Ein Tanzbär war der Kett` entrissen,
Kam wieder in den Wald zurück,
Und tanzte seiner Schar ein Meisterstück
Auf den gewohnten Hinterfüßen.
"Seht", schrie er, "das ist Kunst; das lernt man in der Welt.
Tut es mir nach, wenn`s euch gefällt,
Und wenn ihr könnt!" - "Geh", brummt ein alter Bär,
"Dergleichen Kunst, sie sei so schwer,
Sie sei so rar sie sei,
Zeigt deinen niedern Geist und deine Sklaverei."
Ein großer Hofmann sein,
Ein Mann, dem Schmeichelei und List
Statt Witz und Tugend ist;
Der durch Kabalen steigt, des Fürsten Gunst erstiehlt,
Mit Wort und Schwur als Komplimenten spielt,
Ein solcher Mann, ein großer Hofmann sein,
Schließt das Lob oder Tadel ein?
(aus: Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S.
197-198, http://www.zeno.org/nid/20005262992)
Bei dem Text handelt es sich um eine in Versform erzählte
Fabel (Verserzählung, Lehrgedicht). Anders als in vielen anderen Fabeln, die
nach dem Muster der Fabeln Aesops aufgebaut sind, treten in dieser Fabel nur
Bären und keine weitere Tierart als Gegenspieler auf: Der Tanzbär, ein alter
Bär und die Schar der Bären. Ihnen führt der Tanzbär vor, welches Kunststück
er draußen in der Welt gelernt hat: Das aufrechte Tanzen auf den beiden
Hinterfüßen.
Der Bär, der offenbar lange Zeit in Ketten gelegt als Tanzbär aufgetreten
ist, ist seinem Herrn offensichtlich ausgerissen und hat die Ketten hinter
sich gelassen. Als er in seine natürliche Umgebung zurückkehrt und auf seine
Artgenossen trifft. weiß er mit der neu gewonnenen Freiheit offenkundig
nichts anderes anzufangen, als den anwesenden Bären voller Stolz das als
"Kunst" vorzuführen, was er in Ketten und unter Zwang draußen in der Welt
gelernt hat: Er tanzt wieder, aufrecht stehend, auf seinen Hinterfüßen und
fordert die umstehenden Artgenossen auf, es ihm doch einmal gleichzutun.
Dabei schreit er diese Aufforderung heraus und trägt sie in einem
überheblichen Ton vor. Doch ein alter Bär lässt sich nicht blenden. Er gibt
dem Tanzbären zu verstehen, dass er in dessen Tun nur mangelnde
Reflexionsfähigkeit und Selbstunterwerfung unter die gerade erst verlassene
Sklaverei sehen könne.
Übergangslos und ohne sprachliche Hinweise auf den folgenden Vergleich in
der zweiten Strophe zieht Lessing "mit dem für die Aufklärung typischen
Selbstbewusstsein des bürgerlichen Dichters und Gelehrten [...] nun
einen Vergleich zwischen einem großen Hofmann, der zur Zeit des Barock noch
in hohem Ansehen stand, mit dem Tanzbären. Seine belehrende Absicht, sein
Bestreben, nicht missverstanden zu werden, lassen den Dichter auf
raffinierte, elegante Satire verzichten. Er nennt die Dinge beim Namen. Der
Hofmann zeichnet sich weder durch Witz (Verstand) noch Tugend, sondern durch
Schmeichelei und List aus. " (Mittelberg
2011/13). Als intriganter Höfling erschleicht er sich die fürstliche
Gunst mit seinen "Kabalen" (Intrigen), schmeichelt dem Fürsten und schreckt
auch vor falschen Schwüren nicht zurück.
Eine rhetorische Frage beendet das Gedicht in den letzten beiden Versen.
Mittelberg (ebd.) betont deren Doppeldeutigkeit. So sei dem Hofmann/
Tanzbären das Lob der anderen von ihm übertrumpften Höflinge und des Fürsten
gewiss. Zugleich schließe aber der Tadel, den er alte Bär in der ersten
Strophe vorbringe, den Tadel ein, sich nicht von eitlen, weltläufigen
"Kunststücken" blenden zu lassen. Daran werde, so Mittelberg weiter, die
lehrhafte Absicht und ihre Adressierung an das Bürgertum erst deutlich, denn
"es sind neben den Höflingen auch Bürger niederen Geistes (Vers 10), die
sich ihrer Welt entfremden und die höfische Welt der Verstellung bewundern".
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