluts! - So waren jene
Träume, Womit man meine Kindheit wiegte, doch - Doch mehr als Träume! (Ihm zu Füßen fallend.) SALADIN (ihn aufhebend).
Seht den Bösewicht! Er wusste was davon, und konnte mich
Zu seinem Mörder machen wollen!25 Wart! (Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.)
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
Nathan hat Saladin in ihrem Gespräch im Audienzsaal des Palastes
zugesagt, ihn finanziell zu unterstützen ((III,7
V 2066-2086) und die
Lieferung des Geldes unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Palast in
Auftrag gegeben (III,9
V 2168);
Saladin hat das von Nathan als Kredit zugesagte Geld erhalten (vgl.
IV,3 Nebentext)
Motiv
des Geldes 2
vgl.
V,1
3
→Motiv des Geldes/Reichtums
4
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
5
hier im Sinne von: mehr am Herzen liegt, mir mehr Gedanken/Sorge macht
6
vgl. IV,4 V
2766ff. 7
hitzig, unbesonnen, vorschnell
8
Anspielung Saladins auf die ungestüme und vorschnelle Art des
Tempelherrn Urteile zu fällen, die er schon in seinem ersten Gespräch
mit ihm kennengelernt hat (vgl. z. B.
IV,4 V 2783)
9
h: eine besonders gute Tat immer wieder herausstreicht,
10 hier
wohl im Sinne von impulsiv
11
h: beides im Zusammenhang sehen
12
h: vertraue dich im an
13
ironisch provokative Bemerkung, die auf die Rettung Rechas durch den
Tempelherrn beim Brand in Nathans Haus anspielt; →Motiv des
(Ver-)Brennens
vgl. I,2 V 177,
I,6 V 773, 14
vgl. u. a. IV,5
15
fälschlicherweise bewusst weisgemacht, vorgeflunkert, vorgelogen,
16
gewürdigt = für würdig gehalten; vgl. die Antwort des Tempelherrn auf
die Frage Nathans nach seinem Namen
II,7 V 1374
17
ad
spectatores:
monologisches Beiseite (a
parte); umgangssprachlich für: "Das ließ Gott ihn sprechen."
18
Nathan berichtet ihm Gespräch mit dem Klosterbruder, dass ihn Wolf von
Filnek/Assad mehrfach bei Judenverfolgungen das Leben gerettet habe
(vgl.
IV,7 V 2986ff.)
19
ad
spectatores:
dialogisches Beiseite
20
→Verwandtschaftsbeziehungen
der Figuren
21
Beweis, Bestätigung 22
Nathan meint das Brevier, das er kurz zuvor vom Klosterbruder bekommen
hat (vgl. V,4); dieser hatte das
Büchlein Wolfs von Filnek/Assads nach dessen Tod an sich genommen. (vgl.
IV,7 V
3101ff.)
23
(Hand-)Schrift 24
nicht (als legitime Kinder von Assad) anerkennen
25
Anspielung auf die Tatsache, dass der Tempelherr beinahe wie alle
anderen Mitglieder seines Ordens hingerichtet werden sollte (vgl.
); interessanterweise spricht Saladin hier davon, beinahe der "Mörder"
an seinem Neffen geworden zu sein (vgl. u. a.
I,7 V 572ff.)
Textauswahl
-
V,1 -
Saladin wird von seinen mameluckischen Reiter
über das Eintreffen der Tribute informiert
-
V,2
-
Nathan trägt dem Emir Manson auf, den
Großteil der Gelder in den Libanon zu seinem
Vater zu bringen
-
V,3
- Der Tempelherr besinnt sich neu
-
V,4
-
Nathan erhält das Brevier vom Klosterbruder
-
V,5
- Der Tempelherr entschuldigt sich bei Nathan
-
V,6
-
Recha, die die Wahrheit erfahren hat, bittet
Sittah um Hilfe
-
V,7
-
Saladin verspricht Recha, ihr den Vater nicht
zu nehmen
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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